Von Zeit zu Zeit tut es gut, sich zurückzulehnen und die Geschehnisse von außen zu betrachten wie ein Unbeteiligter. Zugegeben, das gelingt im Alltag einer Arztpraxis selten, der Zeitdruck ist groß, und durch zusätzliche Aufgaben in erheblichem Maß, zum Beispiel Abstriche und Impfungen und deren akribische Dokumentation, wird dieser Alltag leistungsmäßig weiter verdichtet, wie eine schöne euphemistische Formulierung aus der Wirtschaft bekanntlich lautet. Dennoch versuche ich es immer wieder, nicht das Verdichten, sondern das Abstand gewinnen, mehr als einskommafünf bis zwei Meter, mal abends, mal in der Mittagspause. Ich frage mich: Was geschieht hier eigentlich? Dass wir es offenbar mit einer Krise ohne Krisenstab und einer Pandemie ohne Epidemiologen zu tun haben, war mir bereits klar, und ich habe darauf hingewiesen. Der öffentliche Fachberater Drosten ist Virologe, der Leiter des RKI, Lothar Wieler, Tierarzt und Fachtierarzt für Mikrobiologie. Und da ich selbst nur Chirurg, Notarzt und Hausarzt bin, also auf die Expertise der Fachleute dringend angewiesen, stelle ich mir das angemessene Management einer Pandemie anders vor. Ganz anders.
Bei der Elbeflut 2013 rief der Landkreis Lüneburg den Katastrophenfall aus und richtete sofort einen Krisenstab ein; vom Deichbauexperten über die Leitungen von Feuerwehr und Rettungsdienst bis hin zur Versorgungsstelle, die für belegte Brote an den Einsatzstellen sorgte, waren alle Fachbereiche vertreten, auch die zivil-militärische Zusammenarbeit und sogar medizinische Fachberater wurden hinzugezogen. Einmal, ausgerechnet für das Thema Impfungen, war ich der Fachberater. Unser aller Hauptaufgabe war das Beschaffen stichhaltiger Informationen, nicht das Entscheiden selbst. Und genau an der Stelle lehne ich mich heute immer weiter zurück. Das Wirrwarr in Sachen stichhaltiger Informationen hat inzwischen selbst pandemische Ausmaße angenommen, die Entscheidungsketten sind verzettelt und offensichtlich zerstritten, treffen am Ende widersprüchliche Entscheidungen, und man fragt sich, von welchen Fachberatern ihre Entscheidungsträger „gebrieft“ werden. Dass dabei auch jene absurden Situationen herauskommen, in denen ein Minister gegen die Expertise seiner Fachberater entscheidet und unabsehbare medizinische und soziale Folgen billigend in Kauf nimmt, wundert mich dabei nicht. Die Ständige Impfkommission (STIKO) ist ein Organ des Robert-Koch-Instituts, der obersten nationalen Gesundheitsdienststelle unterhalb des Bundesgesundheitsministeriums, und das Paul-Ehrlich-Institut jene Abteilung, die für die Impfstoffsicherheit verantwortlich ist. Die Entscheidung des Ministers gegen beide ist erlaubt, denn er entscheidet. Gerade dann aber, wenn er seinen Fachberatern entweder nicht richtig zuhört oder ihren Rat absichtlich unbeachtet lässt, kann von einem an wissenschaftlichen Kriterien orientierten Handeln keine Rede mehr sein, und die Verantwortung trägt er allein. Seine Entscheidung muss also politischer Natur sein, denn der Minister scheint mehr auf sich selbst zu hören als auf die ihm zur Seite gestellten Experten. Also lehne ich mich noch weiter zurück. Ich aktualisiere noch rasch meinen Wissensbestand des täglichen Corona-Chaos, schalte den Fernseher aus – und lese Richard Feynman:
Probleme des menschlichen Zusammenlebens sind zudem sehr viel schwieriger zu lösen als wissenschaftliche; wir kommen meist überhaupt zu keinem Ergebnis, wenn wir über sie nachdenken. Ich meine, ein Naturwissenschaftler ist bei der Betrachtung nicht-wissenschaftlicher Probleme genau so dumm wie jeder andere Zeitgenosse. Wenn er über ein nicht-wissenschaftliches Thema spricht, werden seine Ausführungen ebenso naiv klingen wie die irgendeines Laien.
