Rainer Grell / 01.10.2018 / 12:00 / Foto: Pixabay / 22 / Seite ausdrucken

Der Rechtsbruch hat viele Gesichter (1): Das Grundgesetz

Fangen wir ganz oben an, bei der Verfassung. Das Grundgesetz (GG) war als „Provisorium“ gedacht, weil nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches nicht das gesamte deutsche Volk, der eigentliche Verfassungsgeber, in der Lage war, eine Verfassung zu beschließen: Die Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone waren gehindert, an einem solchen Prozess teilzunehmen. Den unter alliierter Kontrolle stehenden westdeutschen Staaten fehlte die für einen solchen Vorgang erforderliche Souveränität: Der Parlamentarische Rat hatte die Vorgaben der drei Besatzungsmächte zu beachten, deren Militärgouverneure das GG auch genehmigen mussten (was mit Schreiben vom 12. Mai 1949 an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates, Dr. Konrad Adenauer, unter einigen Vorbehalten geschah). Deshalb hieß es in der Ursprungsfassung der Präambel ausdrücklich, dass das GG beschlossen wurde, „um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“ (Hervorhebung vom Verfasser).

Der Artikel 146

Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 waren der provisorische Charakter des GG hinfällig und der Weg für die Verabschiedung einer Verfassung frei. Für diesen Fall bestimmte Artikel 146 GG in der ursprünglichen Fassung:

„Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Durch den Einigungsvertrag wurde daraus:

„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Wie kam es zu dieser Änderung? Der völkerrechtliche „Vertrag zwischen der Bundesrepu­blik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag –“ vom 31. August 1990, in Kraft getreten am 29. September 1990 (BGBl. 1990 II, S. 1360), enthält gleich in Artikel 1 Absatz 1 die merkwürdige Formulierung vom „Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990" (Hervorhebung vom Verfasser). Noch merkwürdiger ist, dass dieser Artikel 23 durch Artikel 4 Nr. 2 des kurz zuvor in Kraft getretenen Einigungsvertrages aufgehoben worden war. Ein Beitritt also aufgrund einer nicht mehr existierenden Vorschrift? Diese lautete in ihrer ursprünglichen Fassung:

„Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“ Aus den Ländern Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern wurde 1952 der „Südweststaat“ Baden-Württemberg, und 1956 kam das Saarland hinzu (nach Artikel 1 Absatz 1 des Saarvertrages wurde der Beitritt zum 1. Januar 1957 wirksam). Jetzt waren’s ihrer elf; nach der Wiedervereinigung „die alten Bundesländer“. Normalerweise arbeiten Juristen in derartigen Situationen mit dem Konstrukt der „logischen Sekunde“, d.h. einer faktischen Gleichzeitigkeit, das aber bei einem Zeitraum von drei oder vier Tagen (vom 29. September bis 3. Oktober) schlechterdings nicht in Stellung gebracht werden kann.

Nun kann man sicher die Auffassung vertreten, dass der Zeitdruck nach dem Fall der Mauer einfach zu groß war, um eine Verfassung für „Gesamtdeutschland“ auszuarbeiten und das deutsche Volk in freier Entscheidung darüber beschließen zu lassen. Worüber man meines Erachtens dagegen nicht streiten kann, ist, warum dies nicht anschließend in aller Ruhe geschehen ist. Man muss darin nicht unbedingt einen Verfassungsbruch sehen, aber eine Missachtung der Volkssouveränität (Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 GG) ist es allemal. Wer sich näher über das Thema informieren möchte, dem sei die Abhandlung des GG-Kommentators Horst Dreier, „Das Grundgesetz - eine Verfassung auf Abruf?“ zur Lektüre empfohlen.

Der Artikel 29

Dass Regierung und Parlament das GG auch sonst nicht immer so ernst nehmen, wie es gemeint ist und wie sie bei jeder Gelegenheit gerne betonen, zeigt außerdem die Geschichte des Artikels 29 zur Länderneugliederung. Ich habe an anderer Stelle ausführlich geschildert, wie aus dieser ursprünglichen „Muss-Bestimmung“ (mit einer drei-Jahres-Umsetzungsfrist) zunächst eine „Kann-Vorschrift“ wurde, bis diese dann schließlich eine Form erhielt, die mit der Ursprungsfassung nur noch entfernte Ähnlichkeit hat.

