„Quo usque tandem abutere, Catilina, patientia nostra?” (Wie lange noch, Catilina, wirst du unsere Geduld missbrauchen?) „Diese Worte bilden das berühmte Incipit – den Beginn der ersten der vier Reden gegen [den Senator Lucius Sergius] Catilina, die von Cicero im Römischen Senat am 8. November 63 v. Chr. gehalten wurde, um die zweite Catilinarische Verschwörung, einen Umsturzversuch Catilinas und seiner Anhänger gegen die Römische Republik, aufzudecken und zu bestrafen“ (Wikipedia).
Cicero (106–43 v. Chr.) war Politiker, Anwalt, Schriftsteller und Philosoph. Seine Rede und ihr Kontext enthalten – cum grano salis – nahezu alle Elemente, die auch unsere gegenwärtige Situation kennzeichnen: „Wie lange noch, Merkel, wirst Du unsere Geduld durch deine Corona-Maßnahmen missbrauchen?“
Allerdings war Marcus Tullius Cicero auch der berühmteste römische Redner seiner Zeit, so dass seine „Philippika“ (Cicero selbst nannte seine Reden gegen Mark Anton „orationes Philippicae“) ihrer rhetorisch notwendigen Theatralik entkleidet werden muss, wenn man sie auf die heutige Situation überträgt. Hier soll es daher nur um die nüchterne („sine ira et studio“ – ohne Zorn und Eifer) juristische Beurteilung der Lage gehen.
Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) bestimmt: Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Um diesen beschreiten zu können, muss man natürlich wissen und bezeichnen können, wogegen man sich zur Wehr setzen möchte. Schauen wir uns deshalb zuerst an, durch welche Maßnahmen welche Rechte verletzt sein könnten. Dazu brauchen wir als erstes den Text der beschlossenen Maßnahmen, ein veröffentlichtes Dokument, eine Verordnung oder einen ähnlichen Rechtsakt, also keine bloße Rhetorik der Kanzlerin oder irgendeines Regierungsmitglieds oder Ministerpräsidenten, denn schließlich sollen Verstöße gegen die getroffenen Maßnahmen ja geahndet werden.
Die politischen Rahmenbestimmungen (Bund)
Normalerweise werden solche Regelungen im Bundesgesetzblatt oder im Bundesanzeiger veröffentlicht (§ 2 Absatz 1 des Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen und Bekanntmachungen vom 30.01.1950, zuletzt geändert am 11.06.2019). Danach sucht man im vorliegenden Zusammenhang vergeblich. Dagegen wird man auf der Homepage der Bundesregierung fündig:
- Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 12. März 2020.
- Vereinbarung zwischen Bundesregierung und den Bundesländern: Leitlinien zum Kampf gegen die Corona-Epidemie vom 16. März 2020.
- Erweiterung der beschlossenen Leitlinien zur Beschränkung sozialer Kontakte Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 22. März 2020.
- Telefonschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 15. April 2020.
Bei der Lektüre dieser Texte wird auch dem juristischen Laien schnell klar, dass sie nicht die Akte der öffentlichen Gewalt enthalten können, gegen die man sich vor Gericht wehren kann. Auffallend ist insbesondere, dass an keiner Stelle eine Rechtsgrundlage aufgeführt ist, die zu den dort genannten Einschränkungen ermächtigt.
Der rechtliche Vollzug (Länder)
Der Grund: Zuständig für den Erlass der entsprechenden Rechtsvorschriften sind die Länder entsprechend der Regelung in Artikel 83 GG: Die Länder führen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt. Das Bundesgesetz, um dessen Ausführung es hier geht, ist das „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG)“ vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045) (zuletzt geändert am 27. März 2020, BGBl. I S. 587). Einschlägig ist außerdem die Verordnung über die Ausdehnung der Meldepflicht nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 und § 7 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes auf Infektionen mit dem erstmals im Dezember 2019 in Wuhan/Volksrepublik China aufgetretenen neuartigen Coronavirus ("2019-nCoV") vom 30. Januar 2020 des Bundesministeriums für Gesundheit (BAnz AT 31.01.2020 V1).
