„Mein schönstes Ferienerlebnis‘“, so lautete in längst vergangenen Epochen das Standardaufsatzthema nach den Sommerferien, und ich möchte heute mal etwas Analoges dazu beitragen.
Klassenfahrten, sogenannte „Schulwanderungen“ sind logistische Operationen, deren Bedingungen im Schulgesetz derart geregelt sind, dass die aufsichtführenden Lehrkräfte einerseits grundsätzlich mit einem Bein im Knast stehen, sie andererseits aber für die Schüler Höhepunkte ihrer Schulkarriere darstellen.
Klassenfahrten nun sind extrem von einer geradezu systematischen Unbotmäßigkeit der Schüler bedroht: Rauchen, Alkohol, Sumpfblüten eines aufblühenden Geschlechtslebens, illegale nächtliche Exkursionen: Alles soll und muss der Lehrer verhindern, ohne aber die Kraft zur Freude bei den Betreuten allzu sehr einzuschränken.
„Alle mir nach, ich hab die Klassenkasse!“
In der Bremer Waldorfschule, an der ich die ersten Jahre meines Lehrerseins als Kunstlehrer beschäftigt war, führte diese immerhin dreiwöchige Schulwanderung in die schöne Toskana, nach Azzano, einem idyllischen Bergdorf in der Nähe von Carrara, wo im Geiste Michelangelos Marmorklötze in halbzentnerschwere Handschmeichler umgeformt wurden, unterbrochen von Exkursionen in Bildhauerbetriebe im nahegelegenen Seravezza und nach Florenz, wo die Höhepunkte der Kunst der Renaissance zu besichtigen waren.
Die Lage in Azzano selbst war für uns Lehrer – wir waren zu dritt – für fast vierzig Schüler einigermaßen zu überschauen. Nur das „Ristorante Michelangelo“ bot Speis und eventuell verbotenen Trank sowie ein kleiner „Alimentari“ Viktualien, und generell kannte man ja seine Schäfchen gut. Gefahr drohte von den einheimischen Papagallistrizzigiovani, die ihre braunen Augen auf unsere Mädchen warfen, aber auch das war einigermaßen kalkulierbar.
Schwieriger schon waren Aktionen, wie das geordnete Manövrieren einer 40er Klasse in unübersichtlichem Gelände, wie der Innenstadt von Florenz, wo keiner verloren gehen durfte, wohlgemerkt in Zeiten, als es keine Handys gab, sondern lediglich das wachsame Lehrerauge, das die doch gelegentlich „verpeilten“ Eleven schäferhundartig bewachen musste. Wie das immer gutging, weiß ich heute nicht mehr genau. (Ich glaube so war´s: „Alle mir nach, ich hab die Klassenkasse!“ oder ruhig wie der gelbe Kaiser bleiben und stramm nach Süden blicken! Soll helfen.)
Ich ließ sie Besserung schwören und geleitete sie zu ihrer Schlafstatt
An einen Lehrer werden höchste moralische Anforderungen gestellt, und schon Rauchen gilt heute als charakterlicher Defekt, der seine Vorbildfunktion massiv beeinträchtigt. Vorbei die Zeiten, wo unserem Pfarrherrn im Religionsunterricht der Volksschule selbstverständlich ein Aschenbecher hingestellt wurde und Rauchschwaden seiner „Virginia Kiel“ durchs Klassenzimmer zogen, wie der Weihrauch in der Kirche, vorbei auch die Zeiten eines Raucherlehrerzimmers, wo in den Konferenzpausen gequarzt und geplaudert wurde: Die heutigen Anstalten gleichen eher dem Chicago der Prohibition. Und von Alkohol wollen wir gar nicht reden. Zwar soll Meister Steiner in seinen frühen Berliner Jahren auch … aber darüber liegt der Mantel des Vergessens, wie auch über seinen durchaus etwas verworrenen Beziehungen zu Ehefrau 1 und 2.
