Mehr oder weniger Prominente haben in kurzer Zeit bereits zum zweiten Mal einen offenen Brief an den Kanzler geschrieben, um ihn vor Waffenlieferungen an die Ukraine bzw. einer Eskalation bis hin zum Atomkrieg zu warnen.
Schauen wir, wer dabei ist, und ein wenig auch, welche Geschichten und Argumente sie vorzuweisen haben.
Zu den Verfassern des ersten Briefs gehört der Liedermacher Konstantin Wecker, der auf seiner Webseite schreibt: Als Antimilitarist und Pazifist bin ich fest davon überzeugt, dass nur eine internationale Friedens- und Antikriegsbewegung diesen verbrecherischen Angriffskrieg von Putins Machtapparat gegen die Menschen in der Ukraine stoppen kann und wird. Ja, nee, is‘ klar, Konstantin: Peace for our time!. Allerdings haben andere als Wecker längst ein kritischeres Verhältnis zu ihrer eigenen traditionellen Sicht auf – oder eher zu ihrem Wegsehen von – Osteuropa. In der Liste der Unterzeichner des zweiten Offenen Briefes finden sich auch Ranga Yogeshwar, Dieter Nuhr, Juli Zeh und Alice Schwarzer.
Die Merkel? Nein, der Merkel!
Interessanter als alle bislang Genannten zusammen ist sicher der Fall des Reinhard Merkel. Der Staatsrechtler-Emeritus zeichnete sich bereits 2014 als Putin-Apologet aus, wenn auch, nach kurzem Vorpreschen in der FAZ, etwas verklausulierter und unter Zuhilfenahme der üblichen historischen Windungen in einer völlig zu unrecht als „Streitgespräch mit Jan-Philipp Reemtsma“ betitelten akademischen Plauderei.
Etwas direkter macht es Daniela Dahn, Mitzeichnerin des ersten Briefs, die die Kriegsschuld gleich pauschal dem „Westen“ zuschiebt, so als habe es die – verfehlten – Annäherungen von SPD und CDU/CSU, ferner die Ergebenheitsadressen von Linkspartei und AfD an das Putin-Regime nie gegeben, und dazu tritt im zweiten Brief auch noch Alexander Kluge, der sich offenbar an vergangene Ideologien lieber und kritischer erinnert als an gegenwärtige Menschenrechtsverstöße und Kriegsverbrechen, auch dann noch, wenn er selbst noch eher kürzlich vor dem Verkennen solcher Risiken warnte.
Es wird skurriler als das, denn dabei sind – in nie geahnter Eintracht – auch Martin Walser, der sonst von seinen Mitzeichnenden eher als einer der Wegbereiter des Rechtspopulismus gemieden wurde, und Reinhard Mey, der seinerseits einen vielleicht im Jahre 2004 aktuellen und zur gegenwärtigen Lage völlig unpassenden Liedtext über ferne Kriege im Wüstensand offenbar für ebenso gewichtig hält wie Martin Walser nicht nur seine eigene höchst vitale Vernunft. Mey und Walser, das ist für mich ein besonders verblüffendes Hufeisen, das wohl geschmiedet werden musste, solange das Feuer der beiden noch reichte.
Wer ist denn auf Atomkriegs-Kurs?
Nun darf niemand mit dem Risiko eines Atomkriegs leichtfertig umgehen. Aus meiner Sicht hätte man dies vor allem Herrn Putin – im Sinne der Spieltheorie – so deutlich machen müssen wie möglich, lange bevor der erste russische Soldatenstiefel ukrainischen Boden betrat. Und so werden nun auch die genannten Geistesgrößen berechtigte und im Falle von Kluge und Walser durch eigene Erfahrung begründete Motive für ihre Mahnung in die Waagschale legen können, die man beachten soll. Umso misstrauischer macht mich allerdings, was und wie sie das in ihren verlinkten Statements tun; es erscheint nicht so, als speiste sich das alles aus aktueller Information oder Analyse, sondern mal aus Naivität, mal aus vorgefertigten oder tradierten Ideen vom Interessenausgleich und Frieden, deren Gegenteil längst eingetreten ist, und mehr oder wenig verhohlen aus einer seltsam linksrechten Bewunderung für den Aggressor. Das alles tun die Hochmögenden in einer Situation, in der selbstverständlich zuerst derjenige den Atomkrieg riskiert, der ihn beginnt; und das ist nicht der deutsche Bundeskanzler.
Irgendwie ist Letzteres wohl auch den Unterzeichnenden des zweiten Briefs aufgegangen, und da macht es sich gut, am Ende in guter deutscher Philosophentradition ein paar aus ihrem inneren Zusammenhang schwer nachvollziehbare universale Thesen abzusondern:
Eine zweite „Grenzlinie“ sei das Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung. „Dazu steht selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor in einem unerträglichen Missverhältnis. Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren 'Kosten' an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.“
Wie jetzt? Selbst der berechtigte Widerstand steht zum Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung in einem unerträglichen Missverhältnis? Oder ist es der Atomkrieg, der bitteschön wozu in irgendeinem Verhältnis steht? Und wer behauptet denn, dass Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung fielen? Die Unterzeichner etwa? Putin, dem sogar das Leben seiner eigenen Soldaten egal ist? Selenski? Der Bundeskanzler? – Sorry, liebe Kulturschaffende, ich verstehe diesen ganzen Absatz nicht, wer ist denn Euer Adressat? Es hilft alles nichts, Euer und mein Verstand stehen da in einem unerträglichen Missverhältnis…
Aber, es gibt Bedeutsameres, das ich nicht verstehe: Warum habt Ihr Eure Offenen Briefe denn nicht an Putin, Medwedew und Lawrow geschrieben – oder an Wolodymyr Selenski?
P.S.: Allen wirklich kulturell Interessierten sei daher Rainer Maria Rilkes „Lied von der Gerechtigkeit“ ans Herz gelegt.