Henryk M. Broder / 18.02.2022 / 10:00 / Foto: Imago / 110 / Seite ausdrucken

Und jetzt auch der Martenstein

Am 6. Februar erschien im Tagesspiegel, laut SZ „Berlins führender Regionalzeitung“, eine Kolumne von Harald Martenstein zum Thema „Nazi-Vergleiche“. Darin ging es um „Impfgegner“, die sich mit einem Gelben Stern kenntlich machen, auf dem das Wort „ungeimpft“ steht. Eine klare Anspielung auf das Schicksal der Juden im Dritten Reich, allerdings nicht die erste und einzige dieser Art.

Martenstein begann seine Kolumne mit einem Rückblick auf eine Kundgebung in Jerusalem vor zehn Jahren. Ultraorthodoxe Juden demonstrierten gegen die israelische Regierung, viele trugen den „Judenstern“ an ihrer Kleidung. „Ihrer An­sicht nach ver­hielt sich der Staat Is­rael ihnen ge­gen­über so ähn­lich wie die Na­zis. Auch beim ‚Marsch gegen Is­la­mo­pho­bie‘, 2019 in Pa­ris, waren ‚Judens­ter­ne‘ zu se­hen, nur mit fünf Za­cken statt sechs“.

Laut God­wins Ge­setz, so Martenstein, „taucht in jeder öf­fent­li­chen Dis­kus­sion von emotio­na­ler Be­deu­tung ir­gend­wann ein Na­zi­ver­gleich auf“. Heute würden „Do­nald Trump, Wla­di­mir Pu­tin, Se­bas­tian Kurz oder die AfD mit Hit­ler oder der NSDAP ver­gli­chen oder gar gleich­ge­setzt“, so etwas könnte man durch­aus „Ver­harm­lo­sung des Ho­lo­caust“ nennen.

Dehm schießt den Vogel ab

So habe die bri­ti­sche Zeit­schrift „New States­man“ An­gela Mer­kel „die ge­fähr­lichste deut­sche Füh­rungs­per­sön­lich­keit seit Adolf Hit­ler“ genann­t, ein SPD-Politiker die CSU mit der NSDAP verglichen. „Den Vogel ab­ge­schos­sen“ habe allerdings Die­ther Dehm von der Links­par­tei, als er zur Bun­des­prä­si­den­ten­wahl 2010 anfragte: „Was wür­den Sie ma­chen, wenn Sie die Wahl hät­ten zwi­schen Hit­ler und Sta­lin?“ Dehm bezog sich auf die Kandidaten Joa­chim Gauck und Chris­tian Wulff.

Martenstein wies darauf hin, dass der Hit­ler­ver­gleich „na­tür­lich nie stimmt“, wer ihn benutzt, „möchte sein Ge­gen­über als das ab­so­lut Böse dar­stel­len, als Nicht­men­schen“. Und: „Der Ver­gleich will Hit­ler ge­rade nicht ver­harm­lo­sen, er macht ihn zu einer Art Atom­bom­be, die einen po­li­ti­schen Geg­ner mo­ra­lisch ver­nich­ten soll. Der ‚Ju­dens­tern‘ da­ge­gen soll seine mo­der­nen Trä­ger zum ab­so­lut Guten ma­chen, zum to­ta­len Op­fer. Er ist immer eine An­ma­ßung, auch eine Ver­harm­lo­sung, er ist für die Über­le­ben­den schwer aus­zu­hal­ten. Aber eines ist er si­cher nicht: an­ti­se­mi­tisch.“ Denn: „Die Trä­ger iden­ti­fi­zie­ren sich ja mit den ver­folg­ten Ju­den… Von de­nen, die das ‚an­ti­se­mi­tisch‘ nen­nen, wür­den wahr­schein­lich vie­le, ohne mit der Wim­per zu zu­cken, Trump mit Hit­ler und die AfD mit den Nazis ver­glei­chen. Der Wi­der­spruch in ihrem Ver­hal­ten fällt ihnen nicht auf.“

Eine ruhige, sachliche Analyse eines seltsamen Phänomens, wie sie ruhiger und sachlicher nicht sein könnte. Aber schon zu gewagt für eine Zeitung, die sich selbst das „Leitmedium der Hauptstadt“ nennt und den Spruch „Rerum cognescere causas“ – „Den Dingen auf den Grund gehen“ zum Leitspruch gewählt hat. Einen Tag stand die Martenstein-Kolumne auf der Tagesspiegel-Seite, dann verschwand sie. An ihrer Stelle erschien eine „Stellungnahme der Chefredaktion“, mit der das Verschwinden erklärt wurde. Hier ist sie im vollen Wortlaut:

Am 6. Februar veröffentlichte der Tagesspiegel an dieser Stelle eine Kolumne von Harald Martenstein, in der es um „Nazi-Vergleiche“ ging. Darin wurde die These aufgestellt, das Tragen von „Judensternen“ auf Corona-Demonstrationen mit der Aufschrift „Ungeimpft“ sei zwar „eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung“ und „für die Überlebenden schwer auszuhalten“, aber „sicher nicht antisemitisch“, weil die Träger sich mit verfolgten Juden identifizierten. Die Kolumne wurde sowohl innerhalb der Redaktion als auch von Leserinnen und Lesern stark kritisiert.

