Jesko Matthes / 30.04.2022 / 10:00 / Foto: Pixabay / 169 / Seite ausdrucken

Deutsche Geistesgrößen schreiben an die falsche Adresse

Mehr oder weniger Prominente haben in kurzer Zeit bereits zum zweiten Mal einen offenen Brief an den Kanzler geschrieben, um ihn vor Waffenlieferungen an die Ukraine bzw. einer Eskalation bis hin zum Atomkrieg zu warnen.

Schauen wir, wer dabei ist, und ein wenig auch, welche Geschichten und Argumente sie vorzuweisen haben.

Zu den Verfassern des ersten Briefs gehört der Liedermacher Konstantin Wecker, der auf seiner Webseite schreibt: Als Antimilitarist und Pazifist bin ich fest davon überzeugt, dass nur eine internationale Friedens- und Antikriegsbewegung diesen verbrecherischen Angriffskrieg von Putins Machtapparat gegen die Menschen in der Ukraine stoppen kann und wird. Ja, nee, is‘ klar, Konstantin: Peace for our time!. Allerdings haben andere als Wecker längst ein kritischeres Verhältnis zu ihrer eigenen traditionellen Sicht auf – oder eher zu ihrem Wegsehen von – Osteuropa. In der Liste der Unterzeichner des zweiten Offenen Briefes finden sich auch Ranga Yogeshwar, Dieter Nuhr, Juli Zeh und Alice Schwarzer.

Die Merkel? Nein, der Merkel!

Interessanter als alle bislang Genannten zusammen ist sicher der Fall des Reinhard Merkel. Der Staatsrechtler-Emeritus zeichnete sich bereits 2014 als Putin-Apologet aus, wenn auch, nach kurzem Vorpreschen in der FAZ, etwas verklausulierter und unter Zuhilfenahme der üblichen historischen Windungen in einer völlig zu unrecht als „Streitgespräch mit Jan-Philipp Reemtsma“ betitelten akademischen Plauderei.

Etwas direkter macht es Daniela Dahn, Mitzeichnerin des ersten Briefs, die die Kriegsschuld gleich pauschal dem „Westen“ zuschiebt, so als habe es die – verfehlten – Annäherungen von SPD und CDU/CSU, ferner die Ergebenheitsadressen von Linkspartei und AfD an das Putin-Regime nie gegeben, und dazu tritt im zweiten Brief auch noch Alexander Kluge, der sich offenbar an vergangene Ideologien lieber und kritischer erinnert als an gegenwärtige Menschenrechtsverstöße und Kriegsverbrechen, auch dann noch, wenn er selbst noch eher kürzlich vor dem Verkennen solcher Risiken warnte.

Es wird skurriler als das, denn dabei sind – in nie geahnter Eintracht – auch Martin Walser, der sonst von seinen Mitzeichnenden eher als einer der Wegbereiter des Rechtspopulismus gemieden wurde, und Reinhard Mey, der seinerseits einen vielleicht im Jahre 2004 aktuellen und zur gegenwärtigen Lage völlig unpassenden Liedtext über ferne Kriege im Wüstensand offenbar für ebenso gewichtig hält wie Martin Walser nicht nur seine eigene höchst vitale Vernunft. Mey und Walser, das ist für mich ein besonders verblüffendes Hufeisen, das wohl geschmiedet werden musste, solange das Feuer der beiden noch reichte.

Wer ist denn auf Atomkriegs-Kurs?

Nun darf niemand mit dem Risiko eines Atomkriegs leichtfertig umgehen. Aus meiner Sicht hätte man dies vor allem Herrn Putin – im Sinne der Spieltheorie – so deutlich machen müssen wie möglich, lange bevor der erste russische Soldatenstiefel ukrainischen Boden betrat. Und so werden nun auch die genannten Geistesgrößen berechtigte und im Falle von Kluge und Walser durch eigene Erfahrung begründete Motive für ihre Mahnung in die Waagschale legen können, die man beachten soll. Umso misstrauischer macht mich allerdings, was und wie sie das in ihren verlinkten Statements tun; es erscheint nicht so, als speiste sich das alles aus aktueller Information oder Analyse, sondern mal aus Naivität, mal aus vorgefertigten oder tradierten Ideen vom Interessenausgleich und Frieden, deren Gegenteil längst eingetreten ist, und mehr oder wenig verhohlen aus einer seltsam linksrechten Bewunderung für den Aggressor. Das alles tun die Hochmögenden in einer Situation, in der selbstverständlich zuerst derjenige den Atomkrieg riskiert, der ihn beginnt; und das ist nicht der deutsche Bundeskanzler.

