Ulrike Stockmann / 30.04.2019 / 06:00 / Foto: Achgut.com / 71 / Seite ausdrucken

Orit, das Date und was ich in der Schule dazu lernte

Vergangenen Sonntag veröffentlichte die jüdische Amerikanerin Orit Arfa auf Achgut.com diesen Artikel über eine gescheiterte