Thilo Schneider / 18.05.2022 / 14:00 / Foto: Pixabay / 29 / Seite ausdrucken

Wie ich zum Experten wurde

Henryk Broder fragte einst vor dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, wo man sich denn „zum Experten“ bewerben könne, nachdem ihn die Grünen-Abgeordnete Rottmann als „selbsternannten Experten“ bezeichnet hatte. Ich kann die Frage seit letzter Woche beantworten.

Das kam so: Ich schlenderte durch die Fußgängerzone unseres Schtetls, als mir eine junge Frau mit sehr grünen jungen Haaren ein Mikrofon unter die Nase hielt. „Guten Tag“, sagte sie höflich, „sind Sie von hier?“ „Das will ich meinen“, sagte ich zurück. „Prima, dürfen wir Ihnen fürs Lokalradio ein paar Fragen stellen?“ Ich hatte meinen altväterlich-großzügigen Tag und sie durfte mir fürs Lokusradio ein paar Fragen stellen. Zumal ich sowieso nie unbefragt an einem Mikrofon vorbeigehe. „Prima. Bitte bleiben Sie ganz locker und entspannt, antworten Sie so, wie Sie denken…“ „…und falls es nicht passt, schneiden Sie es einfach raus“, vollendete ich ihren Satz. „Hihihi“, ja, macht sie. Der junge Mann hinter ihr zückte eine Kamera und schnitt die Fragerunde mit. 

Sie hielt mir das Mikrofon hin: „Sagen Sie uns ganz kurz, wer Sie sind?“ Ich hätte gerne „I'm Batman“ geantwortet, aber man muss Menschen das Leben auch nicht unnötig schwer machen. Nötig schwer reicht. Also sage ich: „Mein Name ist Schneider. Thilo Schneider.“ Und ich fühlte mich dabei wie ein Wodka Martini, sehr gerührt. „Und Sie sind Anwohner?“ „Ja, mein Büro ist hier gleich um die Ecke!“ Gut, das waren die einfachen Fragen. Jetzt wurde es schwieriger: 

„Herr Schneider, wie beurteilen Sie denn den Stand unserer Fußgängerzone?“ Ah, das war auch einfach. Ich sah unsere Einkaufsmeile hinunter: „Wenn ich hier die Straße hinuntersehe, sehe ich fünf Optiker, vier Handy-Läden, vier leerstehende Läden, zwei Billigbäcker, zwei Döner-Buden und zwei Textiler. Zusammengefasst ist das hier ein prima Ort für Kurzsichtige, die sich Mobiltelefone kaufen und dabei ein billiges Teiggericht lutschen wollen. Das war mal anders.“ Meine grünbehaarte Interviewerin nickte, sie war wohl mit der Antwort zufrieden. „Was war denn früher anders?“, wollte sie wissen. Gut, sie ist jung, sie kann das nicht wissen. Ich drehte mich um und bedeutete ihr, meinem Blick zu folgen:

„Hier war früher ein Textiler drin, eine kleine Boutique für Damenwäsche und Badebekleidung. Daneben gab es einen Kaffeeröster. Da drüben gab es hochwertige Schreibwaren und da einen Tabak- und Pfeifenladen. Der leere Laden dort war mal eine gut sortierte Buchhandlung und da gegenüber, wo jetzt der Billigbäcker ist, gab es ein Kaufhaus für Taschen. Die hatten nur Taschen. Hunderte von Taschen. Über Jahrzehnte. Hier weiter unten, bei dem Handy-Shop („Läden“ hört sich so deutsch-bieder an, „Shop“ sounds very international), da konnten Sie Schuhe kaufen und dort, wo Ihnen nun ein schwarzes Loch in Form einer verklebten Fensterscheibe entgegenstarrt, gab es Tee, Gewürze und Feinkost. So war das, nach‘m Kriech“, erklärte ich die Mikro-Lage von einst. 

„Hören Sie dazu den Innenstadtexperten Thilo Schneider“

Wieder eifriges Nicken, ich fühlte mich bestärkt und gelobt. „Und worauf, Herr Schneider, führen Sie das zurück?“ Na, das bekam ich auch hin:

„Zum einen haben wir naturgemäß hier exorbitant hohe Mieten, da 1a-Lage. Die kann und will sich nicht jeder Kleinunternehmer, speziell auch im Einzelhandel, leisten. Hinzu kommt, dass die Kommunen heute alles tun, um den PKW-Verkehr aus den Innenstädten herauszuhalten und dabei teilweise schikanöse Methoden gegen Autofahrer anwenden. Die Omma fährt aber nicht mit dem Lastenfahrrad zehn Kilometer, um einen Einkaufsbummel zu machen, erst recht schleppt sie den Kram dann nicht zehn Kilometer zurück. Dann haben wir hier eine Veränderung der Käuferschicht. Heute muss er vor allem billig und trendy sein, das „gediegene Fachgeschäft“ macht keinen Umsatz mehr mit den Dulli… den jungen Leuten. Außerdem fehlen hier in der Betonwüste hübsche Erholungsoasen oder, wenn sie doch da sind, werden sie in kürzester Zeit Opfer von Vandalismus. Schließlich gibt’s keine kulinarische Abwechslung, was die Folge von Corona ist. Und last but not least – warum soll ich mich hier irgendwo anstellen, wenn mir Amazon den Kram quasi vor die Füße wirft? Hier wäre also einiges zu tun, seitens der Kommunen und seitens der Einzelhändler.“

„Sehr gut“, lobte mich Frau Grünhaar für meine lächerlichen Binsen, „und was konkret würden Sie tun?“

