Ich will einen neuen Reisepass beantragen. Doch um ihn zu bekommen, soll ich den abgelaufenen mitbringen, ebenso meine Heiratsurkunde und Geburtsurkunde. Warum muss ich mich als deutscher Staatsbürger gründlicher ausweisen als jemand, der gerade über die Grenze kam?
Die Sache ist die: Der Schatz und ich wollen demnächst ins Land der Pharaonen verreisen, und da wir beide schon länger (Stammbaum bis 1670, auf jeder Seite) hier leben, haben wir beide einen deutschen Pass. Also habe ich brav gebucht, die Anzahlung geleistet und schon in der Vorfreude geschwelgt, mir von den Nachfahren einer antiken Supermacht diese kleinen Drinks mit Schirmchen an den Pool bringen zu lassen. In 100 Jahren wird das schließlich wieder andersherum laufen und wir bringen den Chinesen lecker grünen Tee im „Brauhaus am Tegernsee“ an den Tisch. Sic transit gloria mundi, aber ich bin dann schon lange tot.
Auf jeden Fall suchte der Schatz die Pässe zusammen und siehe da: Meiner war vor einigen Monaten abgelaufen. Ich hätte es mir denken können: Auf dem Passbild hatte ich noch volles Haar auf dem Kopf und nicht in den Nasenlöchern.
Ich rief also bei der Gemeindeverwaltung unseres Sprengels an und beantragte einen Termin, um mir einen neuen Pass ausstellen zu lassen. Das sei gar kein Problem, sagte meine Sachbearbeiterin m/w/d, ich könne am Dienstag vorbeikommen. Und sie fragte mich, ob ich verheiratet sei. Ich fand das sehr nett, denn es klärte gleich von vornherein die Verhältnisse, wenn ich ihr live und in Farbe gegenübertrat. Es würde also ein reines verwaltungstechnisches Gespräch sein, wenn wir uns an ihrem Tisch gegenübersäßen, völlig ohne den Altherren-Charmeur-Charakter, den ich beispielsweise mit der knapp der Volljährigkeit entwachsenen Bäckereifachverkäuferin bei uns im Rewe pflege. Es würde also ein sehr professionelles Date werden. Daher antwortete ich mit „ja“. Das war doof.
Meine Heiratsurkunde? Wozu?
„Ja, dann bringen Sie bitte Ihre Heiratsurkunde mit.“ Meine Heiratsurkunde? Wozu? Ich trage einen Ehering. Deutlich sichtbar und, wie das so nach ein paar Jahren Ehe ist, deutlich von meinem Ringfingerfleisch überwuchert. Unter dem Ring sind sicher ganze Zivilisationen von Virenstämmen gewachsen, sind aufgestiegen und wieder erloschen. Wozu soll ich bitte die Heiratsurkunde mitbringen?
„Ja, es könnte ja sein, dass sich Ihr Name geändert hat!“ Hat er aber nicht. Weder vorne noch hinten. Thilo Schneider. Trust me, sis. „Es hat sich nichts geändert, ich bin, der ich bin, wallah, ich schwör!“, antwortete ich in Anlehnung an Altes Testament und Koran. Wirklich schwierig. Solche Anfragen wecken den renitenten Bürger in mir. Ich zahle doch keine Steuern, um dann die Heiratsurkunde wegen eines Passes zu suchen, von der ich nicht einmal weiß, wo sie ist.
Der Schatz muss das wissen, wenn er nach meinem Tod noch über das Konto verfügen will, aber ich lebe ja noch, und auf dem Konto ist derzeit wenig drauf, weil ich doch die Reise bezahlt habe. Also schlage ich der neugierigen Sachbearbeiterin am anderen Ende vor, sie möge sich doch die Heiratsurkunde vom Standesamt im Aschebersch kommen lassen, die hätten sicher eine Kopie und das ginge per E-Mail doch ratzfatz und ich müsste ja auch erst bei mir im Büro suchen, was ja auch länger dauern würde und für die Ausstellung des Angelscheins im Oktober letztes Jahr hätte ich die Urkunde ja auch nicht gebraucht und was der Unfug solle? Das Gespräch nahm jetzt eine ungute Wendung.
Ich belle den falschen Baum an
Wir Leute da hätten da immer so einfache Vorstellungen, eröffnete sie mir, aber sie könnte keine Kopie der Heiratsurkunde anfordern, weil das gegen die Datenschutzbestimmungen verstoßen würde, sonst könnte ja jede Gemeinde meine Heiratsurkunde anfordern. Ich meinte, es wäre mir völlig egal, wenn jede Gemeinde meine Heiratsurkunde anfordern könnte, schließlich könne mir auch jede Gemeinde einen Strafzettel schicken, wenn ein Scherge der Stadtverwaltung mein Kennzeichen in einer Halteverbotszone notieren könnte, da gingen mein Autokennzeichen, mein Name, Hersteller und Fahrzeugtyp durch sämtliche Computer zwischen Lissabon, Paris und Wilna, ganz ohne dass mich jemand nach meiner Heiratsurkunde fragen würde.