Irgendwie ist Letzteres wohl auch den Unterzeichnenden des zweiten Briefs aufgegangen, und da macht es sich gut, am Ende in guter deutscher Philosophentradition ein paar aus ihrem inneren Zusammenhang schwer nachvollziehbare universale Thesen abzusondern:

Eine zweite „Grenzlinie“ sei das Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung. „Dazu steht selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor in einem unerträglichen Missverhältnis. Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren 'Kosten' an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.“

Wie jetzt? Selbst der berechtigte Widerstand steht zum Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung in einem unerträglichen Missverhältnis? Oder ist es der Atomkrieg, der bitteschön wozu in irgendeinem Verhältnis steht? Und wer behauptet denn, dass Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung fielen? Die Unterzeichner etwa? Putin, dem sogar das Leben seiner eigenen Soldaten egal ist? Selenski? Der Bundeskanzler? – Sorry, liebe Kulturschaffende, ich verstehe diesen ganzen Absatz nicht, wer ist denn Euer Adressat? Es hilft alles nichts, Euer und mein Verstand stehen da in einem unerträglichen Missverhältnis…

Aber, es gibt Bedeutsameres, das ich nicht verstehe: Warum habt Ihr Eure Offenen Briefe denn nicht an Putin, Medwedew und Lawrow geschrieben – oder an Wolodymyr Selenski?

P.S.: Allen wirklich kulturell Interessierten sei daher Rainer Maria Rilkes „Lied von der Gerechtigkeit“ ans Herz gelegt.

Foto: Pixabay

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Walter Weimar / 30.04.2022

Deutschland ist schon lange eingespannt als Kriegsteilnehmer für den nächsten Weltkrieg. Es ist das Kriegsspiel USA gegen Rußland, indem wir schon seit Jahren der Versalle der USA sind. Angefangen haben die USA mit Bruch des Minsker Abkommen, Deutschland und die EU haben mitgegeifert gegen Rußland. Die Quittung bekommt Europa. Die Überraschung der Russischen Antwort gegen die Ukraine ist geheuchelt, weil lange bekannt. Das deutsche Dummvolk, bearbeitet von den “Qualitätsmedien”, blökt mit in das Regierungshorn. Es ist wie zu Hitlers Aufmarschzeiten, nur diesmal schlimmer. Deutsche aktive Kriegsteilnahme in kleinen Schritten.

K.Braun / 30.04.2022

Bernd Gottschalk / 30.04.2022 “...ich hätte nie gedacht, dass so viele Deutsche so doof sind! ...anstelle Hirn und Mund zum Verhandeln einsetzen - lieber mit den Fäusten stumpf aufeinander einschlagen…” Top!

Marco Schulz / 30.04.2022

All ihr Mutigen, wie stellt ihr euch das vor? Wäre mal richtig was los, biblische Verhältnisse. Oder gar nichts, wenn keiner den Knopf drückt. Wer weiß. Ich kann mir aber ein realistisches Szenario ausmalen. Für einen strategischen Angriff braucht es keine Atomwaffen. TU95, TU160, vielleicht ein paar U-Boote starten Marschflugkörper, bevor irgend eine Alarmrotte der BW auch nur den Kaffee abgestellt hat. Wichtige Infrastruktur wird auf Jahre hinaus zerstört. So dauert etwa die Fertigung eines großen Transformators für die Stromversorgung Monate. Dann stehen hier in Deutschland endlich wirklich alle Räder still, wie es selbst die “Pandemie” nicht vermochte. Dann ist nicht etwa endlich eure Langeweile weg, sondern das Leben wird sehr unkomfortabel.  Glaubt mir, es wird euch nicht gefallen. Und keinem wäre geholfen. Helfen könnte ihr dann auch nicht mehr. Nur Mühsal und Langeweile. Also ich zerbreche mir nicht den Kopf. Wirtschaftlicher Stillstand würde auch zu gut dem Reset dienen.

S.Niemeyer / 30.04.2022

Alle Skeptiker und Warner sofort an den Pranger der Diffamierung, jawoll! US Militärs trainieren UA Militärs auf deutschem Boden, bravo Deutschland! Die Reihen geschlossen, jawoll!  Hallo Achse, noch da?

