Die Oberhausener Kurzfilmtage wurden von einigen Künstlern und Verleihern wegen eines israelischsolidarischen Statements boykottiert, ein Film über Golda Meir durfte in Frankfurt keine Vorpremiere feiern und Simson-Mopedfans sind auch unten durch.
Am Sonntag endeten die diesjährigen Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Das Festival wurde 70 Jahre alt und genießt längst Weltruf. Diesmal aber überschattete es ein politischer Konflikt. Eingereichte Filme wurden zurückgezogen, zahlreiche Verleiher sagten ab. Was war geschehen? Die Oberhausener Kurzfilmtage hatten Ende Oktober letzten Jahres auf Facebook zur Teilnahme an einer israelsolidarischen Demonstration in Berlin aufgerufen. Ihr langjähriger Leiter und Geschäftsführer, Lars Henrik Gass, schrieb dazu: „Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser in der Minderheit sind.“ Dieses Statement wollten einige gar nicht gerne hören. Es kam zu Rassismusvorwürfen und Boykottaufrufen gegen das Filmfestival. Eine Erklärung mit fast 2.000 Unterzeichnern aus diversen Ländern unterstellt Gass, dass sein Verweis auf Antisemiten und Terrorunterstützer in Berlin-Neukölln, „dazu dient, Palästinenser zu entmenschlichen und zu stigmatisieren“. Implizit wurde darin dazu aufgerufen, die Kurzfilmtage zu boykottieren.
Der Angesprochene fühlte sich bemüßigt, zwei Wochen später klarzustellen: „Meine Absicht war nicht, die palästinensische Bevölkerung pauschal zu stigmatisieren, weder in Deutschland noch darüber hinaus.“ Gass weist aktuell gegenüber der NZZ darauf hin, dass er sich „auch für sogenannte postkoloniale Fragestellungen offen“ gezeigt hat – wie in Zeitgeist und Subventionskultur gängig – sowie Kontakte in den arabischen Raum pflegt. Bei seiner Formulierung vom Oktober bleibt er aber konsequent. Und beschwert sich, dass der Begriff „Rassismus“ missbraucht wird, um ein Thematisieren des islamischen Antisemitismus zu kontern. „Mittlerweile ist dieser Israel-bezogene Antisemitismus so stark verankert im Kulturbereich, aber auch im geisteswissenschaftlichen Betrieb, er ist Common Sense geworden, ein kultureller Code“, stellt Gass fest. Kampagnen wie die gegen ihn seien „strukturell sehr gut organisiert“, so der Festival-Chef. Er beklagt, dass andere Filmfestivals „gar keine Leute mehr mit jüdischem Hintergrund“ einladen.
Kino knickt ein
Der Gründer der Oberhausener Kurzfilmtage, Hilmar Hoffmann, hat später lange in Frankfurt/Main gewirkt und dort auch das Deutsche Filmmuseum ins Leben gerufen. Einen Kilometer entfernt tut man sich mit einem aktuellen Film offenbar schwer. Für vergangenen Dienstag war eine Vorpremiere des britischen Films Golda – Israels Eiserne Lady über die legendäre israelische Ministerpräsidentin Golda Meir im Arthouse-Kino Harmonie geplant. Bei der Veranstaltung, zu der die Zionistische Organisation (ZO) Rhein-Main und andere jüdische Vereinigungen eingeladen hatten, war als Zeitzeuge David Schiller vorgesehen. Schiller hatte im Jom-Kippur-Krieg gekämpft. Ein Vertreter des Lichtspielhauses, das zu einer Gruppe von drei Frankfurter Arthouse-Kinos gehört, ließ die Veranstalter laut HR wissen, „dass ihn vermehrt Kritik zu Schiller und seinen Positionen erreiche“. „Es gebe bei einzelnen […] Mitarbeitern ernsthafte Sicherheitsbedenken.“ Das lässt vermuten, dass Drohungen ausgesprochen wurden.