Ziel der Neugliederung sollte sein, Länder zu schaffen, „die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können.“ Wer sich „Länder“ wie Berlin und Bremen (kleiner als Stuttgart) sowie das Saarland (kleiner als Köln) anschaut, die nur an der Herz-Lungen-Maschine des Länderfinanzausgleichs (von dem die Väter und Mütter des GG noch nichts wussten) überleben können – wegen der Einzelheiten verweise ich auf das „Gesetz über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern (Finanzausgleichsgesetz - FAG)“ vom 20. Dezember 2001 –, erkennt sofort die Bedeutungslosigkeit dieses GG-Artikels gegenüber der Urfassung.

Nach Artikel 29 Absatz 8 GG können auch die Länder eine Neugliederung für das jeweils von ihnen umfasste Gebiet oder für Teilgebiete durch Staatsvertrag regeln. Berlin und Brandenburg haben von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht, wobei sie sich auf die Sonderregelung des Artikels 118a GG stützen konnten, der eine Zustimmung des Bundestages entbehrlich macht, wurden aber bei den erforderlichen Volksentscheiden von der Bevölkerung in Brandenburg im Stich gelassen: JA-Stimmen Berlin 53,4 Prozent, JA-Stimmen Brandenburg 36,57 Prozent.

Wird fortgesetzt. Im nächsten Teil morgen geht es u.a. um den Solidaritätszuschlag.

 

 

Teil 2: Der Solidaritätszuschlag

Teil 3: Der Atomausstieg

Teil 4: Rettung und Rente

Teil 5: Die „Flüchtlingskrise”

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Leserpost

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Hubert Bauer / 01.10.2018

Herr Grell dürfte zwar Recht haben, aber die derzeitigen Politiker würden wohl keine Verfassung ausarbeiten, die noch so liberal wie das GG ist. Und so wie ich die derzeitige Stimmung im Deutschen Volk einschätze, würde es diesem Werk auch noch zustimmen. Da ist das Provisorium im Ergebnis nicht die schlechteste Wahl.

Ulrich Schily / 01.10.2018

Vielen Dank für den Ansatz. Es würde mich freuen, falls sie s schon kennen, andernfalls möchte ich hiermit es sehr empfehlen, das Buch von Hans Adam von Liechtenstein: der Staat im dritten Jahrtausend. Er gibt darin seine Erfahrungen und sehr gut verstehbare Vorschläge für Staatsregeln, die den Staat klein also bezahlbar halten. Gleichzeitig sind echte demokratische Vorschläge auch zur Nachahmung für Deutschland oder Europa, die vielleicht kleine Strukturen schaffen, die aber effektiver, friedlicher und kreativer sind als alle von oben herab gelassenen Vorschriften und Gesetze ( GG und EU ). Mit dem Vorschlag hätte Spanien getrost Katalonien abstimmen lassen können, wer sein Land selber regeln kann, warum sollte man ihm das verwehren.?

U. Unger / 01.10.2018

Ein schöner Hintergrundbeitrag, der den Abweg hervorragend beschreibt, auf dem unsere selbsternannten Allmächtigen unterwegs sind. @Martin Landner, danke für Ihre klaren Gedanken. Ich kann mich auch nicht erinnern, mit welcher Wahl oder Entscheidung all dies im Einklang mit der Verfassung beschlossen worden wäre. Aber die Mehrheit störts nicht, da auch Schulpflicht kein sicheres Mittel gegen Verblödung einer Gesellschaft ist. Gut das wir, die Bildung als Holschuld auffassen uns individuell noch verweigern dürfen. Solange haben wir hier mehr als gelegentlich noch was zu lachen.

