Vorab ein paar Worte: Ich bin weder ein Mega-Cineast, noch habe ich Geschichte studiert. Ich bin bestenfalls ein gut informierter und interessierter Historien-Laie. Trotzdem sollten Sie diesen Artikel lesen, bevor Sie ins Kino gehen. Denn er kann Ihnen 158 Minuten Lebenszeit retten.
Falls Sie danach trotzdem noch in Ridley Scotts „Napoleon“ gehen wollen: Nehmen Sie eine Pulle Schnaps mit und lassen Sie sich zulaufen. Dann haben Sie wenigstens den Spaß einer Trunkenheit.
Gäbe es für „Napoleon“ ein Arbeitszeugnis, dann würde in etwa darin stehen: „Regisseur und Hauptdarsteller haben die Aufgabenstellung verstanden und sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten bemüht, unseren Erwartungen gerecht zu werden. Kennzeichnend ist die Pünktlichkeit, mit der das Projekt beginnt und endet.“
Napoleon ist wohl eine der schillerndsten Persönlichkeiten der letzten 250 Jahre. Für die einen war er ein Kaiser, ein Revolutionär, ein Reformer, der mit dem „Code Napoleon“ ein für die damalige Zeit bemerkenswert humanes Gesetzeswerk im Sinne der Revolution einführte. Ein charismatischer Politiker, charmanter Freund schöner Frauen und natürlich ein begnadeter Feldherr. Für die anderen war er ein blutsaufender Tyrann, der Not, Tod, Elend und Hunger über die eroberten Völker brachte, dessen Soldateska ganze Landstriche verwüstete und der Millionen von Menschen auf dem Gewissen hat.
So miserabel schlecht
Was er ganz sicher nicht war: ein trotteliger Zwerg mit einem viel zu großen Hut, der vor seiner Ehefrau wie ein Hund winselte, wenn er Sex haben wollte. Genau so aber stellt ihn sich Ridley Scott wohl vor, und genau so spielt ihn Joaquin Phoenix. Sie kennen den Mann: Der hat vor 23 Jahren im „Gladiator“ Kaiser Commodus gespielt, als halbirren Charismatiker, boshaft und fies. Und er hat 2019 den „Joker“ gegeben, einen tragischen, in sich zerrissenen Charakter, der schlussendlich in eine wahnsinnige Bösartigkeit kippt. In „Napoleon“ hatte ich das Gefühl, dass der Joker Napoleon spielt.
Scotts Problem lautet Bondartschuk: Der 1994 verstorbene Regisseur hat mit „Waterloo“ von 1970 die Benchmark gesetzt, wie Napoleon aussieht, wie er sich gibt und wie eine napoleonische Schlacht darzustellen ist. Scott hätte den Faden nur aufnehmen und historisch rückwärts spinnen müssen und wäre unsterblich geworden. Und er hat auf ganzer Linie regelrecht grotesk versagt und „Napoleon“ schon fast absichtlich torpediert.
Der Film ist so miserabel schlecht, dass ich gar nicht weiß, wo ich eigentlich anfangen soll. Daher nehme ich einfach den Anfang: Der 24-jährige Napoleon wird beauftragt, Toulon, das die Engländer mit ihrer Flotte besetzt halten, von ebendieser zu befreien. Der junge Napoleon war, glaubt man den zeitgenössischen Bildern, ein nicht unschöner Kerl mit langen Haaren – und er dürfte ziemlich charismatisch gewesen sein. Scott hat hier leider das Alter seines Protagonisten vergessen, denn sein Napoleon ist ein etwa 50-jähriger Penner mit schütterem Haar, dessen mangelnde Körperhygiene durch die Kinoleinwand riecht. Immerhin sind hier die Kämpfe um Toulon noch recht gut in Szene gesetzt, da verzeiht man den alten Napoleon.
Irgendwie fehlt da was ...
