An den Anfang dieses Abschnitts möchte ich eine Mahnung von Prof. Dr. Ferdinand Gärditz (Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Uni Bonn) stellen:
„Was in aufgeplusterter Rhetorik zur ‚Herrschaft des Unrechts‘ erklärt wurde, entpuppt sich also als ein Knäuel diffiziler Rechtsfragen, über die sich ganze Dissertationen schreiben ließen. Für die Zulässigkeit wie für die Unzulässigkeit einer Zurückweisung von Schutzsuchenden an der deutschen Außengrenze lassen sich – wie meistens bei unerwarteten Szenarien – jeweils gute Argumente anführen. Schon dies sollte davor bewahren, das migrationspolitische Handeln der Bundesregierung seit dem Herbst 2015 vereinfachend als fortgesetzten Rechtsbruch zu diffamieren, aber auch (sachlich vorgetragene) rechtliche Kritik pauschal als Rechtspopulismus oder Ausdruck einer inhumanen Gesinnung abzuqualifizieren. Gefordert ist Nüchternheit und ein Quäntchen politische Weitsicht – auch über den 14. Oktober 2018 hinaus.“ Ein Hinweis auf die Landtagswahl in Bayern.
Die Sprache der Rechtsgutachten
Diese durchaus beherzigenswerte Mahnung erfordert allerdings ein paar Klarstellungen.
- Der seinerzeitige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, den Gärditz bei seiner Äußerung offenbar im Auge hat, hat die Formulierung von der „Herrschaft des Unrechts“ im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise nicht aus dem hohlen Bauch getroffen. Er konnte sich dabei auf das Rechtsgutachten des früheren Richters am Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Dr. Udo di Fabio, „Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem“ vom 8. Januar 2016 stützen, der darin (Seite 82) zusammenfassend konstatiert: „Doch um eine Feststellung kommt man auch beim besten Willen, pauschale Verantwortungszuweisungen zu vermeiden, nicht herum: Das geltende europäische Recht nach Schengen, Dublin und Eurodac wird in nahezu systematischerweise nicht mehr beachtet, die einschlägigen Rechtsvorschriften weisen ein erhebliches Vollzugsdefizit auf.“ Ob man angesichts dieser Aussage die von Seehofer verwendete Formulierung gut heißt, ist wohl letztlich eine Frage des Geschmacks.
- Dr. Ulrich Vosgerau, Privatdozent für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Universität Köln, hat ein ganzes Buch über „Die Asylkrise, die Krise des Verfassungsstaates und die Rolle der Massenmedien“ geschrieben und ihm den Titel „Die Herrschaft des Unrechts“ gegeben. Er geht dabei auf das „Knäuel diffiziler Rechtsfragen“ in einer Weise ein, die den Gärditz‘schen Vorwurf „aufgeplusterter Rhetorik“ zum Verstummen bringen sollte.
- Wenn Rechtsfragen so kompliziert sind, dass sich darüber „ganze Dissertationen schreiben ließen“, dann könnte man von einem Universitätslehrer für öffentliches Recht erwarten, dass er zu der Frage Stellung nimmt, wie sich das mit der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach „Normenklarheit“ (Randnr. 184) vereinbaren lässt:
„Das Gebot der Normenbestimmtheit und der Normenklarheit ... soll die Betroffenen befähigen, die Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelung zu erkennen, damit sie ihr Verhalten danach ausrichten können. Die Bestimmtheitsanforderungen dienen auch dazu, die Verwaltung zu binden und ihr Verhalten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß zu begrenzen sowie, soweit sie zum Schutz anderer tätig wird, den Schutzauftrag näher zu konkretisieren. Zu den Anforderungen gehört es, dass hinreichend klare Maßstäbe für Abwägungsentscheidungen bereitgestellt werden. Je ungenauer die Anforderungen an die dafür maßgebende tatsächliche Ausgangslage gesetzlich umschrieben sind, umso größer ist das Risiko unangemessener Zuordnung von rechtlich erheblichen Belangen. Die Bestimmtheit der Norm soll auch vor Missbrauch schützen, sei es durch den Staat selbst oder - soweit die Norm die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander regelt - auch durch diese. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, soweit Bürger an einer sie betreffenden Maßnahme nicht beteiligt sind oder von ihr nicht einmal Kenntnis haben, so dass sie ihre Interessen nicht selbst verfolgen können. Schließlich dienen die Normenbestimmtheit und die Normenklarheit dazu, die Gerichte in die Lage zu versetzen, getroffene Maßnahmen anhand rechtlicher Maßstäbe zu kontrollieren.“
