Gökhan hat die Inspektion an meinem alten Renno durchgeführt. Jetzt muss ich den Wagen nur noch abholen. Da Gökhan aber in Urlaub fährt, muss er den Autoschlüssel irgendwo deponieren. Das gestaltet sich komplizierter als gedacht.
Am Anfang klang die Idee ganz gut. Der gute alte Renno hat nun über 100.000 Kilometer auf dem schlanken Limousinenbuckel, und nachdem mir die Vertragswerkstatt vorschlug, sie könne die Inspektion zum lachhaft günstigen Betrag von rund 2.000 Euro machen (Außenwäsche inklusive), erwähnte ich dieses Schnäppchen im Bekanntenkreis. Wie meistens in diesen Fällen geht dann eine Hand nach oben und sagt „Ich bin Automechaniker, das geht auch günstiger!“ Diese Sprache verstand ich und stellte mein Fahrzeug bei Gökhan ab, den ich schon länger kenne als den Schatz, und nachdem ich auch nicht unbedingt mehr einen Stempel im Inspektionsheft brauche – go on. Streicheln, schmieren und Öl wechseln hat mein Vater mit dem alten Volvo in den 70ern noch selbst gemacht, da wird das Gökhan auch bei einem harmlosen Renno hinbringen.
Jetzt war es nur so, dass Gökhan zwar die Inspektion gemacht hat, aber kurz danach in den Urlaub wollte, was ich ja auch wollte, mit dem Renno, und zwar ohne dass mich dauernd der rote Schraubschlüssel auf dem Armaturenbrett darauf hinweist, dass meine Vertragswerkstatt gerne 2.000 Euro für einmal Streicheln mit Alles inklusive „Wischerblattkontrolle“ von mir hätte. Die erste Hürde, neben der Bezahlung aus meinen klammen Kassen, bestand nun darin, einen Termin zu vereinbaren, an dem ich das Auto abholen könnte, denn weil Gökhan ein paar Kilometer weit weg wohnt, brauche ich den Schatz, der meinen Astralkörper bei Wind und Wetter an den vorläufigen Standort meines Fahrzeugs kutschiert.
Mehrere Annäherungsvorschläge scheiterten, sei es, dass Gökhan einen Arzttermin hatte, der Schatz länger arbeiten musste, ich in einem Computerspiel festhing, Gökhans Oma nach Frankfurt zur Untersuchung gefahren werden musste, der Schatz es vergessen hatte oder ich irgendwelche Artikel schreiben musste. Über eine Woche war dauernd etwas, bis Gökhan, der Geiselnehmer meines Renno, auf eine gute Idee kam: „Weißt du was? Ich deponiere einfach den Schlüssel am Haus, da kannst du kommen, wann du willst, und dein Auto mitnehmen.“ Das fand ich einen ziemlich cleveren Vorschlag und stimmte zu.
Den Code aufs Handy schicken? Niemals!
„Also“, hob Gökhan telefonisch an, „ich habe den Schlüssel jetzt deponiert!“ Okay. „Und zwar: Wenn du vor dem Haus stehst, dann gehst du links den Weg herum auf unsere Terrasse.“ Okay. „Da siehst du dann die Terrassentüre.“ Okay, ja, dachte ich mir. „Also quasi auf der Längsseite. Da ist die Terrassentüre.“ Okay. Ich bin 57 Jahre alt. Ich erkenne eine Terrassentüre, wenn ich sie sehe. „Neben der Terrassentüre steht ein Korbstuhl mit einem Kissen drauf.“ Gut, Terrassentüre, Korbstuhl mit Kissen. Finde ich. „Auf dem Korbstuhl steht eine blaue Box aus Aluminium.“ Blaue Box aus Aluminium auf dem Korbstuhl mit dem Kissen auf der Terrasse neben der Tür. Hab‘ ich. „Wenn du dich jetzt umdrehst, siehst du rechter Hand einen offenen Kamin mit so einem Grillteil.“ Okay, ich drehe mich vor der Aluminiumbox um 180 Grad und finde einen offenen Kamin mit so einem Grillteil. „Links neben dem Kamin steht ein grauer Ascheimer.“ Fein. Grauer Ascheimer. Und? „Den hebst Du jetzt hoch…“ Okaaaay „…und da findest Du einen Zettel.“ Einen Zettel? „Einen Zettel. Auf dem steht der Code für das Schloss.“ Code? Schloss? „Ja, die blaue Box aus Aluminium, du erinnerst dich?“
Natürlich erinnere ich mich an die blaue Box aus Aluminium auf dem Korbsessel mit dem Kissen rechts neben der Terrassentüre. „Ja, und die hat ein Zahlenschloss. Der Code steht auf dem Zettel!“ Okay, aber warum schickt mir Gökhan den Code nicht einfach aufs Handy? „Bist du irre? Weißt du, wer da alles mitliest?“ Nein, weiß ich nicht, glaube aber nicht, dass der BND oder der MAD oder die CIA oder der Mossad irgendein wie auch immer geartetes Interesse daran haben, den Code für das Zahlenschloss an der blauen Aluminiumbox, die auf dem Korbsessel mit dem Kissen rechts neben der Verandatür von Gökhan, zu erfahren. Haldenwang vom Verfassungsschutz vielleicht, weil der doch so gegen rechts ist und ich den Oiwonger gewählt habe, okay, also dann doch lieber Vorsicht walten lassen.
