Ich will mich in dieser kleinen Serie an ein ganz heikles Thema wagen: meine ganz persönliche, über 30-jährige Erfahrung als Lehrer. Ich war zwar nie Beamter, immer Angestellter und überwiegend an Privatschulen tätig, habe aber dadurch, glaube ich, sowohl einen nahen als auch distanzierten Blick aufs staatliche Schulsystem, in dem ich immer wieder für einige Jahre gearbeitet habe.
Dass mit unserem Bildungssystem einiges im Argen liegt, ist zumindest für die breite Öffentlichkeit offensichtlich. Innerhalb des Systems überwiegen Reformitis, Durchhalteparolen und die Hoffnung auf den Nürnberger Trichter in Form der Digitalisierung. Mit der Coronakrise hat gerade das Thema „Bildung“ wieder deutlich an Relevanz gewonnen: Auf einmal ist klar, dass ohne die Kinderaufbewahrungsfunktion der Schule für viele ein geregelter Arbeitsalltag nicht mehr möglich ist. Es mehren sich die Hilferufe der von Homeschooling und Homeoffice überforderten Eltern. Kritik wird an den Lehrern laut, die sich in Massen in die Quarantäne verabschieden, bei vollen Bezügen natürlich. Dass da die von der Verwaltung verschlafene Überalterung auch der individuellen Lehrkörper eine Rolle spielt, fällt unter den Tisch.
War das Thema „Digitalisierung“ noch vor Corona eines, über das kontrovers diskutiert wurde – ich erinnere nur an „Manfred Spitzers Buch „Digitale Demenz“ –, so heißt es jetzt, ein Zurück des Systems vor Corona sei nicht mehr denkbar. Werden nun die Schulverwaltungen die Lehrer, die es ohnehin auf dem „Markt“ nicht gibt, durch den Einsatz von vorfabrizierten Medien ersetzen, die von den üblichen Verdächtigen, wie Google oder Bertelsmann, gerne angeboten werden. Ist am Ende ein Securitymitarbeiter als „Lernbegleiter“, der Aufsicht führt, billiger als ein moribunder Oberstudienrat mit seinen Pensionsansprüchen? Und das Homeschooling: Einst eine strafbare Domäne renitenter Freikirchler und Marienverehrer, wenn nicht von Anhängern „Wotans“ und dergleichen: Wird sich das unter der Flagge des „selbstverantwortlichen Freilernens“ verbreiten wie die Brennnessel?
Allzu viele schlechte Erfahrungen mit der Schule
Zum Thema Schule kann so gut wie jeder was sagen: Entweder war er Opfer in seiner eigenen Schulzeit, oder er erlebt die Unzulänglichkeiten als Elternteil. Lehrer und Lehrerinnen, hier zum letzten Mal gendergerecht angesprochen, weil die -innen ja zumindest in der Grundschule in überwältigender Mehrheit wirken, haben nicht die beste Reputation. Ich lese gerne, wenn wieder einmal ein schulkritischer Artikel in einem der großen Printmedien rauskommt, die Leserbriefe. Die erreichen geradezu erstaunliche Zahlen, das geht häufig in die Hunderte.
Der überwiegende Tenor ist immer ähnlich: Schule und Lehrer sind zu lasch, die Anforderungen zu niedrig, Disziplinmangel wird beklagt, man spürt eine gewisse Sehnsucht nach dem bewährten dreigliedrigen Schulsystem etwa altbairischer Prägung. Dazu kommen dann die Forderungen, die sich aus wirtschaftlichen Überlegungen ergeben: mehr Unterricht in den MINT-Fächern, mehr Praxis, mehr Theorie, mehr Wirtschaftskunde – zum Teil widersprechen sich auch die Forderungen. Zu kritischen Themen wie Inklusion und Problemen von Schülern mit Migrationshintergrund später.
Lehrer werden nicht selten als durchsetzungsschwach und überfordert erlebt, haben aber auch den Ruf der Arroganz und Besserwisserei. Die Meinung „Lehrer haben morgens recht und nachmittags frei“ und ein gewisser Sozialneid auf die opulenten Ferienzeiten und auf den Beamtenstatus sind nicht selten. Nur allzu viele Bürger scheinen schlechte Erfahrungen mit der Schule gemacht zu haben.
Warum werden so wenige Menschen Lehrer?
Erste Anmerkung meinerseits: Wenn der Lehrerberuf so „chillig“ ist, warum wollen ihn dann nicht mehr Leute machen? Ich habe den leisen Verdacht, dass nicht wenige der Kritiker, sollten sie selbst vor eine Klasse gestellt werden, binnen kurzem schreiend aus dem Zimmer laufen würden.