- „Hunderttausendfachen Rechtsbruch“ habe die Kanzlerin begangen, als sie die Grenzen öffnete, sagt Medienanwalt Prof. Dr. Ralf Höcker von der CDU-Initiative „Konrads Erben“. Das klingt zunächst polemisch. Doch nach § 95 Absatz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz macht sich strafbar, wer „entgegen § 14 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 in das Bundesgebiet einreist“, also ohne Pass oder den erforderlichen Aufenthaltstitel. § 96 Absatz 1 Nr. 1 Buchstabe b bedroht denjenigen mit Strafe, der ihm zu dieser illegalen Einreise Hilfe leistet („wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern“). Auch hierzu wäre eine Stellungnahme von Gärditz angebracht gewesen. Insbesondere angesichts dieser Feststellung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz in seinem Urteil vom 14. Februar 2017 (Aktenzeichen: 13 UF 32/17, Randnr. 58): „Die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik ist in diesem Bereich ... seit rund eineinhalb Jahren [also seit September 2015] außer Kraft gesetzt und die illegale Einreise ins Bundesgebiet wird momentan de facto nicht mehr strafrechtlich verfolgt.“
Angesichts dieser Sach- und Rechtslage kann man schwerlich von „aufgeplusterter Rhetorik zur ‚Herrschaft des Unrechts‘“ sprechen, ohne sich selbst dem Vorwurf unsachlicher Polemik auszusetzen. Gefordert sind in der Tat „Nüchternheit und ein Quäntchen politische Weitsicht“ – auf allen Seiten.
Der Schutz der deutschen Außengrenzen
Der GG-Kommentator („Maunz/Dürig/Herzog/Scholz“) und frühere Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (1988-2002), Prof. em. (seit SS 2005) Dr. Rupert Scholz, hat sich zum Schutz der deutschen Außengrenzen wie folgt geäußert:
„Entschieden widersprach der renommierte Staatsrechtler der vielfach geäußerten Behauptung, eine Schließung der Grenzen innerhalb der EU wäre rechtswidrig. Das Gegenteil sei der Fall: Das Schengen-Abkommen sehe zwar offene Grenzen zwischen den EU-Staaten vor, jedoch ausdrücklich nur unter der Voraussetzung, dass die Außengrenzen der EU wirksam geschützt würden. Dies sei derzeit aber offensichtlich nicht gegeben, sodass die einzelnen Mitgliedsstaaten nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht hätten, ihre jeweiligen Landesgrenzen zu schützen. Folgerichtig hätten in jüngster Zeit zahlreiche EU-Staaten die Grenzkontrollen gegenüber ihren Nachbarn wiedereingeführt – während sich die deutsche Regierung immer noch weigere, diesen Schritt zu tun. ‚Frau Merkel behauptet, es wäre gar nicht möglich, die deutschen Landesgrenzen effektiv zu schützen‘, bemerkte Prof. Scholz. ‚Das zu beurteilen, liegt aber gar nicht in ihrer Kompetenz.‘
Es sei ein Grundsatz des Staatsrechts, dass die Existenz eines Staates von drei Kriterien abhänge: dem Vorhandensein eines Staatsvolks, eines Staatsgebiets und einer Staatsgewalt. Das Staatsgebiet definiere sich jedoch anhand seiner Grenzen; daher sei es für die Souveränität eines Staates unerlässlich, dass er willens und in der Lage sei, seine Grenzen zu sichern.“
Nur am Rande sei vermerkt, dass die Bundeskanzlerin zwar behauptete, man könne die (3.714 Kilometer lange) deutsche Grenze nicht schützen, gleichzeitig aber von der türkischen Regierung genau dies für ihre Grenzen verlangte. Dabei ging es weniger um die 2.816 lange Grenze der Türkei zu ihren Nachbarstaaten, sondern um die 7.200 km lange Küste zum Mittelmeer, wovon der besonders zerklüftete Teil auf die Ägäis entfällt, wo ein Dutzend griechischer Inseln teilweise in Sichtweite zur Türkei liegt. Eine bemerkenswerte Logik für eine promovierte Physikerin. Auch der EU mutete sie die entsprechende Leistung zu, so dass Innenminister de Maizière am 6. Oktober 2016 verkünden konnte: „Schutz der EU-Außengrenzen wird Realität“ oder was man in der Regierung Merkel so Realität nennt. Nur damit das klar ist: Die Küstengrenzen der Europäischen Union haben eine Länge von rund 66.000 Kilometern, wenn die Schutzmaßnahmen sich auch auf die südlichen Teile beschränken.
