Lieber Jesko Matthes , im August 1968 war ich (20 jährig) in Prag : internationales workcamp für Studenten, LPG Horomerice . Zwiebelernte auf riesigen staubigen Äckern, auch von Sauerkirschen in Plantagen. Gemeinsames Essen mit allen Kolchosarbeitern im großen primitiven Zelt an rauhen Holztischen und -bänken. In Erinnerung ist der rel. eklige Geschmack von sehr fettem Schweinefleisch und ebensolcher Soße - Gewürze schienen Mangelware - und matschigen Kartoffeln, Knödeln, Nudeln… Aber ein Teil dieses Kollektivs, dieser Großfamilie zu sein, war schon eine besondere Erfahrung. Und natürlich unsere Gruppe : Milan Smid aus Prag, Leute aus England, Frankreich, Italien, Österreich, Deutschland. Wir waren begeistert, Prag in dieser so hoffnungsvollen Zeit erleben zu können. Überall in der Stadt Menschengruppen miteinander im Gespräch, eine zierliche Oma, die spontan Freiheitslieder vorsang, Ausflüge mit den schrecklich furchteinflößenden Riesenrössern (Lokomotiven) der tschechischen Dampfbahn übers Land nach Tabor, sowjetischen Soldaten (aus Zentralasien) im Ernteeinsatz auf der Kolchose, dann die Kundgebung von Dubcek und Tito auf der Prager Burg mit der riesigen Menschenmenge. So viel Begeisterung, Hoffnung ! Wir glaubten - kindlich - die Welt würde besser. - Wenige Tage nach dem Ende des camps - wieder Zuhause - konnte ich am Radio life miterleben, wie die sowjetischen Panzer durch Prag rollten , wie der Radiosender die Übernahme erwartete, weiter berichtete , bis die Verbindung abbrach. Da konnte man nur noch weinen. - wie auch - vor Freude - als nach der Wende die Prager Kirchenglocken zur Befreiung läuteten . Momente, die sich absolut ins Erleben eingegraben haben. - Dank an Milan Kundera , der die Erinnerung an diese Zeit festgehalten hat.
„Aus dem Leben steigst Du leise – die Seele zieht auf stille Reise – Fleisch vergeht, Geist wird sich heben – das Sein wird sich dem Tod ergeben“. Sehr geehrter Herr Dr. Matthes, mit den Worten RAMMSTEINS erlaube ich mir danke zu sagen für ihren Nachruf auf Milan Kundera.
Sehr geehrter Herr Matthes, danke für diesen schönen Artikel! Gerne habe ich auch alle Links geöffnet und viel Freude dabei gehabt. Ein sehr unterhaltsamer Beitrag.
Ich schätze an Kundera vor allem die Berichte über die “Befreiung von den Deutschen” in Prag 1945. Das Erzählen von deutschen Frauen und Kindern, die von fanatisierten Tschechen abgemurkst wurden, ist sonst rar. Kind übers Treppengeländer gestürzt, “den braunen Fleck aus Blut und Hirn sieht man heute noch”, etc. - DANKE, das war ein anständiger Tscheche!
Korrektur: Joachim v. d. Leyen war nicht für die Lemberger Professorenmorde verantwortlich. Aber was er auch begangen haben mag, unsere Uschi wird alles wieder gut machen und alles Böse in alles Gute transformieren!
