Georg Etscheit / 10.04.2021 / 15:00 / Foto: Sharon Pruitt / 49 / Seite ausdrucken

Anleitung zum Ungehorsam (8): Wann ist es bei uns so weit?

Zuerst die schlechte Nachricht: Auch demokratische Systeme können in den Autoritarismus abrutschen, und das geht oft schneller, als man denkt. Die gute Nachricht: Irgendwann wird man alle Potentaten und usurpatorischen Regime, die sich mit Gewalt an die Macht geputscht oder dieselbe auf dem Wege von Wahlen errungen haben, wieder los, auch wenn es manchmal ziemlich lange dauern kann.

Umstürze, Revolten, Revolutionen, „Wenden“, verlaufen sie nun friedlich oder münden sie in blutige Repression und (Bürger-)Krieg, waren meist vorhersehbar. Sie stehen am Ende einer Phase gesellschaftlicher Erschöpfung, in der die Herrscherkaste mehr und mehr „Kredit“ verloren hat. Ihr Machtanspruch büßt an Glaubwürdigkeit ein und verliert seine Legitimation. Oft wird versucht, schwindende Legitimation durch Repression zu stabilisieren, zuweilen Schwäche durch außenpolitische Abenteuer zu kaschieren. Doch diese Strategie verspricht in der Regel nur einen Zeitgewinn. Wenn ein Gewaltregime oder Alleinherrscher wirklich Schwäche zeigt und bereit ist, Zugeständnisse zu machen, ist das Ende oft nicht weit.

Es entspricht einem geläufigen Muster, dass spätere Usurpatoren zuerst mit großem Elan und oft ebenso großer Unterstützung durch die Bevölkerung ans Werk gehen, dass es ihnen anfänglich durchaus gelingen mag, ökonomische und soziale Probleme erfolgreich anzugehen. In prekären Zeiten kann das Versprechen, mit harter Hand durchzugreifen, verfangen, auch bei Menschen, die autoritären Herrschaftsmustern aus gutem Grund mit großer Skepsis gegenüberstehen. Aus dieser Skepsis speiste sich der massive Widerstand gegen die „Notstandsgesetze“ zu Ende der sechziger Jahre, heute schwer vorstellbar.

Irgendwann siegt blanker Materialismus

Auch die Nazis konnten „Erfolge“ vorweisen, wenngleich diese mit waghalsigen Wechseln auf die Zukunft und später mit Krieg teuer erkauft worden waren. Das Regime hatte zudem aus der Hungerkatastrophe zum Ende des Ersten Weltkrieges gelernt und sichergestellt, dass bis fast zuletzt ein, wenn auch rudimentärer, Lebensstandard gesichert war. Dafür wurden die unterworfenen Nationen umso rücksichtsloser ausgebeutet.

Ähnliches gilt für den Sowjetkommunismus, dessen „Errungenschaften“ etwa auf dem Gebiet der Schwerindustrie (und anfangs auch in der Kunst), selbst von westlichen Eliten hymnisch begrüßt worden waren. Die Macht der Kommunisten in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen beruhte auf der Macht sowjetischer Bajonette, wobei es zumindest in der frühen DDR so etwas wie ein Aufbruchsgefühl gab, die Vision eines besseren Deutschlands nach der Nazi-Barbarei. Diese Vision endete spätestens mit dem Bau der Berliner Mauer.

„Ist the economy, stupid“ („Es ist die Wirtschaft, Dummchen“), sagte der frühere US-Präsident Bill Clinton. Seine zeitlose Analyse lässt sich auch für die Entstehung von Revolutionen heranziehen, denn wirtschaftliche Probleme sind zweifellos einer der stärksten Treiber revolutionärer Mobilisierung. Es mag eine Binsenweisheit sein, doch wenn es einer Regierung, einer Junta oder einem Potentaten nicht mehr gelingt, die Mäuler der Untertanen zu stopfen, sind seine Tage gezählt. Es mag eine Zeitlang möglich sein, den darbenden Menschen Substitute anzubieten, etwa in Form eines Gefühls nationaler Exzeptionalität und Größe, doch irgendwann siegt blanker Materialismus.

Ein Funken, der die kritische Masse der Unzufriedenen zur Explosion bringt

„Alle Revolutionen kommen aus dem Magen“, sagte Napoleon Bonaparte. Eingedenk dieser Erkenntnis wurden und werden die wirtschaftlichen Verheerungen zuerst der Finanzkrise und jetzt der Corona-Epidemie mit Billionen Euro und Dollar frisch gedruckten Geldes „abgefedert“, auch dies ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft, für den die heute noch Regierenden wohl keine Verantwortung mehr übernehmen müssen.