Alkoholabusus oder Usus überhaupt sollte mit unverzüglichem Heimtransport auf Kosten der Eltern bestraft werden, wie der aber ohne Auto und Begleitschutz von einem abgelegenen Gebirgsdorf quer durchs Land, wo zwar die Zitronen blüh’n, aber auch der Vino wächst, in die Freie und Hansestadt hätte bewältigt werden sollen, darüber hatte man sich keine Gedanken gemacht.
Sei dem, wie es wolle: Schon am ersten Abend kamen mir zwei der im Normalfall liebsten und fähigsten Schüler in einem Zustand entgegen, den Goethe mit den Worten „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten …“ kommentiert hätte. Was tun? Ich ließ sie Besserung schwören und geleitete sie zu ihrer Schlafstatt.
„All you can eat“ und Vino di Casa
Nun zur eigentlichen Story. Der erste Sonntag war gekommen, und im ländlichen Italien dieser Epoche war Sonntagsarbeit – das heißt lautes Herumhauen auf Marmor – nicht opportun. Da nun Müßiggang bekanntlich aller Laster Anfang ist, beschlossen wir mit der Klasse den Monte Altissimo zu besteigen, einen nicht schwierigen, aber dennoch beeindruckenden Apenninengipfel.
Nun erhob sich ein gewisses Murren, begleitet von Hinweisen auf gewerkschaftlich verbrieftes Recht auf Sonntagsruhe. Meine Reaktion war, den bösesten Buben der Klasse das leuchtende Beispiel Fidel Castros vor das geistige Auge zu führen, der zur Ertüchtigung seiner verweichlichten Rebellenschar in der Sierra Cubas Märsche mit Wackersteinen in den Rucksäcken unternommen hatte, um sie für die Revolution zu ertüchtigen. Wohlgemerkt, wir befinden uns etwa im Jahr 1987 und Fidel und Che waren noch unangefochtene Idole. Heute kennt die keiner mehr.
Das Wunder geschah: Die Jungs wetteiferten mit der Beladung ihrer Rucksäcke mit Marmorbrocken und flott ging’s hinan, in einem Tempo, dem wir beiden Lehrer kaum folgen konnte. Unsere Kollegin Nora Smith blieb im Camp bei den Fußkranken. Der Gipfel war alsbald erreicht, der spektakuläre Rundblick über die Versiliaküste genossen, Bemme und Trunk verzehrt, und die Schüler wollten wieder runter. Hans, mein Kollege, und ich beschlossen, noch etwas zu bleiben und in den Höhen lustzuwandeln. Die Idee war, etwas abzusteigen, den Altissimo zu umlaufen und gemütlich ins Dorf zurückzukehren. Wir beide stiegen also in Gegenrichtung eher sanft ab, in der absoluten Sicherheit, dass die Rückkehr völlig unproblematisch sein würde. „Dopo un certo tempo“, also nach einer nicht näher bezifferbaren Weile, kamen wir an eine Straße, an der Autos vor einem hangarartigen Wellblechgebäude standen, das sich als Restaurant entpuppte.
In Italien gibt’s nicht selten Gastronomie, auch gut besuchte, in der völligen „Knüste“, und das Etablissement bot „All you can eat“ für – wenn ich mich recht erinnere – 25.000 Lire. Das war mehr als fair und wir betraten den Tempel, entrichteten den Obolus und verzehrten von einem riesigen Büffet alles, was dieses schöne Stück Erde bot, wobei das natürlich mit dem ebenso in unbegrenzter Menge dargereichten Vino di Casa runtergespült wurde. Es mag später Nachmittag gewesen sein und die Sonne neigte sich zum Horizonte, als dann doch der Gedanke an Heimkehr immer drängender wurde.
