Thomas Rietzschel / 31.05.2019 / 06:25 / Foto: Jake Barreiro / 56 / Seite ausdrucken

Die Politik, das Grundgesetz und die Meinungsfreiheit

Der Termin liegt bald eine Woche zurück. Die Sonntagsreden sind gehalten und verhallt. Siebzig Jahre Grundgesetz abgefeiert, als sei es um die Straßenverkehrsordnung oder einen Verein zur Pflege des Brauchtums gegangen. Im Garten des Bundespräsidenten trafen sich Angela Merkel und Roland Kaiser bei Kaffee und Kuchen. Die Maisonne strahle über berüchtigten, berühmten und weniger berühmten Gästen sowie über Lieschen Müller und dem kleinen Mann der Straße. Von einer „wunderbaren Tafel“ sprach die Kanzlerin nachher.

Ob sie zuvor selbst einmal in das gefeierte Gesetzeswerk geschaut hat, wissen wir nicht. Spielt auch keine Rolle. Über ihr Verhältnis dazu ist genug gesagt. Dass sie mit dem Text wenig anzufangen weiß, nie begreifen konnte, was da geschrieben steht, pfeifen mittlerweile die Spatzen der eigenen Partei von den Dächern. Die meisten ihrer Kollegen mögen das sogar gut verstehen. Spricht doch wenig dafür, dass die politische Klasse generell in der Sache noch sonderlich belesen ist. Bis zu den Artikeln 56 und 64  scheinen die wenigsten vorgedrungen zu sein. Der darin festgeschriebene Amtseid, demnach die Mitglieder der Regierung ihre „Kraft dem Wohl des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden“ sollen, ist längst ein frommer Wunsch geworden, für viele unvereinbar mit der persönlichen Karriereplanung, den Belangen der Parteien oder der Europäischen Union.

Mit dem Grundgesetz ins Bett

Ober sticht Unter, die Realität das Gesetz. Kein Grund also, sich länger durch den Paragraphen-Dschungel zu schlagen, nicht einmal für den Bürger. Wer, Hand aufs Herz, würde noch mit Grundgesetz unterm Kopfkissen einschlafen, obwohl es doch genug Anlässe gäbe, nach der Deckung des politischen Handelns durch die Verfassung zu fragen. Ob großen Teilen des Volkes als Souverän überhaupt noch bewusst ist, welche Freiheiten das Grundgesetz den Bürgern zusichert.

Man lese nur Artikel 5, wo es heißt: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“. Wie kann es da sein, dass just einen Tag vor Steinmeiers Kaffeeklatsch zum Siebzigsten des Grundgesetzes bekannt wurde, nur noch 18 Prozent der Deutschen würden es noch wagen, sich im öffentlichen Raum frei zu äußern. Glauben wir der repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, dann zieht sich eine Mehrheit von 58 Prozent in die Familien oder den Freundeskreis zurück, wenn sie über „Tabuthemen“ wie Islam oder Flüchtlingspolitik sprechen will: die freie Meinungsäußerung hinter vorgehaltener Hand.

Vergessene Freiräume

Gut möglich, dass manche schlichtweg vergessen oder nie gewusst haben, welche Freiräume ihnen das Grundgesetz garantiert. Die Jüngeren zumal dürften davon im multikulturellen Schulunterricht wenig mitbekommen haben. Ebenso und wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Bürger, Frauen und Männer, das Vertrauen in eine Verfassung verlieren, auf die das politische Gewerbe selbst nicht mehr viel geben mag – bei einer autokratisch verfügten Grenzöffnung nicht anders als beim Verhökern des Volksvermögen für die Schnapsidee vom vereinten Europa.

Der Fisch aber, hat uns Brecht gelehrt, stinkt stets vom Kopfe her. Der Bundespräsident höchstselbst versprach seinen Gästen an der Kaffeetafel zur Feier des Grundgesetzes, dasselbe „auf die Probe“ zu stellen. Denn: „Freiheit braucht Regeln.“ Und offenbar sollen das andere sein, als sie mit der Verkündigung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 aufgestellt wurden. „Das Verfassungswerk“ müsse sich „fortentwickeln“, sagte die Kanzlerin. Ein Schelm, dem dabei Böses schwant, eine historische Rolle rückwärts nach Jahrzehnten ungeregelter Meinungsfreiheit.