Danach werden die nach Meinung Scotts „wichtigsten Punkte“ in Napoleons Leben abgehakt: das Niederkartätschen des Royalistenaufstands 1795, dann der Sohn von Josephine, der um die Rückgabe des Säbels seines hingerichteten Vaters bittet, schließlich trifft unser alternder Napoleon die noch ältere Josephine mit ihrer Punkerfrisur, von der ich fast erwartet hätte, dass sie sich auf die Champs-Élysées klebt, um das Klima zu retten, die zerrupfte Gans.
Von seiner ersten großen Liebe, Désirée Clairon, erfährt der Zuschauer nichts, ist ja auch egal, schließlich heiratet die später nur seinen Jugendfreund Bernadotte, der einmal König von Schweden werden wird und in den Befreiungskriegen gegen seinen einstigen Freund bei Leipzig kämpft. Aber wir wollen nicht kleinlich sein, denn schon kurz nach der Hochzeit ist Napoleon in Ägypten.
Moment … Waren da zwischendrin nicht der glor- und siegreiche Italienfeldzug, in der der junge Napoleon eine komplett demotivierte und miserable Armee quer durch Norditalien zum Sieg über die Österreicher führte? Seine legendären Schlachten bei der Brücke von Lodi und die Schlacht von Arcole, die der eigentliche Grundstein für seine Legende wurde und ihn in Frankreich von „berüchtigt“ zu „berühmt“ machte? Oder sein Marsch über die Alpen nach Österreich hinein? Egal! EGAL! Schnell weiter.
Rammeln wie ein Karnickel
Zausel Napoleon, der stets in ein kindliches Winseln verfällt, wenn er Josefine fix wie ein Karnickel von hinten nimmt (ich hab mir das nicht ausgedacht, Ridley Scott lässt seinen Mimen das so darstellen) sitzt also in der Wüste und beschießt wahlweise die Pyramiden oder irgendwelche Ägypter. Warum er das tut? Keine Ahnung. Wie bei der Maus: „Klingt komisch, is aber so.“ Da erhält er eine sehr schlimme Nachricht: Seine geliebte Josephine betrügt ihn, die Schlampe. Und was macht der verliebte Kröterich? Er lässt seine Armee im Stich, um die Geliebte zur Rede zu stellen! Die wahren Hintergründe, dass sein Feldzug schlicht nicht zu gewinnen war, seine Soldaten wie die Fliegen an Krankheiten starben, dass sich der zweite Koalitionsfeldzug zugunsten der Russen und Österreicher entwickelte … Egal. EGAL! „KÜNSTLERISCHE FREIHEIT!“ höre ich Sie rufen, aber dann kann man die Franzosen auch mit Maschinengewehren ausstatten und Verwundete vom erst knapp 63 Jahre später entstandenen Roten Kreuz vom Schlachtfeld transportieren lassen. Hat dann nur eben nichts mehr mit Geschichte zu tun.
Wieder zu Hause, beschimpft der alte Mann erst Josephine, bevor er die Planschkuh erneut wie ein geschlagener Köter anwinselt. Also: Josephine darf bleiben und sich wieder a tergo rammeln lassen. Gegen die Sexszenen im Film wirkt jeder Buß- und Bettag wie eine ausschweifende Orgie.
Etwas wirr wird dann der Staatsstreich gegen das Direktorium dargestellt, aber ich war da bereits so ernüchtert, dass ich froh war, dass das Vorkommnis überhaupt Erwähnung findet. In der Folge wird dann der alte Napoleon endlich Konsul, was er aber da warum so macht – keine Ahnung. Er trägt jetzt eben eine hübsche rote Uniform unter dem alten Gesicht, der doppelkinnige Joaquin.
Jetzt folgt ein „Timeskip“, Marengo, Hohenlinden, Zweiter Koalitionskrieg, Frieden von Lunéville und Amiens, egal, egal, Talleyrand schlägt dem Konsul die Königswürde vor, der lacht, und dann ist die Kaiserkrönung angesagt.
Völkerschlacht fällt aus wg. Autorenstreik
Danach folgt die Schlacht bei Austerlitz, warum, weshalb, wieso, egal, wir müssen uns nur merken, dass die Franzosen die Geschütze getarnt hatten, die Österreicher und Russen auf einem See marschierten und die Franzosen dann durch die Eisdecke schossen und alle ertranken, so war‘s, ich schwör! Aber es geht ja auch nicht um Austerlitz, sondern um Napoleon.