Arne Ausländer / 30.04.2022

@Arthur Sonnenschein: “Die Eskalation in der Ukraine läuft seit mehr als einem Vierteljahrhundert und beruht auf Gegenseitigkeit.” Auch wenn gelegentlich gesagt wird (historisch korrekt), die Kiewer Ruß sei das eigentliche, ursprüngliche Rußland, das Moskauer Staatsgebilde nur ein ausgewuchertes Randgebilde (was natürlich die letzten 300 Jahre sehr verzerrt), von ukrainischen Annexionsabsichten ist mir nichts bekannt, das wird nicht mal von der russischen Propaganda behauptet. Obwohl es in Rußland Millionen Ukrainer gibt, deren Sprache dennoch offiziell nicht vorkommt, die eher verächtlich belächelt werden, wenn man sie beim Sprechen erkennt, als “Khokhly” verhöhnt. Schon immer, nicht erst seit den Konflikten der letzten Jahre! Das Khanty-Mansijskij-Gebiet in Westsibirien wird gern als Khokhly-Mansijskij-Gebiet bezeichnet, weil dort so viele Ukrainer leben, freiwillig zum Teil wegen Jobs, aber auch viele einst Deportierte. Gegenseitig? Die Ukrainer in Rußland beschweren sich nicht mal, niemand fordert die Ukraine zum Eingreifen auf. Genauso wenig wie die meisten der von Rußland in Anspruch genommenen Russen in der Ukraine an solchem interessiert sind. Von den tonangebenden russischen Agenten und ihren Nachplapperern abgesehen. Welches es - wie man sieht - auch hierzulande reichlich gibt. Ganze Netzwerke vom ‘ex’-KGB. Für die wie auch für den “Zaren” gilt die Umkehrung des alten Spruchs “Rußland ist weit”, dort muß man nicht hinschauen. - Rußland plant (seit 1991 durch das Gebilde Transnistrien sichtbar) die Re-Annexion der Ukraine, so bald die Verhältnisse es zulassen. Von Gegenseitigkeit keine Spur! (Die Ausdrücke “Moskaly” oder “Raschisty” wurden erst seit der russischen Aggression 2014 von manchen popularisiert, das ist nicht alt wie “Khohkly”, eher wie das “Ukropy” u.ä. der Russen.)

Ulla Schneider / 30.04.2022

Tja, und wenn ich das hier alles so lese…....ein Teil der A-Bömbchen liegen hier immer noch -schön verbuddelt- .  Nicht alle sind mitgenommen worden.  Sollen die auch in die Ukraine???  - Ich will einen DIPLOMATEN, der seine Sache richtig versteht, es können auch 10 davon sein und keinen Krieg in flächenbrandnaher Zukunft. - Das ist die Frage!!! Namen bitte.  Kann die einer mal beantworten??  Oder gibt es nur noch “Pfeifenheinis”! Wer hat einen vernünftigen Vorschlag? Und noch etwas Herr Matthes, es ist völlig egal an wen die Post geht. Sie steht groß im Internet und kann von jedem gelesen werden, auch von dem Präsidenten Rußlands (der Deutsch spricht) oder Ukraines.

Wolfgang Nirada / 30.04.2022

Es ist natürlich schwachsinnig einfach so zu behaupten Putin wäre das Leben seiner Soldaten gleichgültig… In der Ukraine leben bekanntermaßen auch Russen und die waren Herrn Putin im Gegensatz zum gesamten Westen und dem Verfasser des obigen Machwerks ganz und gar nicht gleichgültig!!! Dieses ganze Russenbashing wird euch eines Tages genauso auf die Füße fallen wie den öffentlichen Hetzmedien ihre Coronalügen…

Thomas Taterka / 30.04.2022

@Alexander Mazurek Es ist ja nicht die Schuld der USA, daß die Europäer ÜBERHAUPT KEINE Geostrategie entwickeln .( Es sei denn , die USA schlagen eine vor )  - Hätte ich 2 Weltmeere zwischen mir und dem Rest der Welt, würde ich mir vielleicht auch überall Vasallen anlachen ( oder kaufen ) und Konflikte am Rand des Herrschaftsbereichs meiner Gegner schüren , was das Zeug hält . Die wären dann endlos untereinander beschäftigt und ich könnte zum Schluß  immer als Vermittler auftreten , wie die Unschuld vom Lande . Das ist sehr clever , wenn man Weltmacht bleiben will und sieht auch gut aus . Den Ärger samt Schaden haben immer die anderen . Und beim Wegräumen könnte ich dann freundlich ” helfen ” . Wie gesagt, clever irgendwie. Langfristig. Macht heißt die anderen in die Scheiße reinreiten zu lassen und den Brand zum eigenen Vorteil löschen zu können , wenn endlich darum gebettelt wird .

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