Rainer Grell / 26.09.2020 / 06:15 / Foto: Wolfgang Sauber / 97 / Seite ausdrucken

Demokratie auf Tauchstation?

Die Corona-Pandemie war die Stunde der Exekutive. Niemand hat das deutlicher zum Ausdruck gebracht als die Stuttgarter CDU-Abgeordnete Karin Maag, als sie in der Bundestags-Debatte am 25. März 2020 verkündete (Seite 19167 r. Sp.): „Die Botschaft heißt: Wir sind in der Krise handlungsfähig.“ Darum ging es also: Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.

In der gesamten Berichterstattung ging dabei unter (falls ich nicht doch das eine oder andere übersehen habe), dass das „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG)“ in seinem § 5 Absatz 1 Satz 1 bestimmt: „Der Deutsche Bundestag stellt eine epidemische Lage von nationaler Tragweite fest.“ Diese Feststellung hat der Bundestag am 25. März 2020 auf der Grundlage des Gesetzentwurfs der Regierungsfraktionen vom 24. März 2020 (Drucksache 19/18111) laut Plenarprotokoll (Seite 19169 r. Sp.) getroffen:

„Der Deutsche Bundestag stellt mit Inkrafttreten des § 5 Absatz 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz aufgrund der derzeitigen Ausbreitung des neuen Coronavirus (SARS-CoV-2) in Deutschland eine epidemische Lage von nationaler Tragweite fest. – Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung bei Enthaltung der Fraktionen von AfD und Die Linke mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen.“ (kursiv von mir)

Maßgebend für diese Entscheidung, war die Überlegung, die der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, in der Debatte des Bundestages am 25. März so formuliert hat: „Der Schutz von Gesundheit, der Schutz des Lebens hat absolute Priorität in dieser Krise.“  

Erübrigt sich eine Abwägung?

Demgegenüber erklärte der Jurist und Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble später in einem Interview mit dem Tagesspiegel vom 26.04.2020: „Wir dürfen nicht alleine den Virologen die Entscheidungen (sic!) überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen." Wenn es einen höchsten Wert gäbe, dann sei dies nicht das Leben, sondern die Würde des Menschen (Artikel 1 Absatz 1 GG). Er spricht damit an, was die Bundesregierung, allen voran die sie führende Physikerin und die Länderchefs, von Anfang an außer Acht gelassen haben: die Abwägung der durch den Shutdown betroffenen Rechtsgüter nach dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes. Bei angenommener absoluter Priorität von Leben und Gesundheit erübrigt sich eine Abwägung.

Leider verhallten Schäubles wahrhaft historische Worte ungehört; denn genau das passierte, obwohl alle Medien dieser Aussage die höchste Aufmerksamkeit zollten: Es folgten, um es in Anlehnung an den Wortschatz der Kanzlerin zu sagen, veritable Verbots- und Regelungs-Orgien der 16 Bundesländer, die nach Artikel 83 GG die Bundesgesetze, in diesem Fall also das Infektionsschutzgesetz, „als eigene Angelegenheit“ ausführen (vgl. dazu hier).

Mittlerweile sind deren Folgen wenigstens in Umrissen für alle erkennbar: Gefährdung ganzer Wirtschaftszweige, Vernichtung von Existenzen, unabsehbaren Folgen im Bildungsbereich. Insoweit lag Kanzlerin Merkel nicht falsch, als sie die „Coronakrise als größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“ bezeichnete. Kein Wunder also, dass sich Widerstand gegen die verschiedenen Maßnahmen regt, der auch auf der Straße sichtbar wird.

Während aber Politik und Medien die mutigen Menschen in Belarus loben, die jeden Tag ihren Unmut mit Europas letztem Diktator Alexander Lukaschenko Ausdruck verleihen, werden diejenigen, die ihn Deutschland von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen und gegen die Corona-Politik der Bundesregierung und der 16 Bundesländer protestieren, als „Corona-Leugner“ (neben Holocaust-Leugnern und Klimaleugnern) und „Covidioten“, Verschwörungstheoretiker oder gar Nazis verunglimpft.

„Covid-19-Rechtsverordnungsweitergeltungsgesetz“

Demgemäß hat auch kaum jemand davon Notiz genommen, als eine seltene Allianz von Liberalen und Rechten forderte, was in § 5 Absatz 1, Sätze 2 und 3 des Infektionsschutzgesetzes so formuliert ist: „Der Deutsche Bundestag hebt die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite wieder auf, wenn die Voraussetzungen für ihre Feststellung nicht mehr vorliegen. Die Aufhebung ist im Bundesgesetzblatt bekannt zu machen.“ Siehe: 

AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag:

Immerhin: Am 17. September 2020 wurde im Bundestag in einer verbundenen Beratung über den Gesetzentwurf der FDP-Fraktion „Covid-19-Rechtsverordnungsweitergeltungsgesetz“ und die Beschlussempfehlung zum Antrag „Epidemische Lage von nationaler Tragweite beenden …“ und die Anträge der AfD-Fraktion „Erneute Forderung der Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite und Sicherstellung der parlamentarischen Kontrolle“ und „Ständige Epidemiekommission“ debattiert.

Vorangegangen war der parlamentarischen Debatte eine öffentliche Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages „ohne Publikum“ am 9. September 2020, in der sich unter anderen. „Star“-Virologe Christian Dorsten dagegen aussprach, die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ aufzuheben. Weitere Stellungnahmen von geladenen Sachverständigen zum Antrag der FDP-Fraktion findet man hier.

Ich befürchte, die Exekutive hat sich so an ihre Machtfülle gewöhnt, dass sie vergessen könnte, was „Normalität“ in einer parlamentarischen Demokratie bedeutet.  

 

Zum Hintergrund siehe auch die achgut.com-Serie: Corona.Noch Fragen?

Teil 1 finden Sie hier.

Teil 2 finden Sie hier.

Teil 3 finden Sie hier.

Teil 4 finden Sie hier.

Teil 5 finden Sie hier.

Foto: Wolfgang Sauber Xenophon) via Wikimedia Commons

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B. Oelsnitz / 26.09.2020

Was macht der mit menschlicher Vernunft gesegnete Schafhirte, wenn wenige Tiere seiner großen Herde schwächeln, die Nahrung verweigern oder gar zu sterben drohen? Nach dem Reglement der führenden geistigen Tiefflieger von D*-Land wäre die gesamte Herde unter Quarantäne zu stellen, statt normales Leben, Verharren am Platze und Schonkost auf Zuteilung. Der erfahrene Schäfer aber, wird seine kranken Tiere aus der Herde nehmen und in einem gesonderten Pferch pflegen, so gut es geht; ein Sterben wird er im Extremfall nicht verhindern können. (Der Tod ist das Risiko des Lebens, das dieses ständig begleitet.) Seine starke gesunde Herde wird er weiterziehen lassen und unter der Sonne und dem blauen Himmel wachsendes frisches Gras fressen lassen. Die Natur ist so eingerichtet, daß starke Herden mit erfahrenen Leittieren die größten Überlebens- und Wachstumschancen haben. Und nicht umsonst heißt es in der Bibel: ‘Ohne gute Regierung geht ein jedes Volk zugrunde’! [Hinweis*: D steht für dumm.]

Dieter Wonnegut / 26.09.2020

Die Anforderungen an eine intakte Bundesrepublik sind hoch. Die tödliche Giftspritze aus dem Osten ist es nicht und war es nie. Tatsächlich können wir uns nur noch kleinere Fehler erlauben. Ich sage es nochmal: Kaufen wir amerikanische Flugzeuge, als Basis unserer europäischen Sicherheitspolitik. Für die Kinder dieser Republik.

Bjorn Thies / 26.09.2020

Tja, Leute. Das bleibt jetzt so. Für immer.

C. Schladitz / 26.09.2020

Die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite ist (wie beschrieben) an Voraussetzungen gebunden. Eine davon lautet, es liegt eine Überlastung des Gesundheitssystems vor, bzw. Eine Überlastung steht unmittelbar bevor. Diese Voraussetzung ist jedoch nicht mehr gegeben und war es vielleicht auch nie. Darum muss die epidemische Lage beendet werden, denn im Gesetz steht nicht “kann”, “sollte”, “müsste”, es steht “hebt auf, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen”. Auf diese eindeutige Rechtslage muss der Bundestagspräsident die Parlamentarier vor der Abstimmung hinweisen.

Klaus. Biskaborn / 26.09.2020

Bis zu den Wahlen im nächsten Jahr wird man die Corona-Angst hochhalten. Klar, mehr Wählerstimmen kann man sich kaum erträumen. Der deutsche Wähler goutiert wohlwollend alle Einschränkungen seines täglichen Lebens. Bei Kurzarbeit und fast vollem Lohnausgleich lässt es sich gut leben, was interessiert da der Niedergang der Wirtschaft, zumal die sowieso nur das Klima schädigt. Es läuft für die Regierungsparteien und natürlich für die Grünen.

Wilfried Cremer / 26.09.2020

Die Corona-Diktatur kommt ohne Utopien aus. Die Stelle angreifbarer Phantasien hat das leere Leben eingenommen. Ganz im Sinne Nietzsches. Allso Nihilismus pur.

Rolf Mainz / 26.09.2020

Virus hin oder her. Bezeichnend für das Neue Deutschland ist davon ganz unabhängig, dass jedwedes Thema dazu dienen kann, diverse klaffende, innere Spaltungen der deutschen Gesellschaft offenzulegen. 15 Jahre Merkel-Regierung haben aus dem Land ein anderes gemacht, zweifellos. Noch weniger Zusammenhalt als früher, noch tiefere Gräben haben sich in jeder Hinsicht aufgetan, noch weniger Bereitschaft zu politisch-ideologischem Diskurs ist vorhanden. War früher Deutschland in West und Ost geteilt, ist es heutzutage regelrecht zerbrochen. Unvermögen der Regierenden? Oder sogar Absicht? Wie hiess es bei den rämischen Kaisern: divide et impera, teile und herrsche. Passt.

Hans Buschmann / 26.09.2020

Was heißt hier: “fürchten”? Es ist offensichtlich, dass die herrschende Klasse das Volk weiterhin unterdrücken will.

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