Und so reiht sich Sinnlosigkeit an Sinnlosigkeit. Napoleon benimmt sich kindisch bei Borodino (und führt eine Reiterattacke an), kindisch im Kreml („Komm her, Alexander, ich will dir den Arsch versohlen“), kindisch beim Rückzug (war irgendwas an der Beresina? Anything? Egal!) und kindisch bei der Abdankung und Verbannung nach Elba wegen der vielen Toten im Russlandfeldzug. Doch, so war‘s, ich schwöre schon wieder.
Ja, aber… die Befreiungskriege? Die Diskussion mit Metternich? Das Schachern um Frieden? Die Völkerschlacht? Der Rückzug? Die gab es schon – nur nicht im Film. Komplett weggelassen. Vielleicht hat jemand auch genau diese Seiten aus dem Skript gerissen oder es war gerade Autorenstreik, man weiß es ja nicht. Für Geschichtslaien: Napoleon stand wegen der Verluste in Russland vor einem Kriegsgericht und wurde deshalb verbannt. Keine Widerrede.
„Merde.“ Beschreibt den ganzen Film.
Josephine empfängt derweil Zar Alexander, der als Sieger in Frankreich eingerückt ist. Napoleon wäre ja auf Elba in Verbannung geblieben, aber DAS ist ihm jetzt zu viel. Da lässt Ridley Scott seinen alten Hauptmimen, getrieben von Eifer- und Sehnsucht, wieder nach Frankreich zurückkehren. Das war der wahre Grund, echt jetzt! Die Meldung an den französischen König, dass „das Ungeheuer“ aus Elba entfleucht ist, quittiert dieser mit der einzig vernünftigen Bemerkung, die den kompletten Film beschreibt: Merde. Dann die Szene, wie Napoleon vor dem 5. Linienregiment steht, das ihn eigentlich verhaften oder wenigstens exekutieren soll, und ich hoffte, entgegen meiner Geschichtskenntnis, sie schießen den Clown mit dem überdimensionierten Hütchen wirklich nieder.
Jetzt kommt noch eine halbe Stunde lächerlichstes und miserables Waterloo, bei dem Napoleon PERSÖNLICH eine Reiterattacke auf die englischen Linien anführt, und nicht ein einziges Mal fällt im Film das Wort „Preußen“. Napoleon ist dann zuerst auf der Bellerophon und macht sich dort zur lächerlichen Figur, bevor er dann auf Sankt Helena lächerlich seitwärts vom Stuhl kippt und gottseidank tot ist. Und ich bin fast geneigt, aufzustehen und zu applaudieren.
Fazit: Tun Sie es nicht. Wenn Sie wirklich etwas über den Charakter Napoleon (und auch den Charakter Wellington) erfahren wollen, ziehen Sie sich den kostenlosen Film „Waterloo“ auf YouTube rein. Der dauert auch zwei Stunden, ist bis auf den Feuerstein am Zündnadelgewehr akkurat von Sergej Bondartschuk liebevoll komponiert, und erleben Sie Rod Steiger als mürrischen, zornigen und verzweifelten Napoleon Bonaparte und Christopher Plummer als edel-ironischen Wellington. Das kostet Sie nichts, und Sie können zwischendurch aufs Klo. Und ich glaube sicher, dass hier die Inszenierung und die beiden Akteure näher an den Originalen waren, als es Scott und der alte Zausel mit dem Faschingshut je sein können. „Napoleon“ ist nicht einfach nur merde – es ist ein Witz. Als Bonus lobe ich eine Essenseinladung für denjenigen aus, der mir als Erster einen napoleonischen Marschall mit schwarzer Hautfarbe nennt.
Thilo Schneider, Jahrgang 1966, freier Autor und Kabarettist im Nebenberuf, LKR-Mitglied seit 2021, FDP-Flüchtling und Gewinner diverser Poetry-Slams, lebt, liebt und leidet in der Nähe von Aschaffenburg.