Henryk M. Broder / 28.03.2021 / 12:00 / Foto: Imago / 75 / Seite ausdrucken

Im Zweifel gegen den Angeklagten

In einem intakten Rechtsstaat hat jeder Beschuldigte, vom Ladendieb bis zum Mörder, das Recht auf einen fairen Prozess. Dazu gehört, dass nicht er seine Unschuld beweisen muss, sondern die Anklage, vertreten durch den Staatsanwalt, die Schuld des Angeklagten. Und der gilt so lange als unschuldig, bis das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen wurde. Man nennt dieses Prinzip die „Unschuldsvermutung“. 

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948 heißt es:

„Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachge-wiesen ist.“

Eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen, wie sie auch in dem Satz „in dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten, zum Ausdruck kommt. Leider ist das in bestimmten Fällen oft nicht mehr die Regel – wenn ein Mann beschuldigt wird, eine frau sexuell oder sexistisch belästigt zu haben, physisch, verbal oder mit Blicken.

Das fliegende Gericht

Dann tritt an die Stelle der Unschuldsvermutung das fliegende Gericht der „metoo“-Bewegung zusammen und verkündet das Urteil: Schuldig! Die Vollstreckung des virtuellen Verdikts übernehmen die sozialen Medien. Selbst wenn sich später in einem ordentlichen Verfahren die Unschuld des Abgeurteilten herausstellen sollte, das Kainsmal bleibt.

Am 13. März konnte man in der „Welt“ lesen, der Chefredakteur der Bild-Zeitung, Julian Reichelt, habe sich „auf eigenen Wunsch vorübergehend von seiner Funktion freistellen lassen“, er weise „die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, die aktuell in einem Compliance-Verfahren untersucht werden, zurück“.

Der Springer-Verlag, in dem sowohl die „Welt“ wie die „Bild“ erscheinen, erklärte, die Untersuchung sei „noch nicht abgeschlossen“, daher werde „das Unternehmen derzeit keine weiteren Angaben zum Verfahren und zum Gegenstand der Vorwürfe machen“. 

Zu diesem Zeitpunkt machten Mutmaßungen und Spekulationen bereits die Runde. Die „Frankfurter Rundschau“ gab bekannt, worum es in dem Compliance-Verfahren ging: „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werfen ihm (Reichelt) Machtmissbrauch vor, Nötigung, Mobbing und Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen.“

Die FR und ihr Experte

Ein als Zeuge gegen Reichelt von der FR aufgerufener „Medienethiker“ namens Tanjev Schultz lieferte umgehend eine perfekte Ferndiagnose: „Psychosozial betrachtet kann die Arbeit bei so einem Boulevardblatt offenbar mit einer narzisstischen Kränkung einhergehen, die zu dem Impuls führt, andere Menschen fertigzumachen.“

Reichelts „Vergangenheit als Kriegsreporter“, sein „breitbeiniges Auftreten“, so der „Medienethiker“, würden gegen ihn sprechen. Wenig später präzisierte die Hamburger ZEIT die Vorwürfe. Reichelt stehe „wegen möglichen Machtmissbrauchs gegenüber Frauen unter Druck“, er soll „Frauen schlecht behandelt und seine Macht missbraucht haben“, indem er sie „im Zuge von intimen Beziehungen beruflich erst hochgelobt und später runtergeputzt“ habe.

Immerhin: von „missbrauchten Mitarbeitern“ war keine Rede mehr, es ging nur noch um Frauen, also Mitarbeiterinnen. Die ZEIT enthüllte auch, wer den Stein ins Rollen gebracht hatte: ein Mann, der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre, der „zeitweilig eine Beziehung“ mit einer Reichelt-Mitarbeiterin gehabt haben soll. 