Die Implosion des Kommunismus Ende der 1980er Jahre war vor allem Folge der völligen ökonomischen Unzulänglichkeit sozialistischer Planwirtschaft. Der gesamte frühere Ostblock stand damals wirtschaftlich am Abgrund, allen voran die Sowjetunion, der infolge des Wettrüstens, des endlosen Krieges in Afghanistan und der unentschiedenen Perestroika-Reformen das Wasser bis zum Hals stand. Ganz anders steht heute China da, wo es der kommunistischen Partei gelungen ist, ihren Herrschaftsanspruch zu sichern, durch eine Trias aus florierender Wirtschaft, nationaler „Grandeur“ und, notabene, Repression. Da spielt es keine Rolle, wie ideologisch ausgehöhlt dieser als räuberische Staatskapitalismus daher kommende „Kommunismus“ oder „Sozialismus“ sein mag.

Natürlich spielen noch andere als nur ökonomische Faktoren eine Rolle für die Frage, ob und wann sich die Volksmassen erheben. Es braucht Strukturen wie in Polen die Gewerkschaft Solidarnosc oder in der früheren DDR die unter dem Dach der Kirche agierenden Widerstandsgruppen, es braucht charismatische Köpfe und es braucht Symbole, die komplexe Forderungen und politische Programme allgemein verständlich auf den Punkt bringen und Emotionen wecken. Dann fehlt nur noch das Momentum, ein Funken, der die kritische Masse der Unzufriedenen, die bis zu diesem Zeitpunkt noch die Hand in der Tasche geballt hatten, zur Explosion bringt.

Der Bauch ist noch zu voll

Doch die „Massen“ sind träge, der Volkszorn schwer entflammbar. Erst wenn Millionen von Menschen wirtschaftlich in Not geraten, erst wenn die Untaten und Versäumnisse einer Regierung, die inneren Widersprüche einer Ideologie allzu offensichtlich werden, wenn die Angst vor Repression weicht und zur rechten Zeit die richtigen Leute auf der Bildfläche erscheinen, kann der Sturm losbrechen. Das kann Jahre oder Jahrzehnte dauern. Wenn es schneller gehen soll, empfiehlt sich eine Palastrevolution oder ein Staatsstreich wie die sowjetische Oktoberrevolution, die entgegen dem Propagandamärchen der den Petersburger Winterpalast stürmenden Volksmassen keine echte Volkserhebung war, sondern die Machtergreifung einer kleinen, radikalen Minderheit, die sich ironischerweise Bolschewiki – „Mehrheit“ – nannte.

Wenn schließlich zehntausende, hunderttausende von Menschen die Straßen fluten, geht oft alles ganz schnell, verschwinden zementierte Regime quasi über Nacht. In Deutschland mit seiner überalterten Bevölkerung, seinen obrigkeitsstaatlichen Traditionen, die heute vor allem von Links tradiert werden, sowie einem überbordenden Sicherheitsdenken liegt die Latte für solche Ereignisse hoch. Einstweilen ist das „revolutionäre“ Potenzial überschaubar und politisch wie medial eingehegt. Vergleiche mit der Endzeit der DDR entsprechen eher einem Wunschdenken als der Realität. 


Weitere Teile dieser Reihe:

Die EDSA-Revolution auf den Philippinen

Solidarność

Die Nelkenrevolution

Der arabische Frühling

Die „Besen“-Revolution in Burkina Faso

Die Frauen-Revolution im Sudan

Die „deutsche“ Wende

Foto: Sharon Pruitt Flickr CC BY 2.0 via Wikimedia

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G. Böhm / 10.04.2021

Tja wann, dies scheint die Frage. Doch eine solche ist sehr einseitig, wichtiger wäre die nach dem Danach. - Als Auslöser können weitere oder größere Phobien in Betracht kommen. Auf einen möglichen Umstand wurde aus der Erfahrung heraus schon hingewiesen, immer dann, wenn die Divergenz zwischen eigenen Anspruch des System und der tatsächlichen Realität immer größer wird, verstärkt sich das Gefahrenpotential. Auch Kleinigkeiten können eine Lawine ins Rollen bringen. So ist z. B., bis dato im Corona-Krieg völlig untergegangen, daß der Preis für Dieselkraftstoff im Zeitraum November bis März um über 30 Prozent nach oben geschnellt ist. Was, wenn dieser Sprung die allgemeine Entwicklung nur vorweg genommen hat. Wie eine Lebenserfahrung besagt, nach dem Rausch kommt zumeist die Ernüchterung. Für die abgehobenen D-Länder könnte in Bälde das mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerkes aller 90 Minuten ablaufende Eintreffen von blitzeplank geputzten langen Zugeinheiten aus dem Fernen Osten im Rhein-Main-Gebiet eine solche Ernüchterung bewirken. Im Rahmen des OBOR-Projektes ist dieses Szenario bereits festgehalten. Einen deutschen Napoleon kann man wohl eher ausschließen. Man wird sich insgesamt in Geduld üben müssen. Die Zeit bis zum Zeitpunkt X, könnte man damit verbringen, das neue Demokratie-Gebäude architektonisch zu entwerfen. Gebäude haben die Eigenschaft, die Zeiten länger zu überdauern als so manche Polit-Ära. Von der Merkel-Ära werden wohl Schall und Rauch sich schnell verflüchtigen und eine Trümmer-Gesellschaft übrigbleiben. Andererseits, der Mensch vergißt sehr schnell, insbesondere seine Leidenszeit, dies ist gut so und sichert ihm das Überleben. Doch im Kriege entscheidet nicht die vorhersehbare Manöver, sondern die jähe Wendung in Taktik und Ausführung, so ist es bei Clausewitz zu lesen. ’ And above all: Nothing can be taken for granted, everything is possible.’

