Eine Tollwutinfektion ist fast immer tödlich, die wenigen Überlebenden behalten in der Regel schwere Gehirnschäden. Deswegen wird bei Infektionsverdacht mit einer Kombination aus Aktiv- und Passivimpfung behandelt. Letztere ist die Injektion von Antikörpern gegen das Rabiesvirus, den Erreger der Tollwut. Der Körper bildet dabei nicht mit seinem Immunsystem eigene Antikörper gegen das Virus, sondern erhält fremde Antikörper von außen. Die Antikörper verteilen sich im Blut, binden die Virusproteine der Viruspartikel und hindern diese an einer Infektion von Zellen. Ob sie auch an Virusproteine auf der Oberfläche infizierter Zellen binden und dort eine Immunantwort auslösen, ist nicht bekannt, aber auch nicht widerlegt. Es gibt auch weitere Passivimpfungen, beispielsweise gegen Tetanus oder zur Behandlung von Vergiftungen mit Tiergiften wie Schlangen- oder Skorpiongift.
Gegen die selten tödlich verlaufende COVID-Pneumonie gibt es keine wirksame Aktivimmunisierung, für die bisher zugelassenen Impfstoffe ist nur eine Wirkung auf leichte Grippesymptome nachgewiesen. Daher besteht formal die Motivation, einen Passivimpfstoff zu entwickeln, auch wenn die klinische Notwendigkeit angesichts der Eigenschaften der COVID-Todesopfer fehlt, dazu mehr weiter unten im Text.
Im Sommer wurde in der Wissenschaftszeitschrift Nature auch ein Bericht über einen Passivimpfstoff gegen SARS-CoV-2 veröffentlicht. Dieser wird gerade von AstraZeneca klinisch erprobt und ist nun als “Hoffnungsträger im Kampf gegen COVID” in aller Munde. Was hat es mit dieser Passivimpfung auf sich?
Der AZD7442 genannte Passivimpfstoff, der sich derzeit in der klinischen Erprobung befindet, die die Ergebnisse für seine Zulassung erzeugen soll, besteht aus zwei humanen monoklonalen Antikörpern (MAK) gegen die Rezeptor-bindende Domäne des SARS-CoV-2 Spikeproteins. Diese wurden durch den Austausch einiger Aminosäuren chemisch modifiziert, um ihre Halbwertszeit im Organismus des Impflings zu verlängern und eine wichtige Nebenwirkung der Passivimmunisierung, die Infektionsverstärkung durch Impfung, zu verhindern. Die Ergebnisse der oben erwähnten Nature-Arbeit sind ermutigend. Die beiden MAK hemmen die Virusreplikation von SARS-CoV-2 in Tiermodellen von COVID (Mäusen und Affen). Das Tempo der vorklinischen Entwicklung der Antikörper ist sehr beeindruckend und die Nature-Arbeit wurde erstklassig durchgeführt und dargestellt.
Nun muss sich in der klinischen Phase-III-Studie zeigen, ob der Antikörpermix im Menschen wirklich wirksam und sicher ist. Beides wissen wir noch nicht. Die Studie untersucht den Impfstoff im Vergleich gegen Placebo, ein Vergleichsdesign, das hier angemessen ist, auf eine Wirkung bei COVID-Symptomen mit positivem PCR-Nachweis, egal, wie schwer die Symptome sind. Sekundär untersucht sie auch die Wirkung bei schwerer Ausprägung von COVID (mit PCR-Nachweis), aber nicht auf den Tod durch COVID. Immerhin wird die Inzidenz von COVID-bedingten und sonstigen Todesfällen unter den Patienten beobachtet.
Selbstverständlich ist auch die Arzneimittelsicherheit ein primärer Endpunkt der Studie. Bei der Passivimmunisierung besteht neben der Gefahr einer allergischen Reaktion gegen die Impfung und der Gefahr von Autoimmunwirkungen auch die Gefahr der Infektionsverstärkung durch die injizierten Femdantikörper.
Dabei binden Antikörper zwar an Viruspartikel, fördern dadurch aber die Aufnahme von Viren in CD32-positive Zellen des Immunsystems und die Virusreplikation in diesen Zellen. Im Laufe eines natürlichen Infektionsgeschehens werden solche schlechten körpereigenen Antikörper bald wegselektioniert, es bleiben die wirksamen übrig.