Sie meinte dann, dass ich hier den falschen Baum anbellen würde, sie würde ja auch nur ihren Job machen und dass wir soeben die Ebene der Sachlichkeit verlassen würden und da hatte sie nicht unrecht, weil ich merkte, wie meine linke Halsschlagader anschwoll. Sie konnte ja wirklich nichts dazu. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Ich entschied mich, zur Feier des Tages einen zu trinken.
Was noch?
Ja, also, den alten Pass solle ich auch mitbringen. Wozu? Ja, damit sie sähe, dass ich ich bin. Meine Beteuerung, dass ich ich sei, genüge nicht. Seit wann nicht? Seit 1949. Aber mein Pass wäre doch abgelaufen? Ja, aber der würde ja nicht mir, sondern der Bundesrepublik Deutschland gehören, obwohl ich damals teuer Geld dafür bezahlt habe, was ich jetzt wieder tun müsste, damit der neue Pass per Express schnell komme, weil doch die Zeit etwas dränge, gehöre der Pass trotzdem nicht mir. Wenn ich den abgelaufenen Pass nicht mitbrächte, bestünde ja die Gefahr, dass ich entweder den Pass an eine mir fernstehende Person mit gleichem Aussehen verkaufe (was mir tatsächlich zwecks Refinanzierung der Reise und wegen Tirschenreuth kurz durch den Kopf gegangen war).
Oder dass, würde mir der aktuelle Pass, den ich noch nicht habe, aus irgendwelchen Gründen entzogen werden, ich mit dem alten Pass so tun könnte, als hätte ich nie einen neuen Pass erhalten (die örtliche Datenbank, sie ist eben begrenzt, „stand alone“) und einen neuen Pass beantragen könnte, obwohl mir der neue Pass, den ich zu beantragen gedächte, bereits wieder entzogen wäre. Alternativ könnte ich auch eine Verlusterklärung bei Strafe himmlischer Mächte, wenn ich lüge, unterschreiben, dass ich den alten Pass verloren hätte und jetzt dumm dastünde, da ich den alten Pass nicht mehr hätte und gar nicht nachweisen könne, dass ich einst ich war. Okay. Wenigstens weiß ich, wo der alte Pass ist, ich habe ihn ja in der Hand. Sonst noch was?
Ob ich meine Geburtsurkunde zur Hand hätte? Das wäre zwar nicht unbedingt nötig, aber gut. Warum wäre das gut? Aus meiner Geburtsurkunde ginge mein Geschlecht hervor. Oder ich könnte eine Bestätigung der bisher zuständigen Gemeinde beibringen, dass mein Geschlecht „männlich“ ist und ich bisher keine Änderung des Geschlechts beantragt habe. Ich denke kurz nach, weil ich demnächst eine Vasektomie haben werde, aber Stand heute, vor der Reise, steht mein Geschlecht. Fest. Was in meinem Alter dann doch eine gelegentliche angenehme Überraschung darstellt. Weil der Grad meiner Erregung und mein Puls in den letzten paar Minuten ziemlich stark gestiegen sind. Was meinen Sie, warum ich den Angelschein gemacht habe? Aber unbedingt nötig isses ja nicht, es ist mehr so etwas wie eine unterschwellige Drohung, dass meine Sachbearbeiterin auf der Gemeinde die Zügel und Daumenschrauben auch fester anziehen könnte, wenn sie wollte.
Wir einigen uns darauf, dass ich meine Heiratsurkunde beischaffe und den alten Pass mitbringe. Und meinen Personalausweis, wegen Sie-wissen-schon-warum. Und mein Bankkärtchen, damit ich schwupps bezahlen könnte. Ich werde in einigen Tagen die Tempel von Luxor besichtigen. Und mir Cocktails mit diesen kleinen Schirmchen und einer kleinen Orangenscheibe am gezuckerten Rand bringen lassen. Von Nachfahren der Erbauer der Pyramiden. Und ich werde mich fragen, wie die es damals geschafft haben, Reisepässe auszustellen. Ganz ohne Computer und Sachbearbeiter. Ich vermute, sie haben sie damals schlicht als Pyramide in den Sand gesetzt. Ebenso wie ihre Hochkultur. Für die Reisen ins Jenseits. Also nach Germanien.
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Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.