Zuerst die schlechte Nachricht: Auch demokratische Systeme können in den Autoritarismus abrutschen, und das geht oft schneller, als man denkt. Die gute Nachricht: Irgendwann wird man alle Potentaten und usurpatorischen Regime, die sich mit Gewalt an die Macht geputscht oder dieselbe auf dem Wege von Wahlen errungen haben, wieder los, auch wenn es manchmal ziemlich lange dauern kann.
Umstürze, Revolten, Revolutionen, „Wenden“, verlaufen sie nun friedlich oder münden sie in blutige Repression und (Bürger-)Krieg, waren meist vorhersehbar. Sie stehen am Ende einer Phase gesellschaftlicher Erschöpfung, in der die Herrscherkaste mehr und mehr „Kredit“ verloren hat. Ihr Machtanspruch büßt an Glaubwürdigkeit ein und verliert seine Legitimation. Oft wird versucht, schwindende Legitimation durch Repression zu stabilisieren, zuweilen Schwäche durch außenpolitische Abenteuer zu kaschieren. Doch diese Strategie verspricht in der Regel nur einen Zeitgewinn. Wenn ein Gewaltregime oder Alleinherrscher wirklich Schwäche zeigt und bereit ist, Zugeständnisse zu machen, ist das Ende oft nicht weit.
Es entspricht einem geläufigen Muster, dass spätere Usurpatoren zuerst mit großem Elan und oft ebenso großer Unterstützung durch die Bevölkerung ans Werk gehen, dass es ihnen anfänglich durchaus gelingen mag, ökonomische und soziale Probleme erfolgreich anzugehen. In prekären Zeiten kann das Versprechen, mit harter Hand durchzugreifen, verfangen, auch bei Menschen, die autoritären Herrschaftsmustern aus gutem Grund mit großer Skepsis gegenüberstehen. Aus dieser Skepsis speiste sich der massive Widerstand gegen die „Notstandsgesetze“ zu Ende der sechziger Jahre, heute schwer vorstellbar.
Irgendwann siegt blanker Materialismus
Auch die Nazis konnten „Erfolge“ vorweisen, wenngleich diese mit waghalsigen Wechseln auf die Zukunft und später mit Krieg teuer erkauft worden waren. Das Regime hatte zudem aus der Hungerkatastrophe zum Ende des Ersten Weltkrieges gelernt und sichergestellt, dass bis fast zuletzt ein, wenn auch rudimentärer, Lebensstandard gesichert war. Dafür wurden die unterworfenen Nationen umso rücksichtsloser ausgebeutet.
Ähnliches gilt für den Sowjetkommunismus, dessen „Errungenschaften“ etwa auf dem Gebiet der Schwerindustrie (und anfangs auch in der Kunst), selbst von westlichen Eliten hymnisch begrüßt worden waren. Die Macht der Kommunisten in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen beruhte auf der Macht sowjetischer Bajonette, wobei es zumindest in der frühen DDR so etwas wie ein Aufbruchsgefühl gab, die Vision eines besseren Deutschlands nach der Nazi-Barbarei. Diese Vision endete spätestens mit dem Bau der Berliner Mauer.
„Ist the economy, stupid“ („Es ist die Wirtschaft, Dummchen“), sagte der frühere US-Präsident Bill Clinton. Seine zeitlose Analyse lässt sich auch für die Entstehung von Revolutionen heranziehen, denn wirtschaftliche Probleme sind zweifellos einer der stärksten Treiber revolutionärer Mobilisierung. Es mag eine Binsenweisheit sein, doch wenn es einer Regierung, einer Junta oder einem Potentaten nicht mehr gelingt, die Mäuler der Untertanen zu stopfen, sind seine Tage gezählt. Es mag eine Zeitlang möglich sein, den darbenden Menschen Substitute anzubieten, etwa in Form eines Gefühls nationaler Exzeptionalität und Größe, doch irgendwann siegt blanker Materialismus.
