„Die in ihrer Semantik nicht leicht verdauliche Dublin-III-Verordnung“, hat der Bonner Professor für Öffentliches Recht Klaus Ferdinand Gärditz dieses EU-Gesetz sehr feinsinnig charakterisiert.
„In der Flüchtlingsdebatte überschlagen sich die Ereignisse“, schrieb die FAZ am 18. August 2018. „Den Auftakt machte die Kanzlerin, die in Spanien eine Wahrheit entdeckte, die man im Berliner Kanzleramt lange nicht gefunden hatte. Merkel bezeichnete die derzeitigen europäischen Asylregeln als ‚nicht funktionsfähig‘. Das sogenannte Dublin-System sieht vor, dass in der Regel jener Staat für einen Flüchtling zuständig ist, in dem er zuerst den Boden der EU betritt. ‚Nach der Theorie‘ dürfe deshalb nie ein Flüchtling in Deutschland ankommen, so die deutsche Regierungschefin. Das entspreche aber ‚nicht der Realität‘. Mit anderen Worten: Das europäische Asylrecht wird seit Jahren unzureichend durchgesetzt, offiziell bestätigt von der Kanzlerin. Man reibt sich die Augen.“
Juristen sprechen in einem solchen Zusammenhang seit Georg Jellinek (1851-1911) gerne von der „normativen Kraft des Faktischen“. In seiner Allgemeinen Staatsrechtslehre (3. Aufl. 7. Neudruck, 1960) schreibt Jellinek (Seite 353), als hätte er unsere heutige Situation vor Augen:
„Von dem falschen Dogma der Geschlossenheit des Rechtssystems erfüllt, übersieht die Jurisprudenz in der Regel, daß die Rechtsgeschichte zugleich auch eine Geschichte der Rechtsbrüche und der rechtsleeren Räume innerhalb der Rechtsordnungen und neben ihnen ist, und vermag daher nur vermittelst einer an Unrichtigkeit den kühnsten naturrechtlichen Spekulationen vergleichbaren Fiktion den Schein durchgängiger Rechtskontinuität zu wahren.“
Wenn man statt „rechtsleere“ „rechtsfreie“ (No-Go-Areas) setzt, befindet man sich mitten in der Gegenwart.
Nun darf man die Worte der Kanzlerin nicht unbedingt auf die Goldwaage legen, da ihre Rhetorik nicht minder schwer verdaulich ist als die Semantik der Dublin-III-Verordnung, wie ich an anderer Stelle (und hier) ausgeführt habe. Doch auch auf ihrer dreitägigen Afrika-Tour sprach sie von „illegaler Migration“, die es einzudämmen gelte. Wenn Kanzlerinnen-Worte überhaupt einen Sinn haben, kann sie damit nur eine Migration gemeint haben, die gegen alle Rechtsregeln erfolgt. Leider ist nicht erkennbar, welche Konsequenzen Merkel aus ihrer neuen Erkenntnis ziehen will. Dass 2015 sich nicht wiederholen darf, hat sie ja schon einige Zeit vorher auf dem 29. CDU-Parteitag in Essen am 6. Dezember 2016 verkündet. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass außer „Fluchtursachen bekämpfen“ uns wieder einmal nur „Formeln des Nichts“ erreichen werden.
Die schon lange missachteten Regeln
Dass Italien und Griechenland schon lange vor dem „Schicksalstag“ des 4. September 2015 die Dublin-Regeln missachtet haben, indem sie Flüchtlinge ohne Registrierung nach Deutschland „durchwinkten“, kann für die Bundesrepublik schwerlich eine Entschuldigung sein. Vielmehr wirkt sich diese Praxis eher insofern erschwerend aus, als die Situation vom September 2015 keineswegs unvorhersehbar war, wie zuweilen behauptet wird (mit Video). Aber über welche Regeln reden wir in diesem Zusammenhang eigentlic?
EURODAC
Die einschlägige Regelung heißt mit vollem Namen „Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Neufassung)“ und findet sich im Amtsblatt der Europäischen Union L 180/1 vom 29.6.2013. Ich nehme es keinem übel, den bei der Lektüre dieses Titels leichter Schwindel befällt (mir ging es beim ersten Mal so). Doch es hilft nichts: Da müssen wir durch. Schließlich handelt es sich bei der EU-Verordnung um unmittelbar geltendes Recht, das keiner Umsetzung durch die Mitgliedstaaten bedarf (Artikel 288 AEUV - Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union).
Die Verordnungsgeber, DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION führen einleitend 54 Gründe für den Erlass dieser Verordnung an. Dabei geht es unter anderem um den „Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung des Dubliner Übereinkommens“.