Obwohl sich die ZO nolens volens auf eine Absage des Schiller-Auftritts einließ, legte die Harmonie nach und cancelte eine Woche vor dem Termin die ganze Vorführung. Geschäftsführer Christopher Bausch erklärte dazu kryptisch, man wolle „einen Raum für Meinungsvielfalt, einen offenen Austausch und den kritischen Dialog bieten“, könne dies jedoch „für die betreffende Sonderveranstaltung nicht mehr zusichern“. Jüdische Organisationen, der Frankfurter FDP-Fraktionschef Yanki Pürsün MdL, Jutta Ditfurth und andere kritisieren die Absage. „Dass ein Kino einknickt und solch eine Veranstaltung auf Druck von außen absagt, ist ein Armutszeugnis“, urteilt Benjamin Graumann von der örtlichen Jüdischen Gemeinde, die bereit wäre, den Film in ihrem Räumlichkeiten zu zeigen. Zum normalen Kinostart soll Golda – Israels Eiserne Lady aber bei der Frankfurter Arthouse-Gruppe laufen.
Der Haussegen hängt schief
Über „Blackfacing“ bei den Heiligen Drei Königen hatte ich Ihnen Anfang des Jahres berichtet. Jüngst hat einer der Träger der Kinderaktion, der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), beschlossen, „dass zukünftig durch Sensibilisierungsarbeit alle Sternsinger*innen-Gruppen das schwarze Schminken beim Sternsingen unterlassen“ sollen. Auf seiner Hauptversammlung hat der BDKJ, der als Dachverband über eine halbe Million Mitglieder vertritt, außerdem die Empfehlung zum Umgang mit „rechtsextremen oder -populistischen Parteien“ verabschiedet, „Amtsträger*innen, die Mitglieder solcher Parteien sind, nicht zu besuchen“. Mit anderen Worten: Wenn einer z.B. im Kreisvorstand der AfD sitzt, klingeln die kindlichen Könige nicht an dessen Türe. Stattdessen singen und segnen Caspar, Melchior und Balthasar lieber beim – weltanschaulich hoffentlich genehmeren – Nachbarn.
Der BDKJ spricht sich in seinen Beschlüssen außerdem für drängende römisch-katholische Anliegen wie „intersektionalen Queerfeminismus“, „das Empowerment von […] FINTA*“ und ein „Ende der Kriminalisierung von gewaltfrei agierenden Antifaschist*innen“ aus. Nicht alle in der katholischen Kirche zeigen sich von der Sternsinger-Empfehlung begeistert. „Das Problem ist, dass ein Segen etwas anderes ist als ein politisches Statement“, kritisiert Renardo Schlegelmilch beim Domradio des Erzbistums Köln. „Einen Segen zu verweigern, wird nach hinten losgehen.“ Und wie sollen die Kinder überhaupt wissen, wer sich des Haussegens unwürdig erwiesen hat? Vielleicht sollten die Eingänge der Einfachheit halber frühzeitig gekennzeichnet werden, damit die singenden Weisen aus dem Morgenland sie gleich meiden: Statt nachher „CMB“, also „Christus mansionem benedicat“, heißt es dann vielleicht vorher „Christus mansionem maledicat“.
Opfer unerwünscht
Ausgeschlossen werden AfDler auch von der Unterzeichnung der Striesener Erklärung. In dieser bekunden Politiker, vor allem Parlamentsabgeordnete verschiedener Parteien, ihre Empörung über die Attacke auf den SPD-Europaparlamentarier Matthias Ecke in Dresden. „In den Farben getrennt, aber in dieser Sache vereint“ – die blaue Farbe ist jedoch unerwünscht. Dabei werden AfD-Vertreter häufiger gewaltsam angegriffen als die irgendeiner anderen Partei. Lediglich bei verbalen Delikten liegen die Grünen als Geschädigte vorn. Erst jüngst kam es wieder zu brutalen Angriffen auf AfD-Politiker (hier und hier). Die Initiatoren der Striesener Erklärung vollziehen bei der AfD aber eine Täter-Opfer-Umkehr, die Partei sei „durch die maßgeblich von ihren Abgeordneten betriebene rechtsradikale Hetze mitverantwortlich für die Stimmung in unserem Land". Den Angriff auf Ecke nahm man zum Anlass, gegen die AfD zu demonstrieren, ohne dass ein Bezug der mutmaßlichen Täter zu der Partei bekannt wäre. Zwei Grünen-Politiker aus Essen sind kürzlich von Personen angegangen worden, die Zeugen zufolge „arabischstämmig“ wirkten; ein Grüner wurde leicht verletzt. Werden wir NRW-Ministerpräsident Wüst bald auf einer Demo gegen Araber sehen?