Ich nehme hier zum Bildungsproblem eine streng subjektive Position ein: Was ich weitergebe, sind meine Erfahrungen aufgrund meiner Erlebnisse und Reflexionen. Und da ist erst einmal zu sagen, dass ich schon glaube, dass sich das Bildungsniveau in Deutschland gesenkt hat. Zu allererst erlebe ich das im sprachlichen Bereich. Auch Abiturienten der Abschlussklassen schreiben heutzutage nicht selten ein Deutsch, das nicht nur von Fehlern und grammatischen Brüchen trieft, sondern auch stilistisch nicht unbedingt durch Komplexität überzeugt.
Ich spreche dabei nicht von Einzelfällen, sondern von fast zwei Dritteln der Abschlussjahrgänge. Dieses Phänomen wird kontrapunktisch begleitet von immer besseren Abischnitten und kontinuierlich steigenden Sekundarabschlüssen. Gingen zu meiner Schulzeit in Bayern in den 1960er und 70er Jahren noch weniger als 15 Prozent der Schüler auf das Gymnasium oder vergleichbare Schultypen, so sind’s jetzt eher 50 Prozent, in den besonders problematischen Stadtstaaten noch mehr. Aber ich will hier weitgehend auf Statistiken, die ich nicht selber gefälscht habe, verzichten.
Ja, ich komme von der Waldorfschule
Eine wertkonservative Kritik an den Auswüchsen unseres Bildungssystems ist exemplarisch in den Büchern des Ex-Vorsitzenden des deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, geleistet worden. Diesen empfehlenswerten, oft in der Aufzählung bildungspolitischer Absurditäten geradezu humoristischen Texten von hoher Eloquenz, ist wenig hinzuzufügen. Kraus ist auch durch eine umfassende Kritik an den sozialpsychologischen und politischen Folgen der 68er Bewegung hervorgetreten. Diese Untersuchungen kann ich denen, die Belege für das Bildungselend im Lande wollen, nur ans Herz legen.
Noch ein Geständnis vorneweg: Ich habe jahrelang an Waldorfschulen unterrichtet – und nein, ich kann meinen Namen nicht tanzen – und ja, es ist mir klar, dass dieser Schultyp gerne von einer bildungsbürgerlichen, privilegierten Mittelschicht frequentiert wird – und trotzdem: Der waldorfpädagogische Ansatz erlaubt zumindest eine kritische Sicht aufs staatliche System. Dazu später mehr.
Aber erst mal eine Schnurre aus meiner Anfangszeit als Lehrer. Beim Waldorf-Schultypen findet ein Teil des Unterrichts in Epochen statt, das heißt, täglich wird in den ersten zwei Stunden für 3 bis 4 Wochen ein Thema behandelt. In meinem Fall war das Kunstgeschichte in Klasse 9, von der Venus von Willendorf bis Dürer, so in etwa. Lehrbücher waren verpönt, die fast 40 Schüler mussten nach dem Lehrervortrag ein sogenanntes Epochenheft schreiben. Nach zwei Wochen sammelte ich die Hefte mal zur Durchsicht ein. Zwei Schülerinnen gaben ungefähr je hundert eng beschriebene Seiten ab. Wohlgemerkt: Fehler waren darin kaum zu finden.
Am nächsten Schultag machte ich meiner Empörung Luft: Wenn alle so viel schreiben würden, hätte ich am Ende der Epoche fast 4.000 Seiten zu korrigieren. Die betreffenden Mädchen lächelten freundlich, geradezu fast hinterfotzig. So kann man einen Junglehrer auch fertig machen. Gottseidank war es nicht bei allen so viel. Am Ende der Epoche gab es einen Elternabend: Ich monierte, dass es Texte gab, in denen mehr als 10 Fehler auf der Seite waren. Wie gesagt, ich war jung und unerfahren. Die Eltern waren empört. Der Klassenlehrer, der für diese Katastrophe verantwortlich gemacht wurde, hatte glücklicherweise Humor und hat mir verziehen.
