Es gibt etwas im deutschen Nationalcharakter, das jede Krise und jede Katastrophe unbeschadet überlebt, nach jeder Niederlage aufsteht und weitermacht, als wäre nichts passiert. Es ist die Überzeugung, dass Kritik „konstruktiv“ sein muss, dass man nichts schlechtreden darf, wenn man keine „Alternativen“ anbieten kann. „Was würdest du denn anders machen, wenn du ein Regierungsamt hättest?“, ist die Frage, die jeder zu hören bekommt, der die Corona-Politik von Merkel, Spahn, Söder, Müller, Lauterbach e.a. als missglückt bezeichnet.
Auf einen solchen Vorhalt könnte man mit einem Zitat von Karl Kraus antworten und die Diskussion beenden: „Ich kann kein Ei legen, aber ich weiß, wann eines faul ist.“
Es geht nicht um eine bessere Alternative zum Bestehenden, sondern darum, Zweifler als eine Gefahr für das Wohl und die Gesundheit aller anständigen Bürger zu denunzieren, „feindlich-negative Elemente“, wie Dissidenten in der DDR genannt wurden. Schlimm genug, dass sie der Regierung nicht vertrauten, sie fallen ihr auch noch in den Rücken, und das in einem Moment, da „Solidarität“ und „Zusammenhalt“ gefordert sind.
Ein Hauch von „Landesverrat“ liegt in der Luft, die noch nicht verschriftlichte Anklage lautet auf Wehrkaftzersetzung durch staatsfeindliche Propaganda.
Die Regierung hat versagt
Dabei ist eigentlich nichts passiert. 53 Schauspielerinnen und Schauspieler haben kurze Video-Clips ins Netz gestellt, in denen sie die Anti-Corona-Maßnahmen der Bundesregierung dermaßen überschwänglich loben, (#allesdichtmachen) bis auch dem letzten Freund der darstellenden Künste in Dinslaken klar wird, dass sie es genau andersrum meinen: Die Regierung hat versagt. Das Virus wütet weiter, das hastig verabschiedete vierte Infektionsschutzgesetz lädt zum Missbrauch der Staatsmacht ein.
In einem Land, in dem das Bundesverfassungsgericht immer wieder vom Bundestag verabschiedete Gesetze für verfassungswidrig erklärt und aufhebt, muss man so etwas behaupten können, ohne zum Staatsfeind erklärt zu werden. Und solange Schauspieler die Arbeit der Regierung mit Stellungnahmen unterstützten – für mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Klimaschutz und mehr Frauen in den Vorständen großer Unternehmen –, waren sie als Taktgeber willkommen. Denn, so tönte es aus allen Ecken des Kulturbetriebes: Promis tragen eine besondere Verantwortung, sie sollen Vorbilder sein, einen statt spalten; und aufpassen, dass sie sich nicht „vereinnahmen“ lassen, schon gar nicht von Populisten und Rechten.
Unter den ersten hauptamtlichen Kulturverwaltern, die sich zu Wort meldeten, war auch die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters. Sie sagte gegenüber dem ZDF, der Ton mache die Musik, sie persönlich hätte sich „deutlich mehr Empathie der beteiligten Künstlerinnen und Künstler für die Sterbenden auf den Intensivstationen gewünscht“.
Frau Grütters wünscht sich mehr Empathie
Monika Grütters ist als Staatsministerin in der Kultur- und Medien-Szene sehr beliebt, verwaltet sie doch über zwei Milliarden Euro, mit denen zahllose Projekte gefördert werden, darunter die „Aufarbeitung des Kolonialismus“ oder „kulturelle Bildung zur Prävention gegen Extremismus und Antisemitismus“. Einen Mangel an angewandter Empathie wird ihr niemand vorwerfen können. Warum sie aber Künstlerinnen und Künstler dazu aufruft, Empathie mit den Sterbenden auf den Intensivstationen zu zeigen, statt sich dafür einzusetzen, dass die Pflegekräfte besser bezahlt werden, das wird sie eines Tages wohl erklären müssen.
Ähnlich abgründig äußerte sich auch der Präsident der Deutschen Filmakademie, der Schauspieler Ulrich Matthes. Seine „Hauptkritik“ galt einem Punkt: dass die Kollegen und Kolleginnen, die bei der Aktion mitgemacht hatten, „indirekt Schützenhilfe für die ,Querdenker‘-Szene und die AfD“ geleistet hätten. Als er sich „diese Videos“ zum ersten Mal „reingezogen“ habe, dachte er sich: „Was wollt ihr mit eurem Ulk? Was ist der Gegenvorschlag? Worin besteht jetzt das Konstruktive dieser Aktion?“
Ja, wo finden wir nur das Konstruktive? Wo versteckt es sich? Wie können wir es ans Licht holen? Es ist eine Tragödie, die nicht enden will. Indiana Jones sucht nach dem Heiligen Gral, polnische Taucher suchen nach dem Bernsteinzimmer und deutsche Kulturschaffende nach dem Konstruktiven im Sinnlosen.
Vor 102 Jahren, im März 1919, erschien in der Weltbühne ein Aufsatz über die Tugend des Neinsagens, geschrieben von Kurt Tucholsky: „Wir Negativen“.
Ich kann die Lektüre Jedermann und Jederfrau nur empfehlen. Konstruktivsein ist einfach. Negativsein will gelernt werden.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.