Disziplinierung in Bayern
Vergangene Woche erst hatte ich Ihnen von Michael Meyens neuem Büchlein über Cancel Culture berichtet und dabei das laufende Disziplinarverfahren gegen ihn erwähnt. Nun ist es zum Ergebnis gekommen: Dem Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU München werden die Bezüge um 10 Prozent gekürzt, und zwar für einen „zeitlich mittleren Bereich“, wie die zuständige Behörde mitteilt, die Landesanwaltschaft Bayern. Der Zeitraum bezieht sich auf eine maximale Dauer von drei Jahren; die taz geht in Meyens Fall von zwei Jahren aus. Dabei handelt es sich nicht um die mildeste Disziplinarmaßname gegen einen Beamten. Meyen wird offenbar zum Vorwurf gemacht, sich für die Zeitung Demokratischer Widerstand betätigt zu haben. Dieses Presseorgan ging aus den Corona-Protesten hervor und lässt sich als Querfrontmedium unter (antiimperialistisch-)linker Führung beschreiben. Der Hochschullehrer hat dort lange eine Kolumne verfasst und fungierte in zwei Ausgaben als Mitherausgeber. (Als Mitherausgeber des Blattes wurden allerdings auch schon Personen genannt, die nicht gefragt wurden oder gar nicht existieren.) Meyen kann gegen die Entscheidung gerichtlich vorgehen.
Kein Bild im Spiegel
Mit Datenanalytiker Tom Lausen haben wir uns schon mal beschäftigt, nachdem ein Verlag ein Buchprojekt mit ihm abgesagt hatte. Bücher aus der Achgut-Edition hat auch schon der Bannstrahl getroffen. Was wohl passiert, wenn beides zusammenkommt? Das neue Buch Die Untersuchung – Drei Jahre Ausnahmezustand: Ein wegweisendes Gespräch mit künstlicher Intelligenz, das Lausen mit seiner Frau Ulrike verfasst hat, ist in der Edition Achgut erschienen (hier bestellbar) und hat jetzt den Weg in eine Spiegel-Bestsellerliste gefunden. Allerdings wird es in deren Online-Version als einziges ohne Cover und Inhaltsbeschreibung aufgeführt (Achgut berichtete). Das macht das Werk für Besucher der Website natürlich weniger attraktiv. Einen technischen Defekt schließt Lausen nach Prüfung des Quellcodes aus. „Hat der Inhalt des Buches die Kollegen vom Spiegel dermaßen verschreckt?“, fragt Achgut-Herausgeber Dirk Maxeiner. „Fürchten sie möglicherweise eine Delegitimation ihrer eigenen staatstreuen Corona-Berichterstattung?“
Falsche Witze
Der linke Liedermacher Wenzel – mit vollem Namen Hans-Eckardt Wenzel – darf in einem Kulturzentrum in der Antifa-Hochburg Leipzig-Connewitz nicht mehr auftreten (Achgut berichtete). Anfang des Jahres hatte er mit seiner Band noch ein ausverkauftes Konzert im Werk 2 gegeben. Allerdings kreideten ihm die dortigen Verantwortlichen Wenzel eine „Glorifizierung der DDR-Vergangenheit“ und einen „positiven relativierenden Bezug zu Putin“ an. Außerdem habe er sich „über sensiblen Sprachgebrauch amüsiert“ sowie sich mit Witzen „über die Gefahren der Coronapandemie und über nonbinäre Personen“ schuldig gemacht. In seiner Replik an die Mitarbeiter von Werk 2 bezeichnet der Künstler, der seine Karriere auf DDR-Bühnen begann, „diese um sich greifende selbstgefällige Arroganz“ als „moralisch offerierten Gesinnungsstalinismus“. An Veranstaltungen dieser Kultureinrichtung dürfen übrigens „Besucher [wenigstens ungegendert], die rechten Parteien oder Organisationen angehören“, gar nicht erst teilnehmen.