Als Aufgabe von EURODAC wird in Artikel 1 Absatz 1 definiert:
„Es wird ein System mit der Bezeichnung ‚Eurodac‘ eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, nach Maßgabe der vorliegenden Verordnung die Bestimmung des Mitgliedstaats, der gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 [= Dublin III] für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zu unterstützen und allgemein die Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 unter den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen zu erleichtern.“
Artikel 9 Absatz 1 Satz 1 bestimmt: „Jeder Mitgliedstaat nimmt jeder Person, die internationalen Schutz beantragt und mindestens 14 Jahre alt ist, umgehend den Abdruck aller Finger ab und übermittelt die Fingerabdruckdaten zusammen mit den in Artikel 11 Buchstaben b bis g der vorliegenden Verordnung aufgeführten Daten so bald wie möglich, spätestens aber 72 Stunden nach Antragstellung gemäß Artikel 20 Absatz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 an das Zentralsystem.“ Dadurch soll verhindert werden, dass ein „Asylbewerber“ in mehreren Mitgliedstaaten einen „Asylantrag“ stellen kann.
Nach Artikel 3 Absatz 5 wird das „Verfahren zur Erfassung von Fingerabdruckdaten ... gemäß der nationalen Praxis des betreffenden Mitgliedstaats und unter Beachtung der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes verankerten Schutzklauseln festgelegt und angewandt.“ Diese Regelung ist in § 49 des Aufenthaltsgesetzes getroffen.
„Für die erforderlichen Maßnahmen nach den §§ 48, 48a und 49 Absatz 2 bis 9 sind die Ausländerbehörden, die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden und die Polizeien der Länder zuständig“, § 71 Absatz 4 Satz 1 Aufenthaltsgesetz.
Diese rechtlichen Vorgaben haben die zuständigen Behörden nach dem 4. September 2015 monatelang missachtet. Letztlich geht das aber auf das Konto der Bundeskanzlerin und ihres damaligen Innenministers Thomas de Maizière, die sich nicht dazu durchringen konnten, den ursprünglichen Ausnahmezustand nach wenigen Tagen zu beenden.
Wäre dieser Rechtsbruch unterblieben, wären uns eventuell einige Straftaten so genannter Asylbewerber erspart geblieben.
Verletzung des Amtseids
Der Bundeskanzler und die Bundesminister leisten bei der Amtsübernahme vor dem Bundestag diesen Eid (Artikel 64 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 56 GG):
"Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe."
Diesen Eid hat die Bundeskanzlerin allein schon dadurch verletzt, dass sie durch die zugelassene ungebremste illegale Einwanderung die öffentlichen Haushalte in zweistelliger Milliardenhöhe belastet und außerdem den Sozialstaat einer Zerreißprobe aussetzt, die über kurz oder lang zu dessen Zusammenbruch führen muss.
Allerdings bleibt die Verletzung – im Gegensatz zum strafrechtlichen Meineid – ohne rechtliche Konsequenzen.
Ermöglichung der illegalen Einreise
„Die unerlaubte Einreise und der unerlaubte Aufenthalt im Bundesgebiet sind nach § 95 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) strafbar, weil diese Taten die ‚Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen‘ (vgl. § 1 AufenthG) als Grundlage des gesamten deutschen Aufenthaltsrechts unterlaufen und vereiteln. Wer sich in Deutschland ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel aufhält, ist zudem ausreisepflichtig und hat das Bundesgebiet zu verlassen (§ 50 Abs. 1, 2 AufenthG).“ Diese zutreffenden Ausführungen liest man in einem „Artikel“ (ohne Datumsangabe) auf der Homepage des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat.
Wenn man noch die Unterüberschrift dazu nimmt „Seit Jahren entwickelt sich insbesondere Deutschland zu einem wesentlichen Zielland irregulärer Migration in Europa“, liest sich das wie eine Anklage gegen die Bundeskanzlerin und ihren seinerzeitigen Innenminister Thomas des Maizière.
In der Tat sind denn auch nach einem Bericht der „Welt“ vom 30. August 2017 „1000 Strafanzeigen gegen Merkel seit Beginn der Flüchtlingskrise“ bei der Bundesanwaltschaft eingegangen – allerdings alle wegen „Hochverrats“, „weil die Flüchtlingspolitik die verfassungsmäßige Ordnung gefährde“, wie einem FOCUS-Beitrag vom 29. Oktober 2015 zu entnehmen ist. So hatte die Bundesanwaltschaft leichtes Spiel, die Anzeigen als „haltlos“ zu bezeichnen und kein Verfahren einzuleiten. Denn der entsprechende § 81 des Strafgesetzbuchs (StGB) lautet:
„(1) Wer es unternimmt, mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt
1. den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen oder
2. die auf dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beruhende verfassungsmäßige Ordnung zu ändern,
wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft.
(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.“
Nun kann man der Kanzlerin im Zusammenhang mit der „Flüchtlingskrise“ einiges vorwerfen, aber nicht „Gewalt oder Drohung mit Gewalt“, so dass Strafanzeigen wegen „Hochverrats“ in der Tat haltlos sind.