Herr Rapp und Herr Geißler haben sich verlaufen
Nun muss gestanden werden, dass wir nicht nur völlig überfressen, sondern auch, wie man in Bremen sagt, „breit wie die Flundern“ waren, und so marschierten wir etwas wankend die Straße weiter, die ja zum Basislager führen musste, allerdings nach kurzer Zeit vor einen finstern Loch endete, das der Beginn eines zentralappenninischen Tunnels war. Das Drama spielt wie gesagt vor 35 Jahren, und wer das Land kennt, weiß, dass die Italiener durchaus groß im Tunnelbohren sind, diese aber in der Regel eher für Fahrzeuge wie den Fiat 500 ausgelegt waren und häufig der Beleuchtung ermangelten.
„Wer hier eintritt, lass alle Hoffnung fahren!“, dichtete Dante, und wir beschlossen, vor dem Tunnel zu trampen. Vielleicht würde uns eine mitleidige Seele, die uns im Restaurant gesehen hatte, mitnehmen. Der Verkehr war spärlichst, aber nach einiger Zeit hielt ein junges italienisches Pärchen in eben einem dieser Cinquecentos, das uns nach Kartenstudium eröffnete, dass wir leider auf der Straße etwa 30 Kilometer von Azzano entfernt waren. Voll des Mitgefühls – wir stellten ihnen die Verlassenheit unserer Bambinis vor’s geistige Auge –, boten sie uns an, uns als wahre barmherzige Samariter heim zu bringen.
Wie gesagt, damals kein Handy, keine Möglichkeit unsere Kollegin zu benachrichtigen, vermutlich auch keine Busverbindung, selbst wenn wir nach Massa oder Carrara gekommen wären. Alles wurde gut, wir kamen zurück, es gelang uns, den Ingrimm von Nora zu dämpfen („boys, where in hell have you been?“), und die netten Italiener wurden ins „Michelangelo“ eingeladen. Die Klasse lachte sich natürlich krank über unser Abenteuer, ein Mythos war geboren, Herr Rapp und Herr Geißler haben sich verlaufen. Großartig!
Wozu das Ganze?
Die erzählen bestimmt heute noch davon. Ich mag mir nicht vorstellen, was mir oder uns an einer staatlichen Schule nach dieser Aktion hätte passieren können. Nun wird man sich fragen, was nun der pädagogische Wert einer solchen Italienexkursion über drei Wochen sein könnte, wo man doch in derselben Zeit Mathe oder Vokabeln pauken konnte.
Einige Vorschläge dazu:
1. Ein Zusammenhang zwischen Feinmotorik, wie sie beim Steinhauen doch auch nötig ist, und kognitiver Entwicklung darf vermutet werden.
2. Durchhaltevermögen: Drei Wochen an einem großen Stein herum zu meißeln, fordert nicht zuletzt physisches Durchhaltevermögen. Wie oft haben wir Handgelenke bandagiert, weil die Schüler einfach nicht aufhören wollten.
3. Genauigkeit: An einer Marmorplastik lernst du jeden Fehler zu sehen, jede nicht „gespannte“ Fläche, jede Unebenheit. Und die muss weg oder korrigiert werden.
4. Mit Kraft umgehen: Wer einmal gesehen hat, wie Schüler anfangs einen Meißel halten, etwa wie einen Kochlöffel, und dann den Umgang derselben Schüler mit dem Werkzeug nach 3 Wochen begutachtet, weiß, was ich meine.
5. Wertschätzung von Kunst an sich: Wer auch nur einen Marmoraschenbecher gemeißelt hat, weiß, was Michelangelo geleistet hat, besser als nach noch so vielen Lehrfilmen.
Man könnte noch mehr anführen: Sinn für Proportionen und vieles mehr. Und nicht zuletzt: Häufig wird die mangelnde Praxistauglichkeit heutiger Jugendlicher beklagt. Steiners Pädagogik tut etwas dagegen!
Lesen Sie nächsten Samstag: Das Elend mit dem „Geist“.
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