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Leserpost

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Andreas Mertens / 31.05.2019

Das Grundgesetz wurde spätestens am 31. März 2000 zur Farce als das Parteiproporz besetzte Verfassungsgericht (4. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts [BGBl I S. 1473] ) =>einstimmig<= beschloss, das Artikel 146 (Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist) nur einen nur einen rein deklaratorischen Charakter besitze. Wer auch immer sich danach noch über egal was wunderte,  dem ist nicht mehr zu helfen.

Leo Hohensee / 31.05.2019

Auch in der Familie treten schon Feindschaften hervor durch die bloße Meinungsäußerung!

Udo Kemmerling / 31.05.2019

“...dann zieht sich eine Mehrheit von 58 Prozent in die Familien oder den Freundeskreis zurück…” Und wenn sie dann an der Wahlurne stehen, sind sie zu blöde die Konsequenzen aus dieser Tatsache zu ziehen. WAS????

Richard Loewe / 31.05.2019

Die ersten 20 Artikel des GG sind “ewig”. Dr Merkel und Konsorten haben mindestens 2 davon schon abgeschrieben und planen, den Rest ebenfalls “auszusetzen”. Klingt wie 1933, oder? Und ist viel einfacher, weil man keinen Praesidenten mehr braucht, der einen ermaechtigt.

Robert Jankowski / 31.05.2019

Wer glaubt denn, angesichts mehr oder weniger gleichgeschalteter ÖR Medien oder den permanenten Angriffen auf persönliche Grundrechte (AA Stiftung), denn überhaupt noch an das Recht auf freie Meinungsäußerung? Gleichschaltung für ein freies Europa ist die offizielle Devise, während die Islamisierung immer weiter subventioniert wird und fortschreitet. Deutschland verrecke im fortgeschrittenen Stadium.

jo pabst / 31.05.2019

Es braucht keine großen Änderungen des GG. Allein §5.2 sagt: “Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.” Und habe ich erst die Justiz gleichgeschaltet, dann kann ich ungestört Gesetze erlassen, die zBsp das Leugnen der Klimakathastrophe oder das Nichtgendern unter Strafe stellen. Das GG deckt das. Und Möchtegernblockwarte werden sich auch genug finden.

Paul Braun / 31.05.2019

Freilich hat ein jeder das Recht seine Meinung zu äußern - außer ein Gesetz verbietet es ;-) ... Artikel 5 (2)—- oder aber auch: “Niemand darf wegen seines Geschlechtes, ... oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.” ... Artikel 3 (3)... Hoppla, wie erklärt sich dann, dass die AfD noch immer keinen Bundestagsvizepräsidenten stellen darf? Oder - so las ich heute im Internet - eine Bibliothekarin in Dresden von Studenten angemobbt wird, weil sie für die AfD (als Parteilose) kanditiert? ...—- Für die eigenen Meinung ein zu stehen erfordert mittlerweile wieder viel Mut und bisweilen flinke Füße nach der Demo.

Gudrun Meyer / 31.05.2019

Es ist doch ganz einfach: das kaum verständliche Zeug, das da im GG über das Wohl des dt. Volkes steht, ist total “völkisch” und dürfte demnächst als “verfassungsverfeindlich” aus der Verfassung fliegen. Das “Freiheit Regeln braucht”, hat AKK laut ´rausgehauen, als sie verlangte, die Meinungen im Netz müssten “reguliert” werden, alles andere sei “Meinungmache”. Rezos Video im Netz, das ihr missfallen hatte, war eine zulässige Meinungsäußerung, wenn auch inhaltlich weniger überzeugend (“97% der Klimaforscher sind sich einig”. Über was, sagte Rezo nicht) AKKs Vergleich mit den bösen 70 Zeitungen, die den Lesern davon abraten, CDU oder SPD zu wählen, wäre früher (bis etwa 2010) sofort auf ein “na und?” gestoßen. Es wäre ja eine von der Pressefreiheit gedeckte Meinungsmache. AKK und die ganze Pluralistenfront könnten dann zwar jammern, aber nicht die Zeitungen verbieten. AKK scheint das nicht mehr zu begreifen. Und dass 82% der Befragten der Meinung sind, man könne außer in der Pariafreiheit der kleinen Gruppen weit abseits der Öffentlichkeit eben nicht mehr seine Meinung zu Tabuthemen äußern, verstehen unsere Politgenies entweder nicht als Warnzeichen, oder sie haben längst kapiert, dass es zwar aufsässiges Gemurmel gegen ihre Freiheits- und Meinungsregulierungen gibt, sie am Ende aber doch von 75%  - 85% der Wähler bestätigt werden.

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