In Hintertupfenheim an der Wirra soll eine Brandmauer den Bürgermeister und seinen Möchtegern-Nachfolger vor politischen Zündlern schützen. Auch die Feuerwehr steht bereit. Doch dann wird es ausgerechnet hinter der Brandmauer heiß.
Nennen wir Sie Fritz. Sie wohnen da also in Hintertupfenheim an der Wirra und waren da schon öfter Schützenkönig und wollen Bürgermeister werden. Ihre Vorgängerin war es auch schon mal, sechzehn Jahre am Stück. Klar, man muss auch mal andere den Vogel abschießen lassen, ist ja auch teuer, die Sache, und ob man als Bürgermeister gewählt wird und andere für einen bezahlen, hängt an der Kommunalpolitik, früher hing es auch an der Vorgängerin. Das alles wissen Sie. Bürgermeister ist besser als Schützenkönig! Allerdings gibt es da seit über zehn Jahren ein Problem mit Ihren Nachbarn zur Rechten. Einige von den Leuten, die auf diesem Nachbargrundstück wohnen, gehörten früher einmal zu Ihrer Familie. Sie haben sogar im Kirchenchor zusammen gesungen und früher mit denen im Rat gesessen, bis die ihr eigenes Ding machen wollten.
Ihre eigenen Leute wollten andere Dinge. Zum Beispiel das Dorf weltoffen machen. Seither sind eine Menge wildfremder Leute zugezogen, von denen die wenigsten arbeiten, Steuern oder Abgaben zahlen; das machen dafür Ihre Dorfbewohner für die Zugezogenen gleich mit. Dafür haben Sie eine Menge Applaus bekommen, zuerst im Hintertupfenheimer Tageblatt, praktisch zeitgleich auch von Ihren Nachbarn zur Linken. Etwas leiser war der Applaus der Einwohnerschaft, als im Ort ein oder zwei Leute erstochen und zwei oder drei Mädchen vergewaltigt wurden, was früher seltener vorkam. Ihre Leute haben auch die Stromversorgung ein wenig verändert und beschlossen, das nahe Atomkraftwerk an der Wirra abschalten zu lassen. Auch dafür gab es Jubel im Tageblatt und von den Nachbarn zur Linken. Weniger Begeisterung gab es bei den Einwohnern, deren Arbeitsplätze im Kraftwerk wegfielen, und als Sie denen als Ersatz drei Dutzend Windräder vor die Nase bauen ließen, bis sie Ohrensausen bekamen. Und den Imkern die Bienen wegblieben.
Das Hintertupfenheimer Tageblatt verschwieg die Probleme und bejubelte die Neuerungen, und Sie meckerten nicht darüber, es war ja zu Ihrem Vorteil; und Ihre Leute waren es ja auch, die dem Tageblatt die Werbeagentur „Schmitz & Freunde“ bezahlten. Dass nun die Strompreise steigen und die Preise im Supermarkt, während Opa Pumpelhuber kaum noch Honig produziert, ist logisch, aber natürlich nicht jedermanns Sache. Auch die Unterfinanzierung des Schützenvereins, der nun nicht einmal mehr genug Kleinkalibermunition fürs Vogelschießen hat, fanden manche im Ort nicht gut, die Schlaglöcher auf den Straßen auch nicht. Die Eisenbahnbrücke ist auch schon seit Monaten baufällig, gesperrt und muss umfahren werden, von der Bahn oben und vom Pendelverkehr unten. Das weltoffene Hintertupfenheim ist ein wenig abgeschnitten von der Außenwelt. In Ihre Zeit in der Fraktion der Bürgermeisterin fielen alle diese Entscheidungen, falls man weitgehendes Nichtstun so nennen kann. In letzter Zeit sind Sie selbst eher dagegen, aber inzwischen regieren Ihre Nachbarn zur Linken, und vor dem Rathaus wehen stolz die Europa- und die Regenbogenflagge, während die Nachbarn zur Rechten sofort frech die Landesfarben und das Wappen Hintertupfenheims hochgezogen haben. Sie selbst können das jetzt nicht mehr machen, ohne unangenehm aufzufallen, und das gilt es unbedingt zu vermeiden, Sie erinnern sich: die Werbeagentur, das Tageblatt.
