Der Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger steht wegen eines „ekelhaften antisemitischen Flugblattes“ im Kreuzfeuer. Berlin-Neuköllner Feministinnen wollen ein Denkmal des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn entfernen lassen, weil dieser „Antisemit, Nationalist, Antidemokrat, Militarist und Antifeminist“ gewesen sei.
Ein Sports-, aber kein Judenfreund war Turnvater Jahn. „Antisemit, Nationalist, Antidemokrat, Militarist und Antifeminist“ nennt ihn das Netzwerk Frauen in Neukölln. Deshalb soll seiner Meinung nach das Jahn-Denkmal in der Berliner Hasenheide entfernt werden. Die Diskussion läuft schon seit einer Weile, für gestern war eine Protestkundgebung unter dem Motto „Jahn muss weg“ angekündigt. Allerdings gilt Friedrich Ludwig Jahn auch als Pionier der Leibesertüchtigung und der nationalen Sache.
Man solle bei Jahn – und Komponist Richard Wagner – berücksichtigen, zitiert Nius Amir Makatov, ein Vorstandsmitglied des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus, dass „sie auch Gutes geleistet haben, auch von Juden für ihr Werk bewundert werden und keine Menschen auf dem Gewissen haben“. Bei der „Reinigung Berlins von symbolischen menschenfeindlichem Gedankengut“, so Makatov weiter, möge man besser mit dem Marx-Engels-Denkmal beginnen.
In der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Neukölln befürworten Rote, Rote und Grüne eine Umgestaltung oder Entfernung des Jahn-Denkmals, CDU und AfD sprechen sich dagegen aus. „Fanatisch wird die Geschichte jetzt auf Bösewichter untersucht“, kritisiert Gunnar Schupelius in der B.Z. „Gelöscht werden soll, was dem Zeitgeist heute nicht gefällt.“ Nach Jahn ist in der Bundeshauptstadt ein ganzer Sportpark benannt, dessen Umbenennung auch schon gefordert wurde. Bundesweit fungiert der Turnvater als Namensgeber diverser Straßen, Sporteinrichtungen, mehrerer Hütten und einer Höhle. In Bernau bei Berlin will man sogar eine alte Jahn-Büste wieder aufstellen, leider ist sie „unauffindbar“. Bielefeld hätte eine übrig.
„Jugendsünde“
Als Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger im Juni hier Thema war, wurden ihm noch „populistische und LGBTQIA+-feindliche Aussagen“ vorgeworfen. Jetzt heißt es, er sei „in ein ekelhaftes antisemitisches Flugblatt verstrickt“. Ein früherer Lehrer Aiwangers hatte seinen Ex-Schüler nach der öffentlichen Kritik an dessen Erdinger Rede bei der Süddeutschen Zeitung denunziert. Das Flugblatt, das – wohl 1987 – von Aiwangers älterem Bruder Helmut verfasst worden sein soll, trägt den Titel „Bundeswettbewerb: Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“ 995 Gewinner – in Deutschland lebende Deutsche – sollen im KZ Dachau landen, 5 Gewinner zu Tode kommen, mindestens zwei davon im Vernichtungslager Auschwitz.
Als „schwarz und böse“ beurteilt Bild-Kolumnist Franz Josef Wagner das Vorgehen der damals minderjährigen Aiwanger-Teenager. Selbstverständlich liegt es nahe, derartigen Humor in Verbindung mit der industriellen Massenvernichtung höchst abstoßend, unangemessen und misslungen zu finden. Helmut Aiwanger hatte den Text nach eigener Aussage aus Frust über sein Sitzenbleiben verfasst und/oder als Provokation an die Adresse linker Lehrer. Auch wenn sein mit Rücktrittsforderungen konfrontierter Bruder Hubert den Flyer vielleicht nur in seiner Schultasche gehabt habe, müsse er seine Ämter verlieren, verlangt Süddeutsche-Chefredakteur Wolfgang Krach: „Auf die Urheberschaft kommt es nicht mehr an, der Rest ist schon schrecklich genug.“ Die Alpen-Prawda hatte sich sogar eines Exemplars von Hubert Aiwangers Facharbeit aus Schulzeiten bemächtigt und geht davon aus, dass sie mit der gleichen Schreibmaschine getippt wurde wie das Flugblatt. (Hinweis an jüngere Leser: Im Gegensatz zum heutigen Smartphone hatte in den 1980er-Jahren nicht jedes Familienmitglied eine eigene Schreibmaschine.)
Der eingangs erwähnte Lehrer berichtete, er habe das Flugblatt seinerzeit, vor über 35 Jahren, für eine „Jugendsünde“ gehalten. Inzwischen beeilen sich viele auszurufen, dass es das nun gerade nicht sei. Bild-Wagner betont, dass als legitime Jugendsünde nur durchgehen dürfe, was er selbst zu Adenauers Zeiten begangen hat: die Straftaten Diebstahl und Fahren ohne Fahrerlaubnis sowie: „Ich [...] wollte nur grapschen.“ Übrigens: Security-Mitarbeiter mit „KZ-Wächtern“ zu vergleichen, gilt für den CDU-Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter offenbar als lässliche Erwachsenensünde.