Ein Funken, der die kritische Masse der Unzufriedenen zur Explosion bringt
„Alle Revolutionen kommen aus dem Magen“, sagte Napoleon Bonaparte. Eingedenk dieser Erkenntnis wurden und werden die wirtschaftlichen Verheerungen zuerst der Finanzkrise und jetzt der Corona-Epidemie mit Billionen Euro und Dollar frisch gedruckten Geldes „abgefedert“, auch dies ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft, für den die heute noch Regierenden wohl keine Verantwortung mehr übernehmen müssen.
Die Implosion des Kommunismus Ende der 1980er Jahre war vor allem Folge der völligen ökonomischen Unzulänglichkeit sozialistischer Planwirtschaft. Der gesamte frühere Ostblock stand damals wirtschaftlich am Abgrund, allen voran die Sowjetunion, der infolge des Wettrüstens, des endlosen Krieges in Afghanistan und der unentschiedenen Perestroika-Reformen das Wasser bis zum Hals stand. Ganz anders steht heute China da, wo es der kommunistischen Partei gelungen ist, ihren Herrschaftsanspruch zu sichern, durch eine Trias aus florierender Wirtschaft, nationaler „Grandeur“ und, notabene, Repression. Da spielt es keine Rolle, wie ideologisch ausgehöhlt dieser als räuberische Staatskapitalismus daher kommende „Kommunismus“ oder „Sozialismus“ sein mag.
Natürlich spielen noch andere als nur ökonomische Faktoren eine Rolle für die Frage, ob und wann sich die Volksmassen erheben. Es braucht Strukturen wie in Polen die Gewerkschaft Solidarnosc oder in der früheren DDR die unter dem Dach der Kirche agierenden Widerstandsgruppen, es braucht charismatische Köpfe und es braucht Symbole, die komplexe Forderungen und politische Programme allgemein verständlich auf den Punkt bringen und Emotionen wecken. Dann fehlt nur noch das Momentum, ein Funken, der die kritische Masse der Unzufriedenen, die bis zu diesem Zeitpunkt noch die Hand in der Tasche geballt hatten, zur Explosion bringt.
Der Bauch ist noch zu voll
Doch die „Massen“ sind träge, der Volkszorn schwer entflammbar. Erst wenn Millionen von Menschen wirtschaftlich in Not geraten, erst wenn die Untaten und Versäumnisse einer Regierung, die inneren Widersprüche einer Ideologie allzu offensichtlich werden, wenn die Angst vor Repression weicht und zur rechten Zeit die richtigen Leute auf der Bildfläche erscheinen, kann der Sturm losbrechen. Das kann Jahre oder Jahrzehnte dauern. Wenn es schneller gehen soll, empfiehlt sich eine Palastrevolution oder ein Staatsstreich wie die sowjetische Oktoberrevolution, die entgegen dem Propagandamärchen der den Petersburger Winterpalast stürmenden Volksmassen keine echte Volkserhebung war, sondern die Machtergreifung einer kleinen, radikalen Minderheit, die sich ironischerweise Bolschewiki – „Mehrheit“ – nannte.
Wenn schließlich zehntausende, hunderttausende von Menschen die Straßen fluten, geht oft alles ganz schnell, verschwinden zementierte Regime quasi über Nacht. In Deutschland mit seiner überalterten Bevölkerung, seinen obrigkeitsstaatlichen Traditionen, die heute vor allem von Links tradiert werden, sowie einem überbordenden Sicherheitsdenken liegt die Latte für solche Ereignisse hoch. Einstweilen ist das „revolutionäre“ Potenzial überschaubar und politisch wie medial eingehegt. Vergleiche mit der Endzeit der DDR entsprechen eher einem Wunschdenken als der Realität.
Weitere Teile dieser Reihe:
Die EDSA-Revolution auf den Philippinen
Solidarność
Die Nelkenrevolution
Der arabische Frühling
Die „Besen“-Revolution in Burkina Faso
Die Frauen-Revolution im Sudan
Die „deutsche“ Wende