Ergänzend zu meinem Beitrag: Stanisław Lem überlebte alle Gutmenschenideologien & großen Transformationen des 20 Jahrhunderts. Seine Geschichten handeln wohl deshalb oft von Wissenschaftlern, die davon beseelt sind die Welt zu verbessern und dabei entsetzlich scheitern. Eine seiner Roboter-Geschichten handelt vom im ganzen Universum berühmten & verehrten Erfinder, technischem Genie & Küchenphilosophen Klapauzius, der das Universum zu einem Ort ewigen Glückes & Harmonie transformieren will. Sein ebenso berühmter Erfinderkollege Trurl macht sich nur über ihn lustig, ohne konstruktiv mitzuwirken. Klapauzius beginnt mit kleinen Experimenten und konstruiert kleine Versuchswesen. Die Experimente nehmen gigantische Ausmaße an und unzählbare Versuchswesen verrecken. Er weiß keinen Rat mehr und holt seinen alten Professor aus dem Grab. Der gratuliert ihm sarkastisch, dass er sich als der erfinderischste aller Schwachköpfe erwiesen hatte, der im Namen des ewigen Glückes & Harmonie Milliarden Wesen ersäuft, erschossen, verbrannt, vergast hatte. Er macht ihm klar, dass das universelle Glück zu erschaffen ein Kinderspiel ist, aber völlig sinnlos ist. Würde er denn selber als glücklicher Idiot ewig vor sich hin grinsen wollen? Der Professor erwähnt nebenbei, dass Trurl ihn schon im Vorjahr mit demselben Unsinn in seiner Grabesruhe gestört hatte. Klapauzius fragt eifrig nach. Der Professor folgert scharfsichtig: “Du der sich diebisch über den Misserfolg deines Kollegen und besten Freundes freust, willst das gesamte Universum beglücken?!” Klapauzius bewundert den Scharfsinn seines ehemaligen Lehrers und geht beglückt, beschwingt & erleichtert heim, in Vorfreude darauf seinem Freund dessen Misserfolg unter die Nase zu reiben. Die Milliarden Massenversuchswesen sind schon vergessen.
Ich erinnere mich ungefähr & solala an eine Szene aus einem seiner Novellen: Eine Künstlerin die aus dem sozialistischen Ostblock in den Westen geflohen ist macht eine Ausstellung. Ihr Gemälde stellen blaubehimmelte, blumenreiche, waldige Naturlandschaften mit glücklichen Kindern & Kühen dar, die als eine brüchige Kulisse eine schmutzige, graue, rauchige Landschaft aus Stacheldraht & Fabrikschloten verbergen. Ein Ausstellungsbesucher meint, es gibt auch im sozialistischen Osten schöne Landschaften und glückliche, spielende Kinder, die sogar echt sind. Die Banalität des Guten betrifft auch unsere Vorstellungen vom Bösen. ***** Stanisław Lem, polnischer Jude, Intelligenzquotient 180, Widerstandskämpfer gegen alle Gutmenschenideologien, genialer Autor, geboren 1921 in Lemberg (nicht nach ihm benannt), überlebte die Gutmenschenideologien des 20 Jahrhunderts, er erlebte die “Befreiung” Polens durch Stalin (Massenmorde durch die NKWD.), die “Befreiung” Polens durch Hitler, die “Befriedung” Lembergs durch Joachim Freiherr von der Leyen (1897-1945) (u. A. Lemberger Professorenmord), die erneute “Befreiung” Polens durch die Sowjetunion sowie die “Beglückung” durch die neue kommunistische Wissenschaft des Lyssenkoismus, den er als Unsinn ablehnte und deshalb beim Medizinstudium durchfiel. Ich frage mich, was Lem zur Neuauflage des Lyssenkoismus, der Genderwissenschaften sagen würde? Der Lyssenkoismus besagt, dass die Eigenschaften der Organismen nicht durch Gene, sondern durch die Umweltbedingungen bestimmt würden. Beispielsweise, dass das Geschlecht bei der Geburt “zugewiesen” würde. Die Hebamme schwingt ihren Zauberstab im Kreißsaal: “Hokus, pokus, simsalabim! Vulven-Wiesen erblühet, ihr seid Frauen! Penis-Wälder ersprießet, ihr seid Männer! Lyssenko-kolores, ihr seid agender!”
Au man. Da zieht in Sachen Vereinigung auch so Einiges an meinem inneren Auge vorbei. Den Lesetipp werde ich mir gönnen.
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