Konnte ich ihr sagen: „Ich würde unserer Innenstadt einen Event-Charakter geben. Hier muss eine Band spielen, da darf es eine Art Liegewiese geben. Das Ganze müsste aussehen wie die „Main-Street“ in einem Vergnügungspark. Auf der die Menschen gerne flanieren und kurze Wege haben. Ein „zum-Auto-Bring-Service“ und eine kleine, kostenlose Elektrobahn, die um die Altstadt fährt und dabei die Parkhäuser abklappert, würde einen Besuch zu einem Erlebnis machen. Außerdem würde ich ein Fahrradverbot aussprechen, damit die ganzen Helmtopfpflanzen auf ihren flüsternden Mordmaschinen keine Kinder und alten Leute mehr bedrohen. So würde ich das machen! Bitte. Danke.“ 

„Ich habe alles“, sagte ihr Begleiter und die junge Frau sagte artig „Dankeschön“ und wir wünschten uns gegenseitig noch einen schönen Tag und ich holte mir beim „Sack und Back“ eine Fanta. Als ich drei Tage später das Regionalradio im Auto höre, wird ein Bericht zum Thema „Innenstadt“ mit den Worten „Hören Sie dazu den Innenstadtexperten Thilo Schneider…“ eingeleitet und ich verreiße vor Lachen das Lenkrad vom Renno. So also geht das. Oder meinten die das ironisch? Egal! Falls Sie also Rat von einem Innenstadtexperten brauchen: Rufen Sie an! 

(Weitere Experten-Artikel des Autors gibt´s unter www.politticker.de)  

 

Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

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M. Hintersdorf / 18.05.2022

Um welche Innenstadt geht es hier?

Ralf.Michael / 18.05.2022

Her Schneider, ich konnte noch nicht mal den leisesten Anflug von Ironie erkennen ! Die meinen das vollkommen Ernst. Von alleine kann da ja keiner auf Soetwas komme, weil….dazu ist ein Gehirn nutwendig (+ Ein-und-Ausschalter).  Mir wäre vielleicht sogar an einem guten Tag gelungen,, bei der Einkaufslösung batteriegetriebene Antigravitations-Platformen als Future-Lösung ins Spiel zu bringen…

Sabine Heinrich / 18.05.2022

“...damit die ganzen Helmtopfpflanzen auf ihren flüsternden Mordmaschinen keine Kinder und alten Leute mehr bedrohen.” Herr Schneider - Sie nun wieder - unübertrefflich! Danke! - Selbst Nur- Radfahrerin (nicht aus ideologischen Gründen), bin ich durch diese Zweiradführer jeden Alters, die nicht die einfachsten Verkehrsregeln zu kennen scheinen, mindestens so oft in Gefahr gebracht worden wie durch Autofahrer. - Dass “die Omma” nicht 10 km mit dem Lastenfahrrad zum Einkaufen (und zurück) fährt, haben die grünen Autohasser und Parkplatzvernichter auch nicht in der nahegelegenen Mittelstadt begriffen. (Nordöstlicher Speckgürtel von HH, S-H). Ein Fünkchen Erkenntnis wird vielleicht glimmen, wenn bei denen die ersten altersgemäßen Erkrankungen auftreten. Heißa - dann wird es lustig, wenn man nicht einmal mehr in der Lage ist, auch nur einen Kilometer mit dem Gehwagen, dem Rollstuhl, oder dem Dreirad zurückzulegen, um das Pflegeheim oder die Arztpraxis zu erreichen! - Übrigens - immer mehr mir bekannte Menschen aus jener Mittelstadt fahren zum Einkaufen oder gemütlichen Speisen lieber in meinen 4km entfernten Ort, weil man hier als Autofahrer nicht von “blauen Damen”, die Knöllchen verteilen, verfolgt wird und es ausreichend Parkplätze gibt - für deren Nutzung man noch nicht einmal etwas zu zahlen braucht! Ja - so etwas gibt es - und alle profitieren davon!

Ludwig Luhmann / 18.05.2022

Dufter Artikel! - Ich musste nur ein paar Jahrzehnte zurückfühlen, dann war ich im Bilde. Hätte dieses Interview in der knallhart wahren Realwelt des dreckigen Great-Reset-Jahres 2022 mit andeutenen Erwähnungen aller Verbrechen und Verbrecher der letzten 790 Tage und aller - ALLER! - kumulierten Unannehmlichkeiten stattgefunden, dann ... ja, dann ... . Ich stelle mir gerade vor, dass man die Hand samt Mikrophon hätte fest umfassen müssen, um dann bis zum Eintreffen der modernen Corona-Sturmabteilungspolizei in das Mikrophon zu schreien, als ginge es um das Ende der Hoheit über den eigenen Körper, den Entzug der Grundrechte und um die Abschaffung der individuellen Freiheit für alle Ewigkeit. Man hätte also etwa 30 glorreich unvergessliche Sekunden Zeit gehabt. Aus dem Gesicht des Mädel:In mit Kameragenderboy hätten Sie ein Feuerwerk basteln können ...

Jörg Themlitz / 18.05.2022

„Wenn ich hier die Straße hinuntersehe, sehe ich fünf Optiker, vier Handy-Läden, vier leerstehende Läden, zwei Billigbäcker, zwei Döner-Buden und zwei Textiler. “; Meine Feststellung in einer kleineren S-Bahn Gemeinde (11.000 Einwohner) Berliner Umfeld eine “Einkaufsstraße” ca. 100 Meter, Optiker okay, Hörakustiker, Laden medizinische-orthopädische Geräte, 4 Pflege- und Betreuungsdienste, Physiotherapie, Kinderbetreuung, gefühlt die Hälfte aller Läden, Das macht zusätzlich alt und traurig und inkludiert, wer erarbeitet das alles? ...und das Expertenunwesen wird durch das Gutachterunwesen vor den Gerichten getoppt.

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