Reden wie der Führer
Wenn man einmal dabei ist, wird noch mehr ausgegraben: Hubert Aiwanger habe, behauptet ein ehemaliger Mitschüler, damals den Hitlergruß entboten (andere widersprechen) und „sehr oft diese Hitler-Ansprachen nachgemacht in diesem Hitler-Slang“. Da macht ihm aktuell sein Chef Konkurrenz – als gestandener Erwachsener: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat seinen Vize und Mehrheitsbeschaffer Aiwanger bei einem Bierzelt-Auftritt am Montag mit „Adolf-Hitler-gleicher Stimme und Gestik“ parodiert und dabei braune (!) Tracht getragen, wie der Deutschlandfunk berichtet (auch hier zu hören). Wer ihn umgekehrt aber „Södolf“ zu nennen wagt, dem schickt er seine Staatsanwälte auf den Hals.
Der CSU-Chef und „Gelegenheitstyrann“, der in Nürnberg Prestigebauten errichten lässt, hat seinem Wirtschaftsminister am Dienstag eine Strafarbeit aufgebrummt: Aiwanger muss zeitnah 25 Fragen zum Sachverhalt beantworten. (Achgut berichtete.) Woher der Wind weht, schreibt die Zeit mit Blick auf die Landtagswahl im Oktober: Der ganze Vorgang „könnte sich […] negativ auf die Ergebnisse der regierenden Parteien CSU und Freie Wähler auswirken“. „Als Jude wehre ich mich dagegen, dass Denunzianten uns Juden für ihre tagespolitischen Zwecke missbrauchen“, reagiert der Historiker Prof. Michael Wolfssohn ungehalten. Über die Verlogenheit der Vorwürfe haben bei Achgut schon Vera Lengsfeld und Henryk Broder das Nötige geäußert. Nun mag man in manchen Redaktionsstuben Söder zwingen wollen, lieber mit den Grünen zu koalieren als weiter mit den Freien Wählern. Andererseits möchte der Scheinoppositionelle Aiwanger ja gerade der AfD Stimmen abjagen.
Auf den Hund gekommen
Während Aiwanger mit Schmutz beworfen wird, hat Beatrix von Storch Exkremente abbekommen – im wahrsten Sinne des Wortes. Die prominente AfD-Politikerin wurde letzten Freitag bei einem Auftritt im rheinland-pfälzischen Daun von einem Mann, der vorgegeben hatte, mit ihr ein Foto machen zu wollen, mit Hundekot beschmiert (hier im Video). Der 35-jährige Täter wurde festgenommen, wie die Polizei berichtet. Von Storch war 2016 bereits mit einer Torte beworfen worden. Der kritische Journalist Boris Reitschuster sieht einen Zusammenhang zwischen der aktuellen Attacke auf die Abgeordnete und dem Aufruf von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) zur Bekämpfung der AfD.
Persona non grata
„Keine Bühne für Putins Freunde“ hieß es auf einem Schild, als Opernsängerin Anna Netrebko diesen Mai in Wiesbaden auftrat. Konzerte mit der russisch-österreichischen Sopranistin rufen seit Beginn des Ukrainekriegs viele Proteste und Cancel-Forderungen hervor. Netrebko sitzt zwischen den Stühlen: Im Westen gilt sie als Putin-nah, in Russland bekommt sie keine Engagements mehr, nachdem sie den Angriff auf die Ukraine verurteilt hat – schon letztes Frühjahr fiel ein Auftritt von ihr in Sibirien aus. Gegen die New Yorker Met führt sie nach ihrem Rauswurf einen Rechtsstreit.
Jetzt wurde ein für Oktober geplantes Konzert in Prag mit Verweis auf die Solidarität mit der Ukraine abgesagt. Dies erfolgte im Einvernehmen mit dem Management der Sängerin: „Wir haben uns geeinigt, dass wir dem politischen Druck nachgeben und Anna keine Entschädigung verlangen wird“, heißt es von dort. Ein für Juni 2024 geplanter Auftritt des Opernstars im schweizerischen Luzern schlägt bereits Wellen. „In der Schweiz scheint man sich uneinig zu sein, ob [sie] erwünscht sein darf, oder eben nicht“, schreibt ein Medium aus dem Alpenland. Gegenproteste, wie es sie in Deutschland gegeben hat – in Wiesbaden oder in Baden-Baden – sind auf jeden Fall zu erwarten. In zwei Wochen soll Anna Netrebko im Macbeth an der Berliner Staatsoper singen. Eine Online-Petition dagegen fand bisher schon eine fünfstellige Zahl an Unterzeichnern.