Es werden Analphabeten produziert
Zehn Fehler pro Seite würden heute vermutlich noch nicht einmal zu einem Punktabzug in einer Abiklausur führen. Die Zeiten haben sich verändert, das ist klar. Natürlich war die Bremer Waldorfschule damals die Anstalt der Wahl für das Bürgertum eines privilegierten Stadtteils: Man schickte die Jungs ans „Alte Gymnasium“ und die Mädchen nach „Kippenberg“ (musisches Gymnasium) oder an die Steinerschule. Da war die Welt noch in Ordnung. Das „Alte Gymnasium“ übrigens fand seinerzeit auch der Geschichtslehrer der Steinerschule vorbildlich, der dafür berühmt war, zur Demonstration des Eigentumsbegriffs auf dem Lehrertisch seine Tweedjacke anzukokeln, eine Aktion, die in der Schülerschaft zur Legende wurde.
Liest man heute Statistiken über das Bremer Schulwesen, werden, so scheint es, in nicht zu vernachlässigendem Umfang Analphabeten produziert, bei einer der höchsten Abiturientenquoten der Republik. Dito in Berlin. Eine Abiquote von – ich hoffe. ich liege nicht falsch – über 60 Prozent heißt, dass das komplette Klientel der früheren Realschulen nun eine Stufe höher gewandert ist. Was da für die Hauptschulen übrig bleibt, kann man sich denken. Die heißen in Bremen übrigens Oberschulen, beziehungsweise es gibt sie gar nicht, weil das System nur zweigliedrig ist. O-Ton „Die Zeit“: „Nun bildet die Hansestadt eine eigene Kategorie: Bildungsgeografisch dürfte das Land nun irgendwo zwischen der Türkei und Brasilien liegen.“
Dass sich aber Mitarbeiter der Senatsverwaltung ob dieses eklatanten Versagens verzweifelt in ihre Kugelschreiber gestürzt hätten, ist mir nicht bekannt. Man könnte hier von Staatsversagen sprechen, wie überhaupt fast immer, wenn sich der Staat ins Kulturleben einmischt, wo zumindest nach einiger Zeit die massive Tendenz sichtbar wird, für viel Geld und begleitet von warmen Worten die Karre in den Dreck zu fahren. Das gilt für den öffentlichen Rundfunk, sowieso fürs Fernsehen, für die unter dem Bolognaprozess ächzenden Unis und natürlich auch für die Schulen. Getoppt wird das alles vielleicht vom Zustand der Bundeswehr und vom Netzausbau (wurde das nicht irgendwann zu Chefsache gemacht?).
Das System soll sich selbst erhalten
Seltsamerweise bleibt aber gerade die literarische Produktion der deutschen Lehrerschaft, obwohl sie zahlenmäßig in die Hunderttausende geht, überschaubar. Der Beamtenstatus scheint dabei als Schreibhemmnis zu wirken. Lehrer schreiben kaum über Schule, Polizisten nicht über ihren Dienst, Offiziere, obwohl vermutlich ab dem Rang eines Majors des Schreibens mächtig, nicht über den Zustand der Truppe. Die oft beschworene Kritikfähigkeit des mündigen Staatsbürgers scheint die Ernennung zum Beamten selten zu überleben.
Aber merke: Eine staatliche Verwaltung, auch des kollektiven Elends, wird sich nimmer und auf keinen Fall selber abschaffen. Und: Eine durchgreifende Reform ist selten aus dem Beamtenapparat hervorgegangen. Hier gilt auf jeden Fall die Regel, dass Systeme erst mal das Ziel haben, sich selbst zu erhalten und keineswegs das, (intellektuellen) Mehrwert zu produzieren und auf die „endliche Erzeugung des Genius“ (Nietzsche) hinzuarbeiten, für die sie vorgeben da zu sein.
Unlängst sind die Länder Bayern und Baden-Württemberg aus einem Gremium ausgetreten, das die Prüfungsanforderungen vereinheitlichen sollte, weil, wie man hört, eine Verwässerung des Abiturniveaus befürchtet wird. Die Frage dabei ist natürlich, ob nun Bayern ein strahlender Stern am Bildungshimmel oder der Einäugige unter Blinden ist. Ein scheeler Blick nach Ostasien stimmt skeptisch. Aber die meisten Kritiker unserer Schulsysteme sehen in einer Verschärfung der Notenvergabe und in einer Anhebung der Leistungsanforderungen die Lösung aller Probleme. Aber glaubt jemand im Ernst, dass in Zukunft Gymnasien wieder in Realschulen umgewandelt werden und mittelfristig wieder über 50 Prozent der Schüler auf leistungsfähige Hauptschulen (oder wie immer die im Moment heißen mögen, „Praxisuniversitäten“ vielleicht) gehen werden? Und die Lehrer sich von A13/14 auf A12 zurückstufen lassen, bei erhöhtem Deputat? Im Leben nicht!
Lesen Sie am kommenden Samstag: Notengebung in der Praxis.