Da es den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, die auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Bestimmungen aller 16 Bundesländer abzuhandeln (eine Übersicht finden Sie hier), beschränkt sich die Darstellung auf die Regeln für Baden-Württemberg. Vorweg ist zu bemerken, dass die hiesige grün-schwarze Regierung von der Möglichkeit der Notverkündung Gebrauch gemacht hat, die in § 4 des Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen (Verkündungsgesetz – VerkG) vom 11. April 1983 vorgesehen ist: Erscheint eine rechtzeitige Verkündung in der vorgeschriebenen Form nicht möglich, so kann eine Rechtsverordnung in anderer geeigneter Weise öffentlich bekanntgemacht werden. Die Verkündung in der vorgeschriebenen Form ist nachzuholen, sobald die Umstände es zulassen. Die einschlägigen Regelungen sind
- Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 17. März 2020 (GBl. S. 120)
- Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 17. März 2020 in der Fassung vom 22. März 2020
- Zweite Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-Verordnung vom 22. März 2020
- Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 17. März 2020 in der Fassung vom 28. März 2020
- Dritte Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-Verordnung vom 28. März 2020
- Verordnung des Kultusministeriums über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 im Bereich von Gottesdiensten und weiteren religiösen Veranstaltungen, Ansammlungen und Zusammenkünften sowie Bestattungen vom 2. April 2020
- Vierte Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-Verordnung vom 9. April 2020
- Verordnung des Sozialministeriums zu Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende zur Eindämmung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung Einreise – CoronaVO Einreise) vom 10. April 2020
- Fünfte Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-Verordnung vom 17. April 2020 (notverkündet)
- Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 17. März 2020 (in der Fassung vom 17. April 2020). Das baden-württembergische Gesundheitsministerium/Sozialministerium hat die Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) in dieser Fassung in mehrere Sprachen übersetzen lassen (und zwar in Englisch, Französisch, Türkisch, Russisch, Arabisch, Polnisch und Italienisch).
- Verordnung des Sozialministeriums zur Einschränkung des Betriebs von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und anderen Angeboten zur Eindämmung der Infektionen mit Sars-CoV-2 (Corona-Verordnung WfMB –CoronaVO WfMB) vom 18. März 2020 (in der Fassung vom 17. April 2020)
- Zweite Verordnung des Sozialministeriums zur Änderung der Corona-Verordnung WfMB vom 17. April 2020
- Verordnung des Sozialministeriums zur Untersagung des Verlassens bestimmter Einrichtungen zum Schutz besonders gefährdeter Personen vor Infektionen mit Sars-CoV-2 (Corona-Verordnung Heimbewohner – CoronaVO Heimbewohner) vom 7. April 2020 (in der Fassung vom 17. April 2020)
- Verordnung des Sozialministeriums zur Änderung der Bestattungsverordnung vom 17. April 2020
- Verordnung des Sozialministeriums zur Untersagung bestimmter Maßnahmen in Einrichtungen nach § 111a SGB V zum Schutz vor Infektionen mit Sars-CoV-2 (Corona-Verordnung § 111a SGB V – CoronaVO § 111a SGB V) vom 24. März 2020 (in der Fassung vom 18. April 2020)
- Verordnung des Sozialministeriums über das Training im Spitzen- und Profisport (Corona-Verordnung Spitzensport – CoronaVO Spitzensport) vom 10. April 2020 (in der Fassung vom 18. April 2020) (notverkündet)
Alle diese Bestimmungen enthalten die Umsetzung der Bund-Länder-Vereinbarungen und basieren auf § 32 in Verbindung mit § 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 und § 31 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045) in der aktuellen Fassung sowie weiterer Gesetze (wie z.B. dem Bestattungsgesetz).