No Blässe oblige
Zeitweise waren die „Ungeimpften“ vom Museumsbesuch ausgeschlossen, das galt auch für das Industriemuseum Zeche Zollern in Dortmund. Jetzt trifft es die Blasseren unter den Gästen. Die Website der Einrichtung brüstet sich zwar als „inklusiv“, die sogenannte „Ausstellungswerkstatt“ jedoch – eine unfertige Vorbereitung für eine Sonderausstellung –, ist zu bestimmten Zeiten exklusiv „BIPoC“ vorbehalten. „Das ist kolonial.“ nennt sich das Projekt, und samstags zwischen 10 und 14 Uhr dürfen nur „Black, Indigenous and People of Color“ (BIPoC), also „Schwarze, Indigene/Eingeborene und Farbenmenschen“ („Farbige“ wäre politisch unkorrekt) in die Werkstatt. Das nennt sich „Safer Space“. Wie „Safer Sex“, aber für Menschen ohne Spaß.
Träger des Museums ist der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, dem alle Kreise und kreisfreien Städte dieses NRW-Landesteils angehören. Waren es in anderen Fällen obskure niederländische Therapeuten und Schweizer Partyveranstalter, die solcherart nach Hautfarbe diskriminieren, verantwortet das in Dortmund also die öffentliche Hand. Gegenüber Nius versucht man das herunterzuspielen: „Es geht hier um 4 von insgesamt 48 Stunden Öffnungszeit in der Woche, und auch nur einen kleineren Teilbereich des Museums.“ Im Praxistest heißt es seitens des Personals: „Wir haben unserer Anweisungen.“ Das beantwortet aber noch nicht alle Fragen: Liegt am Einlass eigentlich ein Spektralfotometer bereit, um die Farbe zu messen? Reicht Urlaubsbräune? Was gilt für Transschwarze? Und wie lange muss der Stammbaum zurückreichen, damit man als westfälischer „Eingeborener“ gilt?
Wir sind alle kleine Sünderlein
Die Erfinder des Schwarzpulvers, des Porzellans und des Sozialkreditsystems zeigen sich wieder von ihrer kreativen Seite: In China wurde jetzt die Bibel umgeschrieben, berichtet Apollo News. Zumindest eine Passage im Johannesevangelium, nämlich die, aus der das berühmte Zitat „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“ stammt (Joh 8, 3-11). Im Original bewahrt Jesus so eine Ehebrecherin vor der Steinigung. In der Ausgabe eines rotchinesischen Verlags steinigt er sie stattdessen selbst. Denn: „Auch ich bin ein Sünder. Aber wenn das Gesetz nur von Menschen ohne Makel ausgeführt werden könnte, wäre das Gesetz tot.“ Diese Sätze dürften so oder so ähnlich oft in Schulungen für deutsche Ordnungsamtsmitarbeiter fallen.
Gelöscht
Der YouTube-Account „kanal schnellroda“ wurde diese Woche gelöscht, „da wiederholt von Dritten Urheberrechtsverletzungen im Hinblick auf das vom Nutzer hochgeladene Material gemeldet wurden“, wie die Plattform informiert. Hierbei handelt es sich um den Kanal des neurechten Vordenkers Götz Kubitschek, der vom sachsen-anhaltinischen Rittergut Schnellroda aus den Antaios-Verlag betreibt, das Magazin Sezession herausgibt und im Institut für Staatspolitik wirkt. Eine Anfrage zum Hintergrund der Urheberrechts-Vorwürfe ließ der Verlag bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Es zahlt sich für ihn nun aus, dass die Videos seit über acht Jahren auch auf Odysee hochgeladen werden.
Gesperrt
In politisch ähnlichen Gefilden bewegt sich Martin Sellner. Der Österreicher gilt als Kopf der Identitären Bewegung im deutschsprachigen Raum. Sein Twitter-Account wurde jetzt gesperrt. Gleiches erfolgte für ein Ersatzkonto. Sellners Einschätzung zu Twitter: „Nach einigen ‚freieren‘ Monaten ist die Plattform wieder im Zensurmodus.“ Da könnte der frisch in Kraft getretene Digital Services Act der EU bereits seine Wirkung entfalten.
YOLO
Jenseits des Großen Teichs wurde eine Veranstaltung in einer öffentlichen Bibliothek vorzeitig beendet, weil eine Rednerin sogenannte Transfrauen, die sich im Frauensport betätigen, „misgendert“ hatte. Die junge Aktivistin und ehemalige College-Fußballerin Sophia Lorey hatte von „Männern“ beziehungsweise „biologischen Männern“ gesprochen. Bibliotheksangestellter Scott Love bat sie daraufhin, den Saal zu verlassen, und drohte mit Beendigung der Veranstaltung. Schauplatz war der Landkreis Yolo in Kalifornien, im Video des Vorfalls sieht man daher – wie in diesem Bundesstaat üblich – nach wie vor einige Teilnehmer mit Mund/Nasen-Verschleierung. Die Bücherei war gar nicht selbst Veranstalterin der Diskussion, sondern die Ortsgruppe der Moms of Liberty. Dass sich Love trotzdem auf diese Art eingemischt hat, verletzt aus Sicht der Bürgerrechtsorganisation FIRE die verfassungsrechtlich garantierte Meinungsfreiheit.
Und so endet der allwöchentliche Überblick des Cancelns, Framens, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Denunzierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
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