Akte der Selbstermächtigung?
Der frühere Präsident (1994 bis 2013) des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen, Dr. Michael Bertrams, hat Kritik an der „Selbstherrlichkeit“ von Kanzlerin Merkel in der Flüchtlingsfrage geübt:
„Merkels Vorgehen werfe die verfassungsrechtliche Frage auf, ob sie dazu überhaupt legitimiert war. ‚In unserer repräsentativen Demokratie liegen alle wesentlichen Entscheidungen – gerade auch solche mit Auswirkung auf das Budget – in den Händen der vom Volk gewählten Abgeordneten‘, so Bertrams mit Hinweis auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Parlamentsvorbehalt für den Einsatz bewaffneter deutscher Truppen im Ausland.
Ohne parlamentarische Zustimmung dürfe es solche Einsätze nicht geben. ‚Kann also schon die Entsendung einiger Hundert Soldaten nach Mali nur mit Zustimmung des Bundestags erfolgen, dann ist diese erst recht erforderlich, wenn es um die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge geht‘, so Bertrams.
‚Merkels Alleingang war deshalb ein Akt der Selbstermächtigung‘, betonte er und sprach von einer ‚selbstherrlichen Kanzler-Demokratie‘.“
Auch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages haben sich mit der Frage der unterbliebenen Parlamentsbeteiligung durch die Bundeskanzlerin befasst und sind dabei zum Ergebnis gekommen:
„Normativer Anknüpfungspunkt für eine Beteiligung des Bundestages im Zusammenhang mit der Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten könnte die als Wesentlichkeitslehre bezeichnete und aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip folgende Verpflichtung des Gesetzgebers sein, in grundlegenden normativen Bereichen, insbesondere im Bereich der Grundrechtsausübung, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.“
Ob die Bundesregierung gegen diese Wesentlichkeitslehre verstoßen hat, wird nicht explizit gesagt: „Dass der Legislative bei der Entscheidung über den Zuzug von Ausländern eine gewisse Begrenzungsfunktion zukommt, wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Familiennachzug deutlich. Dort heißt es:
‚Es [erg. das Grundgesetz] schließt weder eine großzügige Zulassung von Fremden aus, noch gebietet es eine solche Praxis. In dem von ihm gesteckten weiten Rahmen obliegt es der Entscheidung der Legislative und – in den von dieser zulässigerweise gezogenen Grenzen – der Exekutive, ob und bei welchem Anteil Nichtdeutscher an der Gesamtbevölkerung die Zuwanderung von Ausländern ins Bundesgebiet begrenzt wird oder ob und bis zu welchem Umfang eine solche Zuwanderung geduldet oder gefördert wird ; [...].‘“
Ein Blick ins Grundgesetz, Artikel 16a
Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig selbst führende Politiker das Grundgesetz kennen, obwohl sie sich ständig darauf berufen. Ein besonders krasses Beispiel lieferte die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Claudia Roth, die offenbar den Asylrechts-Artikel noch seit seiner Änderung im Jahr 1993 noch nie gelesen hat. Guckst Du hier (ab 2:00)!
Nach Artikel 16a Absatz 2 und 3 GG hätte auf dem Landweg kein einziger Flüchtling ein Recht auf Asyl in Deutschland, weil er entweder „aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften“ oder „aus einem anderen Drittstaat einreist“, in dem die Genfer Flüchtlingskonvention gilt (Schweiz). Wenn die Bundeskanzlerin vollmundig proklamiert „Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze; das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen“, so hat sie zwar im ersten Halbsatz abstrakt-theoretisch Recht. Im konkreten Zusammenhang liegt sie jedoch genauso daneben wie mit dem zweiten Halbsatz. „Notsituationen wie Armut, Bürgerkriege, Naturkatastrophen oder Perspektivlosigkeit sind ... als Gründe für eine Asylgewährung gemäß Artikel 16a GG grundsätzlich ausgeschlossen“, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) klargestellt hat.