„Okay, sobald ich das Zahlenschloss geknackt habe, was dann? Finde ich dann meinen Schlüssel?“ „Was? Nein, du findest da eine Schaufel!“ Eine Schaufel? Bei Gott, was will ich denn mit einer Schaufel? „Keine große Schaufel, das ist so eine Gartenschaufel.“ Ah, da bin ich beruhigt. „Wenn du dich jetzt wieder umdrehst, dann siehst du da links im Garten so einen Strauch mit so Blättern…“ Okay, ja, Strauch. Mit Blättern. „Das ist der Rhododendron. Da gräbst Du nicht!“ Moment: Hat Gökhan den verdammten Schlüssel vergraben? „Ja natürlich, ich will ja nicht, dass hier Krethi und Plethi Zugang zu dem Schlüssel haben!“ Verständlich. Also nicht beim Rhododendron graben. Wo dann?
Kanarienvogel in der Brotbox bestattet
„Rechts von dem Rhododendron ist ein Gartenteich…“ Bitte nicht. Ich will nicht im Gartenteich graben! „Da gräbst du auch nicht!“ Uff. „Daneben steht eine Weide. Du läufst vor die Weide und drehst dich dann im Uhrzeigersinn 90 Grad nach rechts.“ Brauche ich einen Kompass? „Quatsch, ich erkläre es dir ja. Also. Du drehst dich nach rechts und gehst etwa fünf Schritte in die Wiese…“ Okaaay „…da steckt ein kleiner Stab in der Erde. Du siehst ihn, wenn du direkt davorstehst.“ Prima. „Da gräbst du so lange, bis du ein metallisches Geräusch hörst!“ Okay, metallisches Geräusch. „Das ist die Brotbox von Ömer. Bitte öffne sie nicht. Wir haben den Kanarienvogel vor zwei Jahren darin begraben, das wäre kein schöner Anblick.“ Gut, prima, danke für den Hinweis. Wie aber setze ich meine archäologischen Arbeiten durch Gökhans Garten mit seiner Flora und toten Fauna fort? „Du gräbst die Dose ganz aus. Und unter der Dose, in einem kleinen Lederbeutel – da ist dein Autoschlüssel!“ Juhuu. Prima. „Hast du alles verstanden?“ Ja, kein Problem. „Dann wiederhole es!“
Also: Ich gehe ums Haus herum, bis ich zur Terrassentüre komme, nehme die Brotbox und werfe damit die Terrassentürenscheibe ein. Ich verwüste die Inneneinrichtung auf der Suche nach Wertgegenständen und meinem Autoschlüssel. Danach verbrenne ich den verdammten Korbsessel mit dem verdammten Kissen in dem Grillkamin, in der Hoffnung, dass der Plastikdeckel von der Aluminiumbox schmilzt und ich an die Gartenschere komme, damit ich den Rhododendron schneiden kann. Dann gehe ich irgendwie zehn Schritte, pisse in den Gartenteich und stolpere über den kleinen Stab. Jetzt grabe ich mit bloßen Händen einen toten Kanarienvogel aus, der in seinen verwesten Krallen einen Zettel mit der Aufschrift „Wanderer, kommst du zu Gökhan, so erzähle, du habest mich hier liegen sehen, wie es Ömer befahl.“ So richtig? Und wessen Schlüssel liegt unter dem Rhododendron?
„Ja, fast“, sagte Gökhan. „Ich lege dir den Schlüssel unter die Vase links von der Türe. Aber mache mich nicht verantwortlich, wenn dein Auto geklaut wird.“ Wird es nicht. Auch nicht in Gökhans oder meinem Urlaub. Ich habe einen Zweitschlüssel. Und den weiß ich zu benutzen. Jetzt. Gleich. Er liegt da, wo auch die anderen Sachen liegen, von denen es wichtig ist, dass ich weiß, wo sie liegen. Das müsste in der unteren Schublade links von dem abgeschlossenen Sekretär liegen, dessen Schlüssel ich an den Schlüsselbund für die Zweit- und Drittschlüssel sekundärer Ordnung gehängt habe, der im Keller hinter der guten Vissmann an einem Nagel hängt, der da schon immer war und an dem schon immer die Schlüssel zweiter Ordnung aufgehoben werden und von dem niemand weiß, warum er da eigentlich ist. Der Nagel. Und der Schlüsselbund. Ich komme an mein Auto. Ich schwör!
Thilo Schneider, Jahrgang 1966, freier Autor und Kabarettist im Nebenberuf, LKR-Mitglied seit 2021, FDP-Flüchtling und Gewinner diverser Poetry-Slams, lebt, liebt und leidet in der Nähe von Aschaffenburg.