Ich erlaube mir hier mal, auf einen der bekannteren Kritiker unseres Schulsystems hinzuweisen, den FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube. Sein Buch „Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?“ hat schon wegen der Prominenz des Autors Furore gemacht. Kaube ist (Zitat Rowohltverlag) „Herausgeber und Bildungsexperte der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung'“ – und Vater von zwei Töchtern. Aus dieser doppelten Erfahrung heraus formuliert er eine provokante These: Die Schule, wie sie jetzt ist, ist eine Fehlkonstruktion. Sie bringt den Kindern oft nur bei, was diese weder brauchen noch verstehen – und zuverlässig fast komplett wieder vergessen.
Schlimmer noch: Die Schule reagiert dabei viel zu stark auf immer neue Anforderungen, die von außen an sie gestellt werden. Die Digitalisierung des Klassenzimmers ist genauso Unsinn, wie es die Rechtschreibreform oder das Sprachlabor waren. Was jetzt gebraucht wird, sagt Kaube, ist eine Reduktion auf das Wesentliche: „Kinder sollen denken lernen, darum und nur darum geht es in der Schule.“
Wo er recht hat, hat er vermutlich recht. Unklar bleibt aber, wie das „Denken lernen“ eigentlich gehen soll. Ist es eine der vielen „Kompetenzen“, die in der pädagogischen Literatur hochgejubelt werden? Braucht man zum Denken auch ein Faktenwissen, oder geht’s auch ohne in einer Zeit der verminderten Aufmerksamkeitsspannen, wo sich eh keiner mehr was merken kann? Oder läuft die Logikmühle in Hirnkastel ohne das Wasser der Fakten schlicht und ergreifend leer?
Ist Denken mehr als dir sture Anwendung von halb verstandenen Formeln in der Mathematik? Braucht man zum Denken Sprache, so im Sinne von „die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ (Wittgenstein, hatten wir schon)? Gibt’s ein Denken außerhalb verbaler Formulierungen? Ist der menschliche Versuch, zu denken, vielleicht doch im Sinne von Plato eine Annäherung an einen Ideenkosmos? Steckt hinter Schillers „Ideenvermögen“ vielleicht gar etwas Reales? Und wie, verdammt noch mal, soll das gelehrt werden?
Und zuallerletzt: Jenseits aller praktischen Anwendbarkeit: Wie funktionierte Denken bei den wirklich großen Denkern und Wissenschaftlern? Wie komme ich an Inspirationen, vulgo Einfälle, die den quietschenden und eiernden Globus weiterbringen? Und was kann da die Schule machen?
Man sieht schon, es wird philosophisch und schwierig.
Schulversagen, Geigen und Altphilologie – fertig ist die Physikerkarriere
In der Regel wird das Tema „Lernen“ mechanistisch betrachtet: Ingenieure fehlen, also mehr MINT an die Schulen, Lernerfolg zu defizitär, also mehr und schärfere Prüfungen, Gewalt an Schulen, also mehr Sozialpädagogen. Diese pragmatische Herangehensweise hat etwas Logisches und ist zwingend, außer dass sie offensichtlich nicht so funktioniert.
Ich will mal einen anderen Zugang zum Thema „Denken lernen“ wählen und stelle hier ein, zwei exemplarische Biographien von Naturwissenschaftlern vor. Zum ersten Werner Heisenberg, Atomphysiker.
Werner Heisenberg wurde 1901 in Würzburg in eine Gelehrtenfamilie geboren. Sein Vater war der Byzantinist August Heisenberg, seine Mutter Annie war die Tochter des Klassischen Philologen und Rektors des Maximiliansgymnasiums in München Nikolaus Wecklein. Er hatte noch einen älteren Bruder Erwin (1900–1965), der in Berlin studierte und Industriechemiker in Bitterfeld wurde. Werner Heisenberg war Neupfadfinder. Er besuchte das Münchner Maximiliansgymnasium, das bis 1913 von seinem Großvater geleitet wurde. Zu Heisenbergs Person ist weiter zu erwähnen, dass er sich intensiv, auch praktisch, mit klassischer Musik auseinandersetzte, wie nicht wenige, gerade theoretische Physiker und Mathematiker: Ein gewisses Schulversagen, Geigen und Altphilologie scheinen geradezu notwendigen Ingredienzien einer Physikerkarriere zu sein. Und hört, hört: der Papa Byzantinist und Frau Mama aus eine Philologenfamilie?
Denken als Ideenvermögen
Zum zweiten: Konrad Zuse, der erste Computermann: Schlechter Schüler. Bis Klasse 9 humanistisches Gymnasium, dann Realgymnasium. Vermutlich konnte er da wenigstens Griechisch abwählen, zugunsten eines etwas aufgestockten MINT-Unterrichts.