Dass der Streit um die Obergrenze gleichwohl bis heute andauert, zeigt nur, wie wenig sich die politische Diskussion um die Rechtslage kümmert, mag sie auch noch so oft den „Rechtsstaat“ beschwören. Asyl nach Artikel 16a Absatz 1 GG kann nur beanspruchen wer auf dem Luft- oder Seeweg einreist. Demgemäß betrug die Zahl der 2016 nach § 16a Absatz 1 Anerkannten laut BAMF (Seite 47) 2.120, das sind 0,3 Prozent der „Gesamtschutzquote“.
§ 18 Absatz 2 Nr. 1 Asylgesetz bestimmt deshalb, dass einem Ausländer die Einreise zu verweigern ist, „wenn er aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a) einreist“. Sichere Drittstaaten sind außer den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Norwegen und die Schweiz (nach Anlage I zu § 26a).
Gegen diese Bestimmungen wurde aufgrund des „freundlichen Gesichts“ der Kanzlerin hunderttausendfach verstoßen.
Auf der Suche nach der Rechtsgrundlage
Bis heute ist die Rechtsgrundlage, auf der die Einreise von Asylsuchenden im Herbst 2015 genehmigt wurde, nicht geklärt.
Das haben auch Juristen der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages festgestellt. Dieser Bewertung liegt die folgende schriftliche Frage des Abgeordneten Stephan Stracke (CDU/CSU) zugrunde (Deutscher Bundestag, Drucksache 18/7510 vom 12.02.2016 Nrn. 39 u. 40):
„Mit welchem Wortlaut hat das Bundesministerium des Innern [BMI] nach § 18 Absatz 4 Nummer 2 des Asylgesetzes (AsylG) angeordnet, von der Einreiseverweigerung gegenüber Asylsuchenden nach § 18 AsylG abzusehen, und wie lange gilt bzw. galt diese Anordnung (bitte unter Angabe des Zeitpunktes und der Art der Veröffentlichung)?“
„Falls eine solche Anordnung nicht erfolgt ist, aus welchen Gründen hat das Bundesministerium des Innern von dieser Maßnahme abgesehen?“
Diese klaren Fragen brachten das BMI in arge Verlegenheit; denn eine solche Anordnung wurde nie getroffen, wie mir das Ministerium auf meine Mail-Anfrage am 26. Januar 2016 mitgeteilt hat. Entsprechend vage fiel die Antwort von Staatssekretärin Dr. Emily Haber aus:
„Maßnahmen der Zurückweisung an der Grenze mit Bezug auf um Schutz nachsuchende Drittstaatsangehörige kommen derzeit nicht zur Anwendung (§ 18 Absatz 2, 4 – AsylG). ... Die Regelungen in § 18 Absatz 2 bis 4 AsylG sind im Kontext des europarechtlichen Regelungsgefüges zu betrachten. Zurückweisungen an der Grenze sind im Rechtsrahmen der Dublin-III-Verordnung und des § 18 AsylG zulässig. ...
Die Entscheidung, den betreffenden Personenkreis nicht zurückzuweisen, wurde im Zusammenhang mit der vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den deutschen Binnengrenzen im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung getroffen.“
Letzteres war insofern unrichtig, als die Entscheidung über die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den deutschen Binnengrenzen nach dem 4. September 2015 getroffen wurde, nämlich am 13. September.
In dem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages heißt es zu der Antwort (auf Seite 11): „Andererseits wird die genaue Rechtsgrundlage des § 18 Abs. 4 AsylG in Bezug auf die Nr. 1 oder Nr. 2 gerade nicht benannt und das Vorliegen einer Anordnung des Bundesministeriums des Innern trotz der konkreten Fragestellung nicht ausdrücklich zurückgewiesen.“ (Kursiv von mir)
Wird fortgesetzt. Im nächsten Teil geht es um die Dublin-III-Verordnung.
Teil 1: Das Grundgesetz
Teil 2: Der Solidaritätszuschlag
Teil 3: Der Atomausstieg
Teil 4: Rettung und Rente