Die Chefredaktion hat sich in den vergangenen Tagen intensiv mit dieser Kolumne und der Kritik daran auseinandergesetzt. Wir haben mit Kolleginnen und Kollegen, mit Wissenschaftlern und Betroffenen gesprochen und selbstverständlich auch mit dem Autor und wir kommen zu dem Schluss, dass wir diese Kolumne so nicht hätten veröffentlichen sollen; wir haben sie deshalb zurückgezogen.

Wir haben grundsätzlich unsere redaktionellen Abläufe sowie unsere Qualitätskontrolle und unser Selbstverständnis überprüft. Dazu stellen wir klar: Es gehört zum Selbstverständnis des Tagesspiegels, ein breites Meinungsspektrum abzubilden. Wir sind davon überzeugt, dass die Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Gedanken, Ideen und Argumenten ein Gewinn für uns selbst, für unsere Leserinnen und Leser und letztlich auch für die Demokratie ist – gerade auch dann, wenn wir uns an ihnen reiben. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir über alle journalistischen Genres hinweg die Standards dieser Redaktion einhalten.

Dazu zählt für uns: Wir trennen deutlich zwischen Vermutungen und recherchierten Erkenntnissen. Wenn ein ernsthafter wissenschaftlicher Dissens besteht oder eine wissenschaftliche Minderheitsmeinung vertreten wird, machen wir das deutlich und ordnen es nachvollziehbar ein. Grundlage unserer Texte sind immer die Recherche, die Erkenntnis und das Argument. Wir verteidigen die Meinungsfreiheit, sind uns aber deren Grenzen bewusst.

Dabei gilt: Nicht alles, was rechtlich betrachtet gesagt werden darf, ist dem Ton des Tagesspiegels angemessen. Scharf dürfen Glossen, Kolumnen und Kommentare sein; persönlich verletzen sollten sie nicht. Wir nutzen Ironie, aber wir vermeiden Zynismus. Wir verzichten auf Provokationen um der Provokation Willen und vermeiden Graubereiche, die zu Missverständnissen einladen oder verleiten. Wir orientieren uns an Rationalität mehr als an Emotionalität und bleiben menschlich respektvoll. Alle Texte, die im Tagesspiegel veröffentlicht werden, müssen diesen Kriterien gerecht werden.

Die „Stellungnahme der Chefredaktion“ ist etwa dreimal so lang wie die Martenstein-Kolumne. Wer immer sie verfasst hat, hat sich viel Mühe gegeben, wie ein Häretiker, der aus Angst vor dem Scheiterhaufen alles widerruft, auch das, was er nicht gesagt hat.

Niemand hat dem Tagesspiegel vorgeworfen, dass er zynisch berichtet oder kommentiert, dass er Provokationen um der Provokation Willen einsetzt (was auch nicht weiter schlimm wäre) oder dass er Emotionalität der Rationalität vorzieht. Der Tagesspiegel ist eine liberal-konservative Zeitung, die Meinungsvielfalt praktiziert, mal mehr, mal weniger, je nachdem, woher der Zeitgeist weht. Derzeit kommt er aus der radikalen Mitte, die sich gerne führen und kommandieren lässt und einer Regierung vertraut, von der sie entmündigt und enteignet wird. So etwas nennt man in Deutschland „Demokratie leben!“

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Uta Buhr / 18.02.2022

Nachtrag:  Ich liebe Harald Martensteins Kolumnen, die stets mit hintergründigem Humor gewürzt sind. Auf keinen Fall möchte ich sie missen, Ich hoffe, dass dieser sanfte Satiriker sich von dem hirnrissigen Chef des Tagesspiegels nicht einschüchtern lassen wird. Ein enteierter Martenstein - welch grauenhafter Gedanke! Wie wäre es, wenn diese inzwischen nach ganz links gerutschte Postille Frau “Doktor” Angela Merkel in Zukunft die wöchentliche Kolumne schreiben ließe? Die hat auf jeden Fall die richtige Haltung. Und da sie, wie wir aus sechzehnjähriger Erfahrung wissen, eine äußerst elegant formulierende Rhetorikerin ist, wird sie doch auch exzellent schreiben können. Die Chefreaktion sollte einmal über meinen Vorschlag nachdenken. Der aller letzte Leser macht dann das Licht aus.

