Roland Nelles, der alte Kaffeesatz-Leser, hat wieder einmal tief in die Tasse geschaut. In der Rubrik „Affären“ bringt uns der SPON-Korrespondent in Washington D.C. auf den letzten Stand seiner Vermutungen. Noch in dieser Woche, erfahren wir, werde es dem amerikanischen Präsident an den Kragen gehen. „Für Trump naht die Stunde der Wahrheit“, steht über dem Artikel zu der „offenbar unmittelbar bevorstehenden Fertigstellung des Abschlussberichts von Russlandermittler Robert Mueller“.
Schließlich „dürften“ dann „allein harte Fakten präsentiert“ werden. „Endlich könnte es“, prophezeit Nelles, „konkrete Antworten um die Fragen geben, die das Land seit Monaten beschäftigen", nämlich: "Ist Trump persönlich in eine Verschwörung mit dem Kreml verwickelt, die das Ziel hatte, die US-Präsidentenwahl zu manipulieren? Flossen Geld oder Informationen zwischen Trumps Wahlkampfteam und Moskau? Ist Trump durch die Russen erpressbar? Hat er die Justiz bei den Ermittlungen zu der Affäre behindert?“
Zwar wisse „derzeit außer Mueller und seinem Team niemand, was wirklich in dem Bericht stehen wird“. Auch sei es „weiterhin möglich, dass Mueller keine eindeutigen Belege für Rechtsverstöße des Präsidenten gefunden hat“. Doch heißt das ja keineswegs, dass da nicht doch noch etwas zu entdecken wäre: Ein Geheimnis hinter der Realität, Zweideutiges, das sich allein manisch begabten Journalisten wie Roland Nelles erschließt.
Das Geschreibsel von gestern
Dass seine eigene Redaktion erst vor zwei Wochen, wenngleich widerstrebend, meldete, Mueller habe eingeräumt, auf „keinen sachlichen Beweis für eine Absprache zwischen Trumps Wahlkampfteam und Russland“ gestoßen zu sein, mag Roland Nelles im fernen Washington entgangenen sein. Außerdem, welchen Grund sollte es für ihn geben, sich um das Geschreibsel von gestern zu kümmern?
Seit jeher stehen die Wahrsager in der Gnade ihrer Verblendung. Was sie vorhersehen, entspringt ihrer Intuition, der Offenbarung aus dem Kaffeesatz der eigenen Überzeugung, einer Ideologie oder schlichtweg dem moralisierenden Hochmut. Mit ihrer Meinung wollen sie den anderen den Weg weisen. Fakten werden dementsprechend eingeordnet, oft auch verfremdet. „Framing“ lautet der kaschierende Terminus für diese neue Form des indoktrinierenden Journalismus.
Manchem mag es müßig erscheinen, sich überhaupt noch mit dem intellektuellen Sittenverfall der Medien zu befassen. Viele unsere Leser schreiben das in ihren Kommentaren. Nur sind eben Der Spiegel und sein Online-Ableger, was die Verbreitung anbelangt, keine Käseblätter. Vielmehr zählen sie nach wie vor zu den Leitmedien, denen viele vertrauen. Beispielhaft stehen sie für die Methoden einer wahrsagenden Berichterstattung, eines Journalismus, der insinuiert, wo er informieren sollte.
Etwas bleibt immer hängen
Mit dem Vorwurf der „Lügenpresse“ ist dagegen wenig auszurichten. Ergibt sich doch die Indoktrination nicht aus einer falschen Tatsachenbehauptung, sondern aus der bedrohlichen Vorhersage von Ereignissen oder Entwicklungen im Konjunktiv, womit wir wieder bei Roland Nelles wären.
Dürfte, würde, könnte, das sind die Hilfsverben, mit denen er suggeriert, woran seine Leser glauben sollen. Irgendetwas von den Annahmen und Vermutungen wird schon hängen bleiben, selbst wenn sich nachher herausstellen sollte, dass an alledem nichts dran ist, weil es keine „sachlichen Beweise“ gibt.
So hat uns der Washingtoner Hellseher von SPON jetzt schon einmal die „Eröffnung eines Amtsenthebungsvefahrens“ gegen Donald Trump geweissagt. Und wenn später daraus nichts werden sollte, kann das nicht mit rechten Dingen zugehen. Dann hat der Justizminister „wichtige Hinweise auf mögliche Vergehen Trumps unter den Teppich“ gekehrt. Der Erleuchtete weiß immer, wie es kommen soll, damit er recht behält.