Falsche Sängerin
Apropos Putin und Sangeskunst: Die Distanzierung von dessen kriegerischem Handeln nehmen manche der Opernsängerin Anna Netrebko nach wie vor nicht ab. Ein für den 1. Juni in der Schweiz geplanter Auftritt der russisch-österreichischen Sopranistin fällt aus. Das Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) sei „von den kantonalen und städtischen Behörden aufgefordert [worden], das Konzert abzusagen“. Und zwar wegen einer möglichen „Bedrohung der öffentlichen Ordnung“. „Es drängt sich“, schreibt die NZZ, „die Vermutung auf, dass mit der öffentlich bekundeten Sorge wegen möglicher Ausschreitungen in Wahrheit eine Ablehnung der Person Anna Netrebko und ihrer politischen Positionen kaschiert werden soll.“ Als Hintergrund für die Sicherheitsbedenken wird ein Gipfeltreffen zum Ukrainekrieg angeführt, das in „zeitlicher und geografischer Nähe“ zum gecancelten Konzert anberaumt ist. Diese Konferenz soll 20 Autominuten vom KKL entfernt stattfinden, allerdings erst zwei Wochen (!) später. Netrekbo trat jüngst wieder in Wiesbaden auf – erneut begleitet von Gegenprotest.
Geht doch nach drüben!
Wo wir schon bei Russland sind, sei noch ein Fall aus dem vergangenen Monat nachgetragen. Der Organisation „Moya Rossiya“ (zu Deutsch: „Mein Russland“) wurde ihr Google-Konto und ihr YouTube-Kanal gelöscht, nach ihren Angaben „ohne Vorankündigung und ohne jegliche Kritik an unserem Inhalt“. Die Vereinigung berät Deutschsprachige, die nach Russland auswandern wollen. Anlass für die Sperre war Ihres Erachtens ein Correctiv-Artikel, der „Moya Rossiya“ in die Nähe „prorussischer Desinformation“ rückt. Die Organisation, die aus selbst Ausgewanderten besteht, behauptet, „kein Geld und keine Vorteile jeglicher Art von staatlichen Stellen oder Personen erhalten“ zu haben. Tom J. Wellbrock vertritt bei apolut die Auffassung, „Moya Rossiya“ habe nichts begangen, was eine YouTube-Löschung rechtfertigt hätte. Er bringt ein interessantes Argument, warum man der Beratung für Auswanderungswillige keine Steine in den Weg legen sollte: „Da diese Menschen oftmals ohnehin die verhassten ‚Putin-Versteher‘ sind, wäre es – zynisch ausgedrückt – eine Win-win-Situation, wenn diese kritischen Quälgeister Deutschland verließen.“
Keine Allianz fürs Leben
Als weiterer Nachtrag aus dem April sei erwähnt, dass sich die Allianz-Versicherung von einer Generalvertreterin getrennt hat. Anlass soll gewesen sein, dass die Frau aus dem Raum Rostock auf ihrem privaten Instagram-Account (nicht dem der Agentur) ein Video gepostet hat, das von Eric Engelhardt stammt, einem Funktionär der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative. Engelhardt vertritt dort die Position, dass junge Leute in Ostdeutschland „rechts“ seien und Simson-Moped führen statt „auf dem Lastenfahrrad zum nächsten Ökomarkt“. Er appelliert: „Sei stolz auf deine Heimat“. Die Versicherungsvertreterin habe nunmehr keinen Zugriff mehr auf Kundendaten, wie der NDR berichtet. Dass sie in der Vergangenheit mal bei der mecklenburg-vorpommerschen Landtagsfraktion der NPD gearbeitet und für diese Partei auch für den Rostocker Stadtrat kandidiert hatte, war bisher auf Seiten des Versicherungskonzerns offenbar kein Problem.
Und so endet der allwöchentliche Überblick des Cancelns, Framens, Empörens, Strafens, Umerziehens, Ausstoßens, Zensierens, Denunzierens, Entlassens, Einschüchterns, Moralisierens, Politisierens, Umwälzens und Kulturkämpfens. Bis nächste Woche!
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