Der Strafrechtler Holm Putzke (Uni Passau, CSU) weist aber auf folgendes hin:
„Solange Ausländer sich strafbar machen, wenn sie unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, ist die Strafbarkeit auch bei all jenen gegeben, die dazu Hilfe leisten. Dazu gehören Zugführer, die wissentlich Flüchtlinge über die Grenze transportieren, aber auch die deutsche Bundeskanzlerin, die mit ihrem Verhalten jedenfalls ab dem 5. September 2015 die unerlaubte Einreise aktiv gefördert hat und es aktuell unterlässt, sie zu unterbinden.“
Und zwar als Beihilfe gemäß § 27 Absatz 1 StGB zum Einschleusen von Ausländern nach § 96 Aufenthaltsgesetz: „Als Gehilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat.“
Oder unmittelbar nach § 96 Absatz 1 Nr. 1 Buchstabe b.
Beim „Einschleusen von Ausländern“ nach § 96 Aufenthaltsgesetz handelt es sich um ein so genanntes Offizialdelikt, dessen Verfolgung weder eine Strafanzeige noch ein Strafantrag voraussetzt. Entsprechendes gilt für die Beihilfe.
Begünstigung nach § 257 Absatz 1 StGB scheidet dagegen aus, da man den Verantwortlichen schwerlich vorwerfen kann, den Schleusern in der Absicht Hilfe geleistet zu haben, ihnen „die Vorteile der Tat zu sichern“.
„Der Rechtsbruch-Mythos und wie man ihn widerlegt“
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss erwähnt werden, dass es natürlich auch Gegenstimmen gibt. Hier hat sich besonders Prof. Dr. Daniel Thym hervorgetan, der an der Uni Konstanz einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht innehat.
„Bis heute hält sich hartnäckig die Meinung, dass eine „illegale Masseneinwanderung“ nach Deutschland stattfinde und an den Grenzen die „rechtsstaatliche Ordnung“ zusammengebrochen sei, exemplarisch bei der sogenannten „Erklärung 2018“, die unter anderem Vera Lengsfeld, Thilo Sarrazin und Uwe Tellkamp unterzeichneten. Hierbei bezieht sich der Vorwurf vom andauernden Rechtsbruch keineswegs nur auf die Situation im Winter 2015/16, als über die Westbalkanroute bis zu zehntausend Personen pro Tag nach Deutschland einreisten – auch in der Gegenwart soll eine fortwährende Illegalität herrschen.“
Im Vordergrund steht dabei die hochkomplexe und umstrittene Frage, inwieweit die nationalen Vorschriften hinter das vorrangige Unionsrecht zurücktreten müssen.
Außerdem geht es um die Auslegung der „in ihrer Semantik nicht leicht verdauliche(n)“ Dublin-III-Regeln.
Nachdem die Bundeskanzlerin und das Bundesinnenministerium selbst von illegaler Migration gesprochen haben, dürfte Thym freilich auf verlorenem Posten kämpfen. Klärung durch einen „Untersuchungsausschuss Merkel“, den die AfD und auch die FDP angekündigt haben, dürfte allerdings nicht zu erwarten sein, weil die jeweiligen Protagonisten hier wieder einmal den Mund zu voll genommen haben.
Fazit
Rechtsbrüche der „politischen Eliten“ sind seit der Wiedervereinigung derart gehäuft aufgetreten [die vorliegende Darstellung ist keineswegs vollständig], dass das Gerede vom „Rechtsstaat“, dessen ganze Härte diesen oder jenen treffen sollte und von der „Wiedergewinnung von Vertrauen“ in die Politik von den Bürgern und Wählern nicht mehr ernst genommen werden kann und offenbar auch überwiegend nicht mehr ernst genommen wird. Wenn der Bundesinnenminister die Migration als „Mutter aller politischen Probleme“ bezeichnet, hat er damit vermutlich in weit höherem Maße Recht, als er selbst ahnt. Wenn er hinzufügt „Das sage ich seit drei Jahren“, muss er sich allerdings fragen lassen, wie er diese Zeit politisch genutzt hat.
Welche Konsequenzen sich aus dieser hochexplosiven Situation ergeben, lässt sich kaum absehen. Vieles deutet aber darauf hin, dass der Protest gegen diese Missstände sich nicht auf friedliche Formen beschränken wird. Unverzügliches Gegensteuern ist daher das Gebot der Stunde. Aber wer sollte das leisten? Die Reaktion der Bundeskanzlerin zeigt jedenfalls, dass sie den Ernst der Lage (immer noch) nicht begriffen hat: „Ich sag' das anders“, sagte Merkel am Donnerstag [6. September 2018] im RTL-Sommerinterview. „Ich sage, die Migrationsfrage stellt uns vor Herausforderungen. Und dabei gibt es auch Probleme.“ Es gebe aber auch Erfolge. (Alle Zitate laut „Tagesspiegel“) Das größte Problem ist dabei die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende selbst. Aber sich das selbst einzugestehen, wäre einfach zu viel verlangt.
Teil 1: Das Grundgesetz
Teil 2: Der Solidaritätszuschlag
Teil 3: Der Atomausstieg
Teil 4: Rettung und Rente
Teil 5: Die „Flüchtlingskrise”