Martin Wessner / 18.02.2022

Der Tagesspiegel ein “liberal-konservatives” Blatt mit einem Artikel, mit der Überschrift: “Danke liebe AntiFa!” wie vor ein paar Jahren? Nene. Der TS ist schon seit langem eine Postille für gealterte Berliner Dauerstudenten, die in ihrer Berichterstattung ganz viel woke und links und nur ganz wenig liberal oder gar konservativ daher kommt. Man versuche mal einen “liberal-konservativen” Leserbrief bei der Zeitung zu schreiben und ihn online zu veröffentlichen Hihihi. Viel Glück.

Daniel Oehler / 18.02.2022

Deutschlands Leidmedien sind auf dem Weg oder besser auf einer Abwärtsspirale ins Nichts: Political Correctness - politische Katriertheit - radikale Zensur - Irrelevanz. Selbständig denkende Demokraten lesen Blogs, denkfaule Unterthanen konsumieren Leidmedien

Klaus Biskaborn / 18.02.2022

Es muss doch in dieser westlichen Welt, nicht nur in Deutschland , eine Vielzahl Menschen geben, die sich als Sprach- und Gesinnungspolizei, ausgestattet mit unglaublich viel Macht , betätigen. Mir fehlt eine Recherche wer diese Menschen sind, wer sie bezahlt, sie müssen unglaublich viel Zeit haben und wer ihnen ganz gezielt diese Macht verleiht, eine Mehrheit zu reglementieren, ihnen quasi das Wort und eine Meinung zu verbieten. Warum wird diesen Menschen immer so untertänigst gefolgt?

Wolfgang Hoppe / 18.02.2022

“Nicht alles, was rechtlich betrachtet gesagt werden darf, ist dem Ton des Tagesspiegels angemessen”. Besser kann man Haltungsjournalismus nicht definieren. Vielen Dank, lieber Tagesspiegel für das antidemokratische Outing.

Georg Andreas Crivitz / 18.02.2022

Die NS-Vergleiche häufen sich in letzter Zeit. Natürlich kann man die Ausgrenzung Umgeimpfter nicht mit den Maßnahmen gegen die Juden im Dritten Reich auf eine Stufe stellen. Noch absurder ist aber die Unterstellung, Menschen, die gegen geplante staatliche Zwangsmaßnahmen demonstrieren, würden den Nationalsozialismus wieder einführen wollen. Letztgenannter NS-Vergleich scheint aber im politischen und medialen Establishment niemanden zu stören.

Uta Buhr / 18.02.2022

Mein Gott, wie ich diese typisch deutsche Korinthenkackerei hasse. Warum schwurbelt dieser Mensch von Chefredakteur so lange um den heißen Brei herum? Er sollte sich ehrlich machen und seinen noch verbliebenen Lesern erklären, dass sein Käseblatt sich schon lange von der einst gepflegten liberal-konservativen Linie verabschiedet hat und jetzt dem von “janz oben” verordneten Haltungsjournalismus huldigt. An manchen Stellen meine ich herauslesen, dass der Redakteur innerlich eine andere Position vertritt und nolens volens das schreibt, was von ihm erwartet wird. In der heutigen Zeit gehört viel Mut zur Äußerung der eigenen Meinung, die vom Mainstream abweicht. Aber wir leben ja in einer perfekten Demokratie im besten Deutschland aller Zeiten. Det hatte ick im Eifer des Jefechts janz verjessen!

Dilia Regnier / 18.02.2022

Der Tagesspiegel möchte nicht verletzen, schreibt er. Wen könnten die besorgten Chefredakteure dabei im Blick haben? Die Juden in Deutschland? Mich jedenfalls hat nie jemand gefragt, ob ich tatsächlich verletzt bin, wenn sich meine vermeintlichen Fürsprecher in Presse und Politik mal wieder schützend vor mich werfen, damit mich nur ja niemand verletzt. Aber seien wir ehrlich: Bei diesen Zerfleischungsdiskussionen geht es doch ausschließlich darum, dass sich deutsche „Meinungsführer“ als moralisch einwandfrei darstellen, egal, was die paar Juden im Land denken. Wer Antisemit ist, das bestimmt immer noch die Obrigkeit in Deutschland, und dazu muss man die Meinungsführer leider zählen. So wie sie damals bestimmte, wer Jude ist. Dabei hilft ihr ein selbstverständlich lupenrein unabhängiger - weil vom Staat finanzierter - Zentralrat. Unsereins kann nur hoffen, dass Letzterer uns nicht irgendwann zu Nichtjuden erklärt, weil wir uns nicht ausreichend verletzt fühlen, wenn ein Herr Martenstein es wagt, eine ausgewogene Meinung zu vertreten.

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