G. Kramler / 10.04.2021

“Wenn schließlich zehntausende, hunderttausende von Menschen die Straßen fluten…” Das wird nicht passieren, denn um das zu verhindern werden Ausgangssperren unter Vorwänden verhängt.

Volker Kleinophorst / 10.04.2021

Hat man gefickt eingeschädelt, dass in Deutschland ein Umsturz aus hygienischen Gründen nicht zulässig ist.

Heinrich Moser / 10.04.2021

Hätte Honecker einen “Nürnberger Prozess” bekommen und wäre er anschließend wie die Naziverbrecher gehängt worden, würde heute keine Mauerschützenpartei im Parlament sitzen und kein Politiker würde es wagen, uns die Polizei auf den Hals zu hetzen.

Siegfried Ulrich / 10.04.2021

Gegen zehntausende Menschen auf den Straßen wurden schon Wasserwerfer eingesetzt,  einzelne Teilnehmer werden regelmäßig von drei Polizisten zu Boden gebracht ( Berlin, Kassel…) - gegen viele Hunderttausendee würden dann zuerst Gummigeschosse abgefeuert werden, aber das wird nicht dabei bleiben. So viel traue ich unseren Herrschermenschen mittlerweile schon zu, denn sie stellen sich nicht einer faktenbasierten Diskussion und führen das Land in den Untergang. Alles schon mal in Deutschland geschehen…

Peter Sticherling / 10.04.2021

Die Supermärkte sind geöffnet, Die Stromversorgung klappt und die Glotze läuft.  Solange die Deutschen ausreichend zu essen und zu trinken haben und sich in den Supermärkten alles kaufen können, passiert hier überhaupt nichts. Außerdem lähmt die Angst vor dem Coronatod jegliche Aktivität. Die Deutschen sind zudem ,politisch träge und faul. Sie entziehen zwar, wie es aussieht, der CDU ihre Gunst aber dafür favorisieren sie die Grünen und merken garnicht, dass es unter denen noch viel katastrophaler wird als es jetzt schon ist.

Dr. med. Jesko Matthes / 10.04.2021

Deutschland ist hohl, mutlos, depressiv, zutiefst gezeichnet vom Trauma des Mitmachens und Zuspätbegreifens, voll bestürzender innerer Leere, von ihr gehetzt zu dessen Wiederholung verdammt. - Deutschland explodiert nicht. Es implodiert. Der entsprechende Druck wird also wieder von außen kommen. Die Fragen sind nur noch: welcher Art, wie plötzlich, wie endgültig.

Wolf Hagen / 10.04.2021

Revolutionen, Herr Etscheit sind immer so eine Sache, denn sie setzten zumindest zeitweilig Gesetze und Traditionen außer Kraft. Das ist dem Wesen der echten Deutschen aber eher fremd, ähnlich wie dem Chinesen. Natürlich kann es auch in Deutschland schnell gehen, wenn der Bauch nicht mehr voll ist, aber Sie Herr Etscheit, übersehen das Entscheidende, nämlich dass die Deutschen aus ganz anderen Gründen auf die sprichwörtlichen Barrikaden gegangen sind. Und zwar egal, ob im Jahre 9 gegen Rom und dessen Machthaber Varus, oder 1848 gegen die Restauration, wobei da auch Hunger eine Rolle spielte, oder 1989 gegen den Kommunismus und die SED. Immer gingen deutschen Revolutionen eine massive und langandauernde Beschneidung der Freiheit voraus. Selbst 1918/19 spielte die Unfähigkeit der Herrschenden für Reformen, nach dem Schock des verlorenen WK I, eine Rolle und auch die Machtergreifung des elenden Österreichers 1933, wäre ohne die massiven Einschränkungen der deutschen Souveränität, ergo der deutschen Freiheit, durch den Versailler Vertrag, nie möglich gewesen. Man muss also vorsichtig sein, wenn man den Deutschen unterstellt, sie würden nicht auf die Barrikaden gehen, solange Bratwurst, Kartoffeln und Bier noch erschwinglich sind. Dieser Denkfehler haben von Varus bis Honecker viele deutsche Herrscher mit dem Kopf, oder wenigstens mit dem Verlust von Amt und Würden bezahlt. Auch für die individuelle Freiheit geht der Deutsche auf die Barrikaden, kommt noch Hunger dazu, dann um so sicherer. Für beides sind wir aktuell auf dem besten Weg.

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