Julian will keine Chinesen

Nachdem Reichelt die Bewerbung einer Moderatorin mit chinesischem Hintergrund für BILD TV abgelehnt hatte, verbreitete Stuckrad-Barre über WhatsApp, Reichelt sei „ein übler Rassist, Sexist, rechtsnationaler Hetzer. Weiß jeder. Klar. Aber ich habe es jetzt schwarz auf weiß: 'Julian will keine Chinesen.'“

Wie in solchen Fällen üblich, dauerte es eine Weile, bis aus dem Schneeball eine Lawine wurde, die nun auf BILD und den Springer Verlag zurollt. Es könnte sein, dass ein paar alte „Freunde“ offene Rechnungen mit Reichelt begleichen wollen, der BILD auf einen knallharten Anti-Merkel-Kurs geführt hat; möglich ist auch, dass sie „Reichelt“ sagen, aber „Döpfner“ meinen, den Chef des Springer-Verlages, der bis jetzt loyal zu Reichelt gehalten hat. Der einzige „Zeuge“, der sich öffentlich zu Wort gemeldet hat, ist Stuckrad-Barre, den, das weiß jeder, ein hypertrophes Ego auszeichnet. 

Das Ganze hat auch mit dem Zeitgeist zu tun, mit der Abschaffung der Unschuldsvermutung und der Umkehr der Beweislast in Fällen sexueller Belästigung. Haben Polizei und Gerichte lange Jahre eine erstaunliche Milde gegenüber Vergewaltigern praktiziert, schlägt das Pendel inzwischen zur anderen Seite aus. Der beschuldigte Mann muss beweisen, dass er zu unrecht beschuldigt wird. 

Kachelmann und Schwarzer

Wer wüsste das besser als der Schweizer TV-Moderator und Meteorologe Jörg Kachelmann, den eine Ex-Geliebte angezeigt hatte, worauf die Mannheimer Staatsanwaltschaft Anklage wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung erhob. Das Verfahren zog sich über ein Jahr hin und endete am 31. Mai 2011 mit einem Freispruch, der vier Monate später rechtkräftig wurde.

Es hatte Kachelmann seinen Ruf, sein Haus und seine Gesundheit gekostet. Und die BILD 395.000 Euro, die sie als Schmerzensgeld an Kachelmann zahlen musste, weil sie rufschädigend berichtet hatte.

Wobei sich die Alt-Feministin Alice Schwarzer, die der damalige BILD-Chefredakteur Kai Diekmann als Gerichtsreporterin verpflichtet hatte, mit Vorverurteilungen besonders hervortat. Sie zumindest scheint aus der Geschichte gelernt zu haben und hat bis jetzt nichts über Julian Reichelt gesagt.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche

 

Nachtrag: Inzwischen wurde das Compliance-Verfahren abgeschlossen. In einer Stellungnahme des Verlages heißt es:

„Der Vorstand ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht gerechtfertigt wäre, Julian Reichelt aufgrund der in der Untersuchung festgestellten Fehler in der Amts- und Personalführung – die nicht strafrechtlicher Natur sind – von seinem Posten als Chefredakteur abzuberufen." Reichelt selbst erklärte: „Ich weiß, ich habe im Umgang mit Kolleginnen und Kollegen Fehler gemacht und kann und will das nicht schönreden. Was ich mir vor allem vorwerfe ist, dass ich Menschen, für die ich verantwortlich bin, verletzt habe. Das tut mir sehr leid."

 

Foto: Imago

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Leserpost

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Dr. Günter Crecelius / 28.03.2021

Vielleicht ist der ‘knallharte Anti-Merkel Kurs’ ja nicht ganz unbeteiligt an den Beleidigung der Damen, die sich womöglich kollektiv als Mitglieder dieser merkelösen Untergruppe der Menschheit beleidigt fühlten, oder ihnen jemand die Beleidigung eingeredet hat, nur so eine Idee.

Rainer Niersberger / 28.03.2021

Wobei wir die Umkehr der Beweislast, ein ideologisch begruendetes, rechtsstaatliches Desaster, uebrigens mit dem Antidiskriminierungsgesetz legalisiert, differenziert nach Taetergruppe anwenden.  Fuer noch dazu “maechtige” (ein entscheidender Faktor, der mit Recht nichts zu tun hat) weisse! Männer gilt die Schuldvermutung kraft Amt und Hautfarbe. Eine Widerlegung, dem StGB fremd, gestaltet sich naturgemaess schwierig, denn “nichts” zu beweisen, ist rein logisch unmoeglich. Man kann"etwas"beweisen, im Rechtsstaat eine Behauptung oder eine Tat, oder eben auch nicht, aber nicht, daß nichts (strafrechtlich) Relevantes stattgefunden hat. Das Ganze wird ja allein durch eine Aussage oder genauer eine Vermutung oder Unterstellung ausgelöst und fuehrt zu den besonders aus den USA bekannten intergeschlechtlichen Distanzierungen oder zum notariellen Vertrag vor dem unter (weiblichen) Zeugen stattfindenden GV in Schweden. Bekanntlich kann es sich die Dame mittendrin warum auch immer noch anders ueberlegen und der Mann es versäumen, immer wieder die Freiwilligkeit zu erfragen. Gilt wie gesagt nicht fuer die sprachunkundigen, machtlosen Bereicherer aus dem Morgenland. Da fuehlt sich Frau trotzdem irgendwie “besser”. Ein Wahnsinn mit Methode und natuerlich bleibt immer etwas “hängen”.