Zuse war somit nicht einmal einer von denen, die neun Jahre lang tagaus-tagein „verstaubte“ Texte übersetzt haben, aber seinen Teil sprachlicher Differenzierung dürfte er auch abbekommen haben. Ich selbst bin auch noch auf den humanistischen Zweig einer bairischen Anstalt gegangen. Von Sprachlogik und Grammatik braucht mir im Prinzip keiner was erzählen.
Die Beispiele sind zufällig ausgewählt und könnten und müssten natürlich ergänzt werden. Das kann hier nicht geleistet werden. Angeregt werden soll aber die Vermutung, dass „Denken lernen“ nicht zuletzt auch über sprachliche Differenzierung läuft und es zum anderen vorsprachliche Denkprozesse im Musikalischen und Bildnerischen gibt, die im Ergebnis das Denken befördern. Denken also als Ideenvermögen im Schillerschen Sinn wird nicht direkt erreicht, sondern irgendwie indirekt. Dem auf die Spur zu gehen, scheint sich zu lohnen. Davon abgesehen, dass Denken sich am Denken bildet und nicht am Nachplappern von Informationshäppchen.
Sprechen? Fehlanzeige!
An der Stelle ein kleiner literarischer Hinweis: Die Natur eines so verstandenen Denkens scheint mir exemplarisch in Hesses Roman „Das Glasperlenspiel“ dargestellt, interessanterweise eben als Spiel. Aber allzu viel wird das Buch wohl kaum gelesen, die 68er haben sich vor dem ersten Joint eher den „Steppenwolf“ reingezogen und waren danach mit „Siddartha“ im Nirwana. Scherz-Ende.
Vielleicht kann man sich erst einmal auf die These einigen, dass eine hohe sprachliche Differenziertheit und Ausdrucksfähigkeit dem Denken auf keinen Fall abträglich ist. „Die allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Reden“ (Kleist) braucht schon einen gewissen Wortschatz, um ein Stück weit zu kommen. Mit einfacher Sprache ist es da nicht immer getan.
Bezieht man nun „Denken lernen“ als Propädeutik auf die gegenwärtige Schulpraxis im Sprachunterricht, dann gibt´s da einen Elefanten im Raum: Die Methodik des Fremdsprachenunterrichts hat sich seit den 70ern komplett verändert. Ich hatte, abgesehen von jeweils 5 Stunden Latein und Griechisch in der Woche, auch noch Englischlehrer, die sich ihre Kenntnisse als Baumwollpflücker in den Südstaaten erworben hatten. Bei denen wurde wie im altsprachlichen Unterricht nur übersetzt und zwar klassische englische Literatur von Shakespeare bis zum „Catcher in the rye.“ Sprechen? Fehlanzeige!
Der Sprachvergleich fällt völlig weg
Diese Methodik ist nun mit dem Verschwinden der alten Sprachen komplett abgeschafft. Der Unterricht hat im Idealfall einsprachig stattzufinden, Ziel ist die berühmte kommunikative Kompetenz. Mittel sind Alltagstexte in der Art, dass in Paris Marcel und Sylvie in der Metro reisen, Tom und Catherine in London in der Tube und Javier und Annabel in Madrid auch in der Metro. Deren jeweilige Pläne werden auswendig gelernt, und dann kann man imaginär shoppen, oder „faire les achats“ oder „ir de compras“. Literatur: Weitestgehend Fehlanzeige, historische Texte: dito, die Sprache bleibt auf der schon von Macuse beklagten Ebene der Eindimensionalität, einer platten Gegenwärtigkeit, die sich auch in den stereotypen Fußgängerzonen europäischer Städte ausdrückt. Interessanterweise werden auch schon im Deutschen ältere literarische Texte oft buchstäblich nicht mehr verstanden.
Sicher wurde es früher mit dem Übersetzen schon mal übertrieben, wobei ich persönlich mit 16 mein stockendes Schulenglisch, nachdem ich 2 Wochen in Venedig mit einem jungen Amerikaner eine kleines Appartement geteilt habe, flott auf das Niveau eines fast perfekten Chicagoslangs gebracht habe. Also so hoffnungslos war der Unterricht damals auch nicht.
Auf jeden Fall fällt in der Fremdsprachendidaktik der Sprachvergleich völlig weg. Und Sprachvergleich war das Lieblingsthema der romantischen Sprachwissenschaften in der Form der sich entwickelnden Indogermanistik.
Aber was die mit dem „Denken lernen“ zu tun hat, davon das nächste Mal.
Lesen Sie nächsten Samstag: Der Humboldts „Geist“ und Chomskys LAD.
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