Die betroffenen Grundrechte
Sämtliche aufgeführte und weitere Verordnungen des Landes können hier heruntergeladen werden, weswegen auf die Angabe der jeweiligen Fundstelle verzichtet wurde: Downloads: Corona-Verordnung. Wer sich die Mühe macht, in alle diese Regeln – wenn auch nur kurz – hineinzuschauen, wird feststellen: da bleibt kein Auge trocken, das heißt: Nahezu die gesamte Palette unserer Grundrechte ist betroffen. Mittlerweile ist es eine Binsenweisheit, dass die Corona-Maßnahmen einen bisher einmaligen Eingriff in die Freiheitsrechte seit Bestehen der Bundesrepublik darstellen. Sieht man von den im Einzelnen unterschiedlichen Regelungen der 16 Bundesländer ab, so sind in jedem Fall folgende Grundrechte betroffen:
Artikel 2 Abs. 1 GG (das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit durch die „Ausgangssperren“)
Artikel 4 Abs. 2 GG (das Recht auf ungestörte Religionsausübung: Gottesdienste sind in den meisten Bundesländern verboten)
Artikel 6 Abs.1 GG (der besondere Schutz von Ehe und Familie: Niemand kann Ehepartner, Kinder, Eltern oder Großeltern besuchen, die sich in Krankenhäusern, Altersheimen oder Pflegeeinrichtungen befinden. Auch Eheschließungen sind schwierig bis unmöglich)
Artikel 7 GG (Wenn man davon ausgeht, dass der Schulpflicht auch das Recht zum Schulbesuch, also das Recht auf Bildung [Artikel 26 Nr. 1 Satz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO: „Jeder hat das Recht auf Bildung“] entspricht: Die Schulen sind geschlossen)
Artikel 8 GG (das Recht auf Versammlungsfreiheit: Versammlungen sind in allen Bundesländern verboten)
Artikel 11 GG (das Recht auf Freizügigkeit: Freies Reisen im Inland und ins Ausland ist faktisch unmöglich)
Artikel 12 Absatz 1 GG (das Recht auf freie Berufsausübung: Beinahe alle Gewerbetreibende bis auf Supermärkte, Apotheken und Lebensmittel produzierende Betriebe mussten ihr Geschäft schließen)
Artikel 14 GG (das Recht auf Eigentum, weil einem großen Prozentsatz, vor allem von Gewerbetreibenden, die Existenzgrundlage entzogen wird).
Die Zitiergebote des Grundgesetzes
Nun bestimmt der zitierte Artikel 19 GG in Absatz 1: Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muss das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muss das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. Rechtsverordnungen sind keine Gesetze im Sinne dieser Grundgesetzbestimmung. Diese unterliegen nur dem Zitiergebot nach Artikel 80 Absatz 1 Satz 3 GG: Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden. Die Rechtsgrundlage ist in der Verordnung anzugeben. Ist durch Gesetz vorgesehen, daß eine Ermächtigung weiter übertragen werden kann, so bedarf es zur Übertragung der Ermächtigung einer Rechtsverordnung.
Im vorliegenden Fall ist in den Verordnungen der Landesregierungen als Rechtsgrundlage das Infektionsschutzgesetz angegeben und zwar § 32 in Verbindung mit § 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 und § 31. § 32 lautet:
Die Landesregierungen werden ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Die Landesregierungen können die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf andere Stellen übertragen. Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz), der Freizügigkeit (Artikel 11 Abs. 1 Grundgesetz), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz), der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 Grundgesetz) und des Brief- und Postgeheimnisses (Artikel 10 Grundgesetz) können insoweit eingeschränkt werden. Es fällt auf, dass folgende Grundrechte nicht aufgeführt sind:
- Artikel 4 Absatz 2 GG (das Recht auf ungestörte Religionsausübung)
- Artikel 6 Absatz 1 GG (der besondere Schutz von Ehe und Familie)
- Artikel 7 GG (das Recht auf Schulbesuch/Recht auf Bildung)
- Artikel 12 Absatz 1 GG (das Recht auf freie Berufsausübung)
- Artikel 14 GG (das Recht auf Eigentum)
Allerdings gilt das Zitiergebot gemäß Artikel 19 Absatz 1 Satz 2 nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur bei Grundrechten, die auf Grund einer ausdrücklichen Ermächtigung (sog. Gesetzesvorbehalt) vom Gesetzgeber eingeschränkt werden dürfen. Das Zitiergebot gilt dagegen nicht bei grundrechtsrelevanten Regelungen, mit denen der Gesetzgeber einem im Grundgesetz vorgesehenen Ausgestaltungs- oder Regelungsauftrag nachkommt. Hierunter fallen im vorliegenden Zusammenhang
- Artikel 2 Absatz 1 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit) umstritten
- Artikel 6 Absatz 1 und 2 GG (Ehe und Familie)
- Artikel 12 Absatz 1 (Berufsfreiheit)
- Artikel 14 (Eigentum und Enteignung)
Danach wäre das Zitiergebot allenfalls bezüglich Artikel 7 GG verletzt und das Gesetz insoweit verfassungswidrig, könnte also nicht als Rechtsgrundlage für Schulschließungen per Rechtsverordnung dienen. Angesichts der restriktiven Anwendung des Zitiergebots durch das Bundesverfassungsgericht ist ein solches Ergebnis allerdings unwahrscheinlich. Im Übrigen entsprechen die Rechtsverordnungen sowohl der Landesregierung als auch der zuständigen Ministerien formell den grundgesetzlichen Bestimmungen.
Ob das auch materiell, also inhaltlich, der Fall ist, soll in Teil 2 morgen behandelt werden.