Alois Fuchs / 28.03.2021

Ach Herr Broder, so weit kommt man “im besten Deutschland, das wir je hatten” doch gar nicht mehr, dass bei einem Urteil “in dubio pro reo” angewendet werden könnte. Hier bleibt man schon weit vorher auf dem Weg der Rechtsstaatlichkeit stecken, wenn es heißen müsste: “Audiatur et altera pars” (auch die Gegenseite muss angehört werden).

Paul Siemons / 28.03.2021

Stuckrad-Barre? Alles klar. Dann hat Reichelt dem mal irgendwann die letzte Nase weggerüsselt. Mit so was macht man sich natürlich Feinde fürs Leben.

Biggi Jaspert-Gärtner / 28.03.2021

Lieber Herr Broder, hier wird derzeit ein ganzes Volk unter Generalverdacht gestellt, potentielle Gefährder und ggf. Superspreader von Corvid 19   zu sein und deshalb eingesperrt, anders kann man es gar nicht ausdrücken. Weder eine objektive, noch eine subjektive Schuld kann den meisten Menschen nachgewiesen werden. Allein die Tatsache, dass manche Menschen hier, und ich gönne es ihnen herzlich, nach Malle in Urlaub fahren, ruft einen öffentlichen Entrüstungssturm hervor, der sie zu verantwortungslosen Zombies, Corvidioten etc. macht. Und was kümmert es 80% der hier Lebenden??? Alles ist gut, die da oben werden es schon richten!

Hans Reinhardt / 28.03.2021

Ja, Herr Broder, es wird jetzt schneller und härter geurteilt. Allerdings nur, wenn es sich um “Sexismus” handelt, man also jemanden aufgrund mangelnder Qualifikation nicht einstellt obwohl es sich doch um eine FRAU handelt, eine Einladung um Essen ausspricht, womöglich noch in ein Restaurant in dem Fleisch serviert wird und manchmal reicht auch schon ein ungeschicktes Kompliment. Eine physische Vergewaltigung hingegen, bei der einer Frau tatsächlich körperliche Gewalt angetan wird, wird nach wie vor von den meisten Gerichten als eine Art Ordnungswidrigkeit betrachtet. Insbesondere, wenn die Täter noch nicht so lange hier wohnen. Da muss man schon mal das eine oder andere Auge zudrücken und fünfe (oder egal, wie viele es diesmal waren) gerade sein lassen.

Josef Fischer / 28.03.2021

Irrtum: Das mit der Unschuldsvermutung ist ein Recht, das der Bürger gegen den Staat hat, nicht gegen andere Bürger, weder gegen metoo noch Herrn Schultz. Das sollte Herr Broder aus seiner langen Erfahrung mit entsprechenden Gerichtsverfahren eigentlich wissen.

Mathias Rudek / 28.03.2021

Das Julian Reichelt im Laufe der Zeit auf seiner Karriereleiter einiges unterlaufen ist, bleibt nicht aus, ist ihm auch von anderen Außenstehenden nicht vorzuwerfen. Das passiert in jedem Unternehmen und Behörden ständig. Die jetzt laufende Kampagne ist klar lanciert, die Gründe dafür sieht doch jeder. Aber für so ein egozentrisches Gemisch wie Stuckrad-Barre sollte das mal Konsequenzen haben, Reichelt schwersten Rassismus zu unterstellen. Dafür ist ist dieser Literaten-Darsteller ein woker Kokser und Alkoholiker, der sich zur Zeit permanent unbeachtet wähnt, kann ich genauso behaupten. Solche denunzierenden Typen sollten öfter mal ihre Fresse halten.

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