Feynman ruft hier nicht etwa dazu auf, Wissenschaftler sollten sich aus gesellschaftlichen Problemen heraushalten; er mahnt zunächst dazu, sich als Wissenschaftler nicht für einen Politik-Experten zu halten (und implizit umgekehrt), vor allem aber streng zu unterscheiden, ob die Rede von einem wissenschaftlichen oder nicht-wissenschaftlichen Thema ist, weil es sonst zu einer unentwirrbaren und darüber hinaus unentschuldbaren Interessenverflechtung kommt, bei der sich alle Seiten ebenso heillos zerstreiten wie autoritär verhalten, in beiden Fällen bis auf die Knochen blamieren und – so oder so – schwersten Schaden anrichten können. Feynman fährt fort:
Wissenschaftliche Kenntnisse verleihen die Macht, Gutes oder Böses zu tun; in den Kenntnissen ist aber keine Gebrauchsanweisung enthalten, wie man sie anwenden soll. Solche Macht hat offensichtlichen Wert, selbst wenn die Art ihrer Anwendung zur Verneinung ihrer selbst führen mag.
Viel Erfahrung mit Unwissenheit
Wie abgründig kann der stets zu Clownerien aufgelegte Feynman in einem einzigen Halbsatz sein: …selbst wenn die Art ihrer Anwendung zur Verneinung ihrer selbst führen mag. – Die Art der Anwendung von Wissenschaft ist also eine Form der Machtausübung, und diese kann sich selbst ad absurdum führen – Feynman, der Mitarbeiter an der ersten Atombombe, warnt ausdrücklich vor diesem Entgleiten der Macht durch Wissenschaft ins Böse. Wissenschaft will nicht das Monopol auf die Wahrheit, sondern den mutigen, den bescheidenen, den staunenden Blick auf die Rätsel der Wirklichkeit, denn: Es zeigt sich, dass die Phantasie der Natur weit, weit größer ist als die Phantasie von Menschen.
Wenig später, nach einem in weiten Teilen geradezu poetischen Lob des kindlichen Staunens als Ausgangspunkt jeder Wissenschaft, kommt Feynman, der Nobelpreisträger, schließlich auf den alles entscheidenden Punkt: die Freiheit der Forschung und der Lehre, deren Wurzel und damit Fixpunkt eben nicht die Sicherheit ist, sondern der Zweifel, den es zu verteidigen gilt:
Der Wissenschaftler hat viel Erfahrung mit Unwissenheit, Zweifel und Unsicherheit. Ich glaube, dass diese Erfahrung von größter Bedeutung ist. Wenn ein Forscher die Antwort auf ein Problem nicht weiß, ist er unwissend. Wenn er eine Ahnung davon hat, wie das Ergebnis aussehen konnte, ist er unsicher. Und wenn er verdammt sicher über das Ergebnis ist, schwebt er immer noch in Zweifeln. Wir haben herausgefunden, dass die Anerkennung unserer Unwissenheit und die Erlaubnis zu zweifeln von höchster Wichtigkeit für jeden Fortschritt ist. Wissenschaftliche Erkenntnis ist ein Komplex von Feststellungen verschiedenen Sicherheitsgrads - manche sind sehr unsicher, manche wahrscheinlich, keine absolut sicher. Nun, wir Wissenschaftler sind daran gewohnt und wir nehmen es als selbstverständlich hin, dass es durchaus tragbar ist, unsicher zu sein -, d. h., dass es möglich ist, zu leben ohne sicheres Wissen. Aber ich weiß nicht, ob sich jedermann die Richtigkeit dieser Aussage vergegenwärtigt. Unsere Freiheit zu zweifeln, wurde in einem Kampf gegen die Autorität in der Frühzeit der Wissenschaft geboren. Es war ein sehr tiefer und heftiger Kampf. Erlaubt uns zu fragen, zu zweifeln, das ist alles; verlangt nicht, dass wir sicher sind! Ich glaube insbesondere, dass es wichtig ist, die Bedeutung dieses Kampfes nicht zu vergessen, um nicht zu verlieren, was wir gewonnen haben. Hierin besteht ein Teil unserer Verantwortung gegenüber der menschlichen Gemeinschaft.
Es ist an der Zeit, diesen Kampf gegen die Autorität, die die Freiheit zu zweifeln und damit jegliche Wissenschaft unterbinden will, erneut aufzunehmen – und vehementer als seit Jahrzehnten, für den Erhalt unserer menschlichen Gemeinschaft.
„Der Wert der Wissenschaft“, nachzulesen auch als Anhang in „Kümmert Sie, was andere Leute denken?”︁, 244 S., 41 Abb., Piper-Verlag, München 1991; derzeit nur antiquarisch zu beziehen.