Doch bei der Passivimmunisierung flutet man den Organismus mit fremden Antikörpern. Wenn diese sich infektionsverstärkend auswirken, verschlechtert die Passivimmunisierung die Situation des Impflings. Um das zu verhindern, wurde die Fc-Domäne der Antikörper modifiziert. Man hofft, dadurch die Aufnahme von Virus-Antiköper-Komplexen in CD32-positive Zellen, die über diese Domäne des Antikörpers erfolgt, zu reduzieren. Ob das funktioniert, wird die klinische Studie zeigen.
Die Studie hat jedoch in ihrem Design ein gravierendes Problem. Der primäre Wirksamkeitsendpunkt ist nicht die COVID-Pneumonie oder der Tod daran, sondern alle COVID-Symptome wie Fieber, Husten oder Heiserkeit. Eine Prävention von Todesfällen ist gar nicht Gegenstand der Studie, sondern nur deren Inzidenz. Immerhin ist der zweite Endpunkt die Wirksamkeit bei schwerem COVID-Verlauf. Das Design wurde so gewählt, um die kommerziellen Chancen des Impfstoffs zu wahren, da eine Wirksamkeit gegen den Tod alter Menschen eher unwahrscheinlich ist und daher das kommerzielle Risiko, dies als ersten Endpunkt zu untersuchen, viel zu hoch ist. Wenn die Studie nur beim ersten Endpunkt Wirksamkeit von AZD7442 zeigt, sollte der Impfstoff nicht zugelassen werden, denn eine Passivimmunisierung sollte man nur vornehmen, um schwere Erkrankungsverläufe zu behandeln. Damit kommen wir zur Frage der Sinnhaftigkeit der Impfung.
Das klinische Vollbild von COVID mit schwerer Grippe und Pneumonie ist eine seltene Erkrankung, die sich nur bei ca. 2–3 Prozent der Infizierten ausbildet. Es sterben daran fast nur sehr alte, multimorbide Menschen, COVID ist bei 99,5 Prozent der Toten eine natürliche Todesursache.
Warum sollte man diese Patienten nicht mit AZD7442 behandeln, wenn es wirkt? Erstens werden wir durch die Studie gar nicht erfahren, ob der Passivimpfstoff gegen den Tod schützt, bestenfalls erfahren wir, ob er gegen einen schweren Verlauf schützt. Zweitens stürben die allermeisten COVID-Opfer einige Wochen nach dem Tod durch SARS-CoV-2 sowieso an einer anderen Todesursache, wie eine Studie aus Italien gezeigt hat, die Autoren nennen dies „harvest effect”; COVID "erntet" fast nur Todeskandidaten ab, deren Leben ohnehin an seinem natürlichen Ende steht. Wenn man diese Patienten behandelt, verlängert man nur deren Leid und erzeugt hohe Gesundheitskosten; das Geld kann man nur einmal ausgeben und es fehlt dann dort, wo man es braucht, etwa bei der Krebsbehandlung junger Menschen oder der Behandlung schwerkranker Kinder.
Sollte der Passivimpfstoff sich wirklich als wirksam gegen den schweren Verlauf inklusive als wirksam zur Verhinderung des Todes (wofür weitere Studien benötigt werden) und als pharmakologisch sicher erweisen, was nur nach mindestens 2 bis 3 Jahre langen Toxizitätsstudien festgestellt werden kann, sollte er bei jungen Patienten mit lebensbedrohlicher COVID-Pneumonie eingesetzt werden. Doch eine solche Wirkung halte ich für unwahrscheinlich, und hier kommen wir zum wichtigsten Punkt.
Bisher gibt es gegen virale Grippeerreger oder virale Erreger grippaler Infekte keine Passivimpfung, weil der Tod durch diese Erreger selten ist und ihre Mutationsrate so hoch ist, dass keine Aussicht auf Wirksamkeit besteht. SARS-CoV-2 gibt es nicht mehr, wir haben es schon mit seinen evolutionären Nachfahren zu tun. Zwar mutieren Coronaviren langsamer als Influenzaviren, doch ist es angesichts der Mutationsrate und der Eigenschaften der COVID-Toten-Population sehr unwahrscheinlich, dass die Passivimmunisierung bei SARS-CoV so erfolgreich wird wie bei Tollwut oder Wundstarrkrampf.
Dr. Jochen Ziegler ist Arzt und Biochemiker. Er arbeitet als Berater für private Anbieter des Gesundheitssystems und lebt mit seiner Familie in Hamburg.