Gabriele Klein / 01.10.2018

Danke dass Sie dieses Thema aufgreifen. Danke auch f. sehr treffende Leserkommentare. Tatsächlich ein Dauerbrenner mit unbegrenzter Folge… Mit Bedauern halte ich fest, dass mir monatlich 17,50 Quetschgebühren plus Steuer verfassungswidrig genommen werden, legt man die Verfassung VOR der Einführung der Quetschgebühren zu Grunde. Irgendwie änderte sich diese oder die Begründung stillschweigend mit dem zu Begründenden. Ich bin sicher nicht die Einzige die wenn sie “wollen” könnte die 17,50 zuzüglich Steuer lieber an Holocaust, Terroropfer oder sonstige Notleidende geben würde anstatt Lackschuh Moderatoren denen das Fett buchstäblich aus den Augen quillt und die anscheinend nicht genug bekommen können vom “Flaschengeld” der Armen, um es für sie als waschechte “Sozialisten” zu ver….. (walten).  Wenn ich wollen “könnte” würde ich auch bestimmte Texte gerne als freier Mensch wählen und dafür aus meinem Lohn für den ich arbeitete bezahlen,....  Allerdings “könnten” wir in diesem Staat dermaßen viel dass es von staatswegen nichts mehr zu “wollen” gibt…... Was will man mehr?

Bernhard Maxara / 01.10.2018

“From now on everything is possible”, verkündete einst Präsident Clinton nach der deutschen Vereinigung - eine sehr weitgefaßte Sentenz. Warum trat man nicht lieber in Verhandlungen zu einem nunmehr fälligen Friedensvertrag ein? Sodann wäre eine auf der Reichsverfassung fußende, neu formulierte und vom Volk bestätigte Verfassung angesagt gewesen. So aber leben wir in einem völkerrechtlichen Wechselbalg von Staatsgebilde mit einem Parlament, das in einem “Plenarbereich des Reichstagsgebäudes” tagt statt im deutschen Bundestagsgebäude, - lauter Unzustand.

Detlef Dechant / 01.10.2018

Eine Wiedervereinigung hat nie stattgefunden! Das hätte nämlich bedeutet, dass auf Basis eines gemeinsam zu beschließenden “Koalitionsvertrages”, sprich: Verfassung, ein Neustart gemacht worden wäre. Stattdessen ist ein bestehender deutscher Staat (DDR) per Beschluss seines Parlamentes (Volkskammer) dem anderen Staat (Bundesrepublik Deutschland) beigetreten. Und ein “Beitritt” bedeutet auch die Übernahme der bestehenden gesetzlichen Regelungen des Aufnehmenden durch den Aufzunehmenden. So sprach auch Genscher immer nur von der Herstellung der Einheit Deutschlands. “Wiedervereinigung” ist ihm meines Wissens nie über die Lippen gekommen!

Wolfgang Kaufmann / 01.10.2018

Ich würde in dieser Reihe gerne darüber lesen, auf welcher Grundlage eine Regierung die Souveränitätsrechte des Volkes einschränken kann. Jede Delegierung „nach oben“ müsste nach meinem Empfinden vom Wahlvolk explizit zur Entscheidung vorgelegt werden, insbesondere der Verzicht auf eine eigene Geldpolitik (Euro) und der weitgehende Verzicht auf eine eigene Gesetzgebung (EU-Richtlinien, die vom Parlament abgenickt werden müssen). Zum Teil stimmen die Fristen nicht, wenn die drei Lesungen binnen zweier Tage stattfinden, zum Teil wird die Mitsprache faktisch ganz ausgehebelt, wenn Hunderte Seiten in Juristen-Englisch binnen weniger Tage durchgepeitscht werden. Oder gar die grundlegende Umwandlung des Staatsvolks durch Masseneinwanderung. – Da hätte man sich die Revolution von 1848 gleich sparen können; mehr Diktatur wäre das auch nicht gewesen.

Armin Hoffmann / 01.10.2018

Da fällt ein bekanntes Zitat ein: „Sie können auch gar nicht mehr zerbrechen, Sie sind ja nur noch ein Häufchen Elend, das vor sich keine Achtung mehr hat.“

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