Der alte, klare Kurs des Hauses
Blöderweise haben deshalb auch nicht alle Leute im Dorf kapiert, dass auch Sie inzwischen gegen den alten, klaren Kurs Ihres Hauses sind. Die erinnern sich einfach zu gut daran, dass diese Entscheidungen zuerst aus Ihrem Haus kamen. Seither unterstützen Ihre Bude nur noch ein gutes Viertel der Einwohner Hintertupfenheims. Gut, zur Linken ist es ja pro Bude bald nur mehr ein Siebtel, maximal. Aber, das sind immerhin drei oder vier Nachbarn, die versammeln schon einige Leute im Dorf hinter sich, im Moment die Mehrheit im Rat. Allerdings steigen auch deren Kosten und nehmen auch deren Probleme zu, und da müssten deren Wähler doch reumütig zu Ihnen zurückkehren! Wo Sie selbst doch jetzt dagegen sind, den unkontrollierten Zuzug drosseln wollen, gesagt haben, wie sehr Sie das schöne, immer noch ebenso voll funktionsfähig wie nutzlos herumstehende Atomkraftwerk vermissen; und die vier oder fünf Betriebe, von denen einer schon Pleite gemacht hat und einer aus dem Dorf abwandern will, deren Belegschaft hat Sie doch früher auch unterstützt! Was ist nur in die Leute gefahren?
Kurz: Das Dorf verzeiht Ihnen nicht. Ist gespalten, in Aufruhr. Und die Nachbarn zur Rechten sagen es laut, diese Spalter! Die haben zwar nie ein Interview und keine einzige Annonce im Hintertupfenheimer Tageblatt, deren Wahlplakate werden beschmiert und abgerissen. Öffentlichkeitswirksam kleben sich zugereiste junge Leute auf der Dorfstraße fest für noch mehr Windräder und fordern noch mehr Zuzug von Fremden, die Turnhalle ist auch schon wieder überbelegt, man prügelt sich geflissentlich im Sommer im Freibad, und dennoch schaffen Sie es nicht, die Wähler zurückzugewinnen. Weil Sie selbst mit dieser Lokalpolitik angefangen haben. Ein paar entfernte Landkreise, die von Ihren Nachbarn zur Rechten regiert werden, haben das nicht mitgemacht, und sie weigern sich sogar, diese verfluchten Populisten, ihre Kompetenzen abzugeben, die Sie selbst längst in die Kreisstadt delegiert haben, die auch von Ihren Nachbarn zur Linken regiert wird.
Was sollen Sie denn nun bloß machen? Beim Einschlafen denken Sie immer öfter, Sie haben sich ins Aus manövriert. Oder manövrieren lassen, von der letzten, sehr langjährigen Bürgermeisterin, der legendären Andrea Kapiernik, aus ihrem eigenen Haus. Andrea, die Belanglose, haben Sie immer gedacht. Die zuerst Sie kaltgestellt hat. Rache! Aber, kann man das den Leuten sagen? Und muss man dann nicht eingestehen, dass die Nachbarn zur Rechten… Und was werden die Nachbarn zur Linken sagen, mit denen man doch im Gemeinderat…? Mit derlei Gedanken schlafen Sie ein, unruhig. Wenig erholsam schlafen Sie, mit unguten Träumen, und mit denselben Gedanken wachen Sie auf. Die Kapiernik hat der Landrat erst neulich mit der Extraklasse des goldenen Landfrauenordens behängt, und Sie waren dabei. Haben höflich applaudiert. Da kann man die Kapiernik leider jetzt nicht in die Pfanne hauen!
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Es ist aber noch Hoffnung: Sie könnten mit den Nachbarn zur Linken wieder an die Macht kommen, und neulich hat Ihr Neffe zweiten Grades, seines Zeichens Oberbrandmeister der Freiwilligen Feuerwehr, eine glänzende Idee gehabt: eine Brandmauer! Es riecht brenzlig, Onkel Fritz, hat er gesagt, und auf der rechten Seite Ihres Grundstücks müsse eine Brandmauer hochgezogen werden. Damit die rauchigen Gedanken, die Sie nun schon ständig tags wie nächtens quälen, nicht mehr von rechts auf Ihr schönes Grundstück wehen können. Gesagt, getan. Die Terrasse muss weichen, der Wintergarten auch. Okay, die gute Aussicht liegt auch auf der rechten Seite, aber das ist es ja gerade, was Ihnen weh tut, also weg damit. Der örtliche Baustoffhandel gehört auch zu Ihnen, treue Wähler, die liefern die Schamottsteine und die feuerfeste Dämmung. An einem einzigen Nachmittag sind erst die Terrasse beseitigt, dann der Wintergarten abgebaut, zuletzt die Fenster zugemauert, und schon zwei Tage später steht sie, die Brandmauer. Irgendein Nachbar zur Linken hat sie gleich in ihrer ersten Nacht mit roter Farbe besprüht: Keinen Fußbreit den Brandstiftern zur Rechten! Sie schöpfen Hoffnung: Cool bleiben! Man ist dankbar. Man wird Sie wählen!
Leider sieht die Sonntagsfrage im Hintertupfenheimer Tageblatt ganz anders aus: Weniger als ein Viertel der Hintertupfenheimer steht noch hinter Ihnen, und bei den Nachbarn zur Linken sieht es nicht viel besser aus. Über ein Fünftel der Hintertupfenheimer bekennen sich bereits zu den Nachbarn zur Rechten. Die zur Linken schlagen vor, den Zugereisten in der Turnhalle das Wahlrecht zu geben. Sie können nicht wirklich etwas dagegen sagen, denn Ihre Bude hat sie ja hereingeholt, und das wären ja die Argumente von jenseits der Brandmauer. Also nörgeln Sie nur ein bisschen, fantasieren in einem Halbsatz von gelegentlicher örtlicher Zusammenarbeit mit den Nachbarn zur Rechten – und kassieren schon dafür Prügel im Tageblatt und von der Linken und sogar von den eigenen Leuten. Und müssen zurückrudern.
Der Effekt ist niederschmetternd. Schon bei der nächsten Umfrage wechseln noch mehr Hintertupfenheimer von Ihnen zu diesen Leuten jenseits der Brandmauer. Und diese Parolen! Hintertupfenheim ist unsere Heimat, wo kämen wir denn da hin? Ihre Heimat ist die Welt, und Hintertupfenheim ist doch so ein schönes, weltoffenes Dorf! Okay, die Kriminalität steigt, die Steuern steigen, die Preise auch, während die Guthaben und die Renten real sinken, und von den Zugezogenen sind keine fünf Prozent Facharbeiter. Die Betriebe, die die paar Leute beschäftigen könnten, machen sowieso dicht oder ziehen weg, wollen neuerdings sogar in die fernen Landkreise, in denen die Nachbarn zur Rechten regieren. Und keiner will Sie wählen, der Sie dagegen sind? Warum nur?
Ein Prosit der Gemütlichkeit!
Auf dem Weg in die Küche, Sie wollen sich gerade zum Trost eine Flasche Hintertupfenheimer Wolkenkuckucksberg Spätlese, Jahrgang 2015, entkorken, prallen Sie auf Ihren Neffen zweiten Grades, den Oberbrandmeister: „Klasse, unsere Brandmauer, was?“ Sie sind unangenehm berührt. Sodbrennen. Dagegen helfen weder die Brandmauer noch die Spätlese aus der schönen, sonnenreichen Hintertupfenheimer Hanglage Wolkenkuckucksberg. „Sag mal, lieber Neffe, hast du die Umfragen gelesen?“ Der Neffe hüstelt. „Glaubst du, eine Brandmauer hilft gegen trübe Gedanken?“ Der Neffe zieht nervös an seinem Krawattenknoten, öffnet den obersten Kragenknopf. Kleine Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Da bemerken Sie es auch: Es ist heiß, sehr heiß. Ob es an der neuen Wärmepumpe liegt? Oder am Ladeanschluss für das E-Auto in der Garage? Hektisch rennen sie durchs Haus, ins Freie, ums Haus herum. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand, zur Brandmauer, und blicken auf das Nachbargrundstück zur Rechten. Dort sitzen die Nachbarn lässig in ihrem sonnigen Garten und tun – einfach gar nichts. Eine schicke blonde Lesbe und ein knorriger alter weißer Mann, der mal zu ihnen gehörte, prosten einander mit Cocktails zu. Ihnen auch. Cuba libre. Lumumba. Wodka-Martini auf Eis. Sehr witzig!
Sie kehren zurück in Ihr düsteres Wohnzimmer, hinter die Brandmauer. Es ist unerträglich heiß. Frischen Wind können sie nicht hereinlassen, Ihre Leute fürchteten sich ja schon früher, das Ganze könnte durchzünden, wenn frischer Wind von rechts weht. Von links kommt allerdings nur heiße Luft. „Hier sind wir sicher,“ so sagt Ihr Neffe, der Oberbrandmeister. „Wovor?“ fragen Sie genervt. „Na, vor den Nachbarn zur Rechten, natürlich! Wenn es bei denen brennt…“ - „Aber, bei denen brennt es doch gar nicht, du Affe!“ So hören Sie sich schreien. „Aber, die zur Linken…,“ wendet der Neffe flüsternd ein, „die geraten auch schon ins Schwitzen.“ - „Verdammt, ja! Und wem nützt dann die Brandmauer?“ - „Ich hab’s,“ ruft der Neffe, „wir müssen die Nachbarn zur Rechten verbieten! Das heißt, man darf ihre Argumente nirgends drucken, nirgends senden, ihnen keinen Platz im Präsidium des Schützenvereins und keinen Raum im Dorfkrug…“ - „Das machen wir doch schon seit über zehn Jahren und behaupten noch, wir grenzen niemanden aus!“ - „Dann darf es keiner merken. Dann muss man sie eben auch von den Wahllisten streichen!“ - „Ein gutes Fünftel der Leute? Das soll keiner merken? Wie lange soll denn das gutgehen? Und, schlimmer noch: Werden diese Leute deshalb ausgerechnet uns wählen, die wir ihnen…“
In diesem Moment geht die Tür auf. Andrea Kapiernik betritt den muffigen, düsteren Raum, im roten Kostüm. Nur die Extraklasse des Landfrauenordens glitzert an ihrem Hals. Alles Reden verstummt, selbst die Brandmauer schweigt. „Warum ist das so heiß hier? Na, wenigstens sind diese Rechten nicht mehr zu sehen,“ bricht sie trocken das Schweigen, „da hat sich die Sache doch gelohnt! Hab' ich euch doch gleich gesagt, Jungs.“ Sie aber stöhnen auf: „Andrea. Hören sie mal zu. Da drüben brennt es gar nicht. Wir haben eben nachgesehen. Wenn uns jemand die Hölle heiß macht, dann wir selbst, hier!“ Beleidigt sieht Andrea sich um: „Na und, Fritz? Brandmauern funktionieren nun mal von beiden Seiten. Jetzt ist sie halt da.“ Achselzuckend wendet die Kapiernik sich auf dem Absatz und verlässt das Haus.
Sie fragen sich, warum Sie nicht ganz so erleichtert sind wie früher. „Ja, klar,“ sagt der Neffe strahlend in die Stille, mit glänzenden Augen, „recht hat sie, die Brandmauer ist sehr nützlich! Wenn wir hier abfackeln, dann greift das Feuer nur nach links über. Dann können ein paar von uns - Du und ich natürlich nicht! - immer noch nach rechts...“ - „Aber, das ist doch idiotisch!“ - „Davon war bei der Planung keine Rede, Onkel Fritz. Alle Nachbarn von links haben applaudiert, dazu das Tageblatt. Und du hast selbst gesagt, Hauptsache, die Brandmauer steht! Und die Brandschutzverordnung lautet, dass die Brandmauer nach rechts...“ - „Ich weiß,“ hören Sie sich seufzend sagen, dann immer lauter: „und dass die Leute so bescheuert sind, in Scharen nach rechts zu flüchten, weil es rechts angeblich brennt, während die da in Wirklichkeit hämisch grinsend im Garten sitzen und Cocktails schlürfen, während wir ihnen die Wähler zuschaufeln, das sagt sie wohl auch, deine Brandschutzverordnung! Und meinst du wirklich, die Nachbarn von links helfen uns und kommen bei uns löschen? Nun mach wenigstens die verdammte Wärmepumpe aus! Und zieh sofort dem E-Auto den Stecker! Wir sitzen in der Falle! Es riecht brenzlig!“
Leise schimpfend verlässt Ihr Neffe den Raum, und seine Schritte entfernen sich. Sie meinen nur, immer leiser, noch etwas zu hören wie: „Onkel Fritz, du hast es doch selber gesagt: Cool bleiben! Hauptsache, die Brandmauer steht! Unser Dorf hat Zukunft!“
Jesko Matthes, Alumnus der Studienstiftung des Deutschen Volkes, immunologische Promotion über Tumornekrosefaktor- und Lymphotoxin-Messung, auch in virustransfizierten Zelllinien maligner Lymphome. Notarzt mit LNA-Qualifikation. Er ist Arzt und lebt in Deutsch-Evern.