Rainer Grell / 01.07.2020 / 15:00 / 3 / Seite ausdrucken

Rostock, der Tod und die D-Mark

Die letzte Juni-Woche ruft jedes Jahr die Erinnerung an ein Erlebnis in mir wach, das in diesem Jahr 30 Jahre zurückliegt. Am Montag, den 25. Juni 1990 um 22:30 Uhr klingelte bei uns in Stuttgart das Telefon, und eine unbekannte Dame aus Rostock meldete sich. Ich bin eine Freundin Ihrer Mutter und muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Mutter einen Schlaganfall erlitten hat und sich im Krankenhaus befindet. Die behandelnde Ärztin bittet Sie um Rückruf. Dann schilderte die Freundin mir das Abenteuer ihres Anrufs aus einem Postamt; denn privat habe sie natürlich kein Telefon. Seit zwei Stunden, also seit halb neun habe sie versucht, ein Telefonat mit mir zu erreichen. Der zuständige Postgenosse habe ihr aber erst einen Apparat zugewiesen, als sie völlig entnervt geschrien habe, es gehe „um Leben und Tod“ (was nicht einmal gelogen war). 

Richtig, meine Mutter besuchte regelmäßig eine Freundin in Rostock, die sie noch aus der Zeit vor unserer Vertreibung aus Treblin/Pommern (heute Trzebielino/Polen) her kannte, und blieb immer eine ganze Woche. Ich versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben, bedankte mich und legte auf.

Am nächsten Tag rief ich die Ärztin unter der angegebenen Nummer an, musste mir allerdings sagen lassen, die Frau Doktor befinde sich in einem anderen Gebäude, in das man nicht verbinden könne. Leicht gereizt notierte ich die dortige Nummer und wählte erneut, bis mir der Arm schmerzte. Gleich nach diesem Vorfall kauften wir ein Tastentelefon mit Wahlwiederholung. Als ich die Ärztin endlich erreicht hatte, teilte sie mir mit völlig teilnahmsloser Stimme die notwendigen Informationen mit.

Nach dem Gespräch rief ich sofort einen befreundeten Chefarzt an und bat ihn, mit der Rostocker Ärztin die Überführung meiner Mutter zu besprechen. In der Zwischenzeit telefonierte ich mit der Deutschen Rettungsflugwacht, um die technischen Fragen der Überführung zu klären. Da ich nicht Mitglied war, würden sich die Kosten auf rund 15.000 D-Mark belaufen. Ich zögerte einen Augenblick, erteilte dann aber den Auftrag. Einige Zeit später rief mich der Chefarzt zurück und informierte mich, dass die Rostocker Ärztin die Überführung meiner Mutter nach Stuttgart mit überzeugenden Gründen abgelehnt habe; sie würde den Flug nicht überleben. Die gleiche Auskunft hatte die Rettungsfluchtwacht zwischenzeitlich erhalten. Nachdem sie für ihre Bemühungen keinerlei Kostenerstattung verlangte, wurde ich Mitglied und bin es bis heute geblieben.

Ein Amt ohne Gebührenordnung

Am darauffolgenden Mittwoch erhielt ich gegen 18:00 ein Telegramm mit der Bitte, umgehend die Klinik in Rostock anzurufen. Nach der erneut nervigen Wählprozedur teilte mir die Ärztin kurz und bündig mit, meine Mutter sei heute, am 27. Juni 1990 um 17:30 Uhr verstorben sei. 

Nachdem fest stand, dass meine Mutter nicht überführt werden konnte, hatte ich sowieso vor, nach Rostock zu fahren und starte am Donnerstag, den 28. Juni um 06:00 Uhr. Der Freundin konnte ich mangels Telefon nicht Bescheid sagen, aber sie rechnete sicher ohnehin mit meiner Ankunft. Ich wählte die Strecke über Hamburg, für die ich fünf Stunden benötigte, genauso lange wie von dort bis Rostock, wo ich gegen 17:00 Uhr eintraf. Hier brauchte ich nochmal eine halbe Stunde, bis ich endlich die Parkstraße gefunden hatte, die mir Muttis Freundin als Adresse genannt hatte. Leider hatte sie in der ganzen Aufregung vergessen zu erwähnen, dass sie diesen Namen erst seit kurzem hatte, während sie vorher Jahrzehntelang Klement-Gottwald-Straße geheißen hatte. Der zehnte Rostocker, den ich fragte, eine ältere Dame, konnte mir glücklicherweise weiterhelfen. 

Das besagte Haus sah äußerlich nicht sehr einladend aus, das Treppenhaus noch viel weniger. Umso erstaunter war ich, als ich die Wohnung betrat, die – von Geschmacksfragen abgesehen – durchaus auch westlichen Ansprüchen genügt hätte. Meine Mutter hatte sogar ein eigenes Zimmer gehabt.

Was war jetzt zu tun? Am selben Tag suchte ich noch ein Beerdigungsinstitut auf, stieß allerdings bei dem VEB auf verschlossene Türen. Am Freitag ging ich zuerst zum Standesamt, um die Ausstellung der Sterbeurkunde zu veranlassen. Die dortige Mitarbeiterin meinte schüchtern, ob ich damit nicht bis Montag warten könne. Warum das denn? fragte ich erstaunt. Ich bin gestern aus Stuttgart gekommen und will morgen weiter zum Wohnort meiner Mutter, um dort die Beerdigung zu regeln. Nach nochmaligen Insistieren nannte sie mir den Grund: Wir haben noch keine Gebührenordnung in D-Mark. Ich traute meinen Ohren nicht. Klar: Die Währungsunion galt erst ab 1. Juli und das war am Sonntag. Ich gebe Ihnen 100 Mark, das müsste auf jeden Fall reichen. Aber ich gehe heute Nachmittag nicht eher weg, bis ich die Sterbeurkunde habe. 

"Nehmen Sie das West-Modell"

Anschließend ging ich ins Krankenhaus, um den Plastikbeutel mit den Habseligkeiten meiner Mutter entgegenzunehmen, den mir die Ärztin persönlich gegen Empfangsbestätigung aber ohne Beileidsbekundung aushändigte. Von dort bis zum Beerdigungsinstitut war es nicht weit. Dafür gab es dort eine weitere Überraschung: Es standen nur zwei Sargmodelle zur Auswahl, ein Ost- und ein Westmodell (für 1.850 DM), die man allerdings nicht in natura, sondern nur als Abbildungen ansehen konnte. Nehmen Sie das Westmodell flüsterte mir der VEB-Mensch zu, so als ob Mielke persönlich „das Leben der Anderen“ aus dem Nebenzimmer belauschte. Ich folgte seinem Rat und bat um Überführung gleich am nächsten Tag. Erschrocken wehrte er ab. Da ist Samstag, da haben unsere Fahrer frei. Dann eben am Montag. Das geht auch nicht, weil ich sie nicht telefonisch erreichen und ihnen den Auftrag erst am Montag erteilen kann. Dann eben am Dienstag seufzte ich resigniert. Ich zahlte alles per Scheck in D-Mark, die Fahrer erst bei Übergabe des Sarges: 0,50 DM pro Person und Kilometer.

Punkt 14:00 Uhr klopfte ich an die Tür des Standesamtes. Wortlos und mit unbewegter Miene überreichte mir die abweisende Dame vom Morgen die Sterbeurkunde in siebenfacher Ausfertigung, während ihre Kollegin offenbar in irgendwelchen Papieren vertieft war. Donnerwetter. Was bin ich Ihnen schuldig? Nichts, antwortete sie lakonisch, das ist kostenlos. Ich war baff und hätte ihr am liebsten die hundert Mark persönlich überreicht. Aber in Gegenwart einer Zeugin traute ich mich nicht. Denn auch bei uns wäre das Bestechung gewesen. Und wir waren immerhin noch in der DDR. Also bedankte ich mich höflich und ging meiner Wege.

Sie hätten ihr die hundert Mark ruhig geben können, sagte die Freundin meiner Mutter hinterher, aber ich war froh, es nicht gemacht zu haben. Da die Freundin dieselbe Figur hatte wie meine Mutter, ließ ich ihr deren gesamte Kleidung da, worüber sie sich so sehr freute, dass es mir peinlich war. 

Am Wohnort meiner Mutter suchte ich noch am Samstag ein Bestattungsgeschäft auf und legte den Beerdigungstermin, vorbehaltlich der Zustimmung des Pfarrers, auf Donnerstag fest. Als ich am Dienstagvormittag erneut in dem Beerdigungsinstitut vorbeischaute, um das Einverständnis des Pfarrers mit Donnerstag mitzuteilen und weitere Einzelheiten zu besprechen, stieß ich auf zwei übernächtigt wirkende unrasierte Männer vor einer Unmenge von Papieren auf dem Tisch vor sich. Das sind die beiden Herren, die Ihre Mutter von Rostock überführt haben, Herr Grell. Sie überlegen, ein eigenes Bestattungshaus zu eröffnen und ich versorge sie gerade mit den nötigen Informationen und Unterlagen. Später sagte er mir, der Sarg ist in Ordnung, aber für den Preis hätten Sie ihn bei mir genauso wenig bekommen wie die Fahrer (2,50 DM pro Person und Kilometer). 

So führte dieses traurige Ereignis dazu, dass ich den Sozialismus am Ende wenigstens finanziell in guter Erinnerung behielt und jedes Jahr um diese Zeit an die Währungsunion erinnert werde.  

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Leserpost

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Frank Holdergrün / 01.07.2020

Schön traurige Geschichte, lieber Herr Grell. Und ein netter Verschreiber: “Rettungsfluchtwacht” - davon hätte man in der DDR mehr haben sollen!

Dirk Göske / 01.07.2020

Einen großen Dank an den Autoren Hr. Grell. Eine interessante und bewegende Geschichte, auch wenn es um den Tod einen nahen Menschen geht. Ich bin selbst in der DDR aufgewachsen und habe bis zum Ende selbiger darin gelebt. Zum besagten Zeitpungt habe ich in Rostock gearbeitet, und lebe heute mit einigen Zwischenstationen im Westen wieder in der Nähe von Rostock. Aber seien Sie versichert, der Westen war für mich genauso fremde Welt wie für Sie der Osten. Mit einer Einschränkung. An Preiswert kann ich mich nicht erinnern. Aber interessant mal eine Nachwende- Geschichte aus der Sicht eines ” Westlers” zu lesen. Vielen Dank.

Lieselotte Schuckert / 01.07.2020

Sehr geehrter Herr Grell, was für ein Aufwand, aber nicht ungewöhnlich, obwohl an überbordende Bürokratie kann man sich nicht gewöhnen und sollte man auch nicht. Wir haben Ähnliches mit meiner Schwiegermutter erlebt, aber umgekehrt, soll heißen   sie war im Krankenhaus in HH Eppendorf (während des Besuchs bei ihrer Mutter erkrankt, es war in den 80zigern). Ich habe von meinem Betrieb, wo ich beschäftigt war die Erlaubnis erhalten, mit dem Arzt zu sprechen, um ihm zu sagen, dass mein Mann (ihr Sohn) nicht nach Hamburg kommen dürfte. Er konnte es nicht verstehen. Und ich konnte nicht verstehen, dass er es nicht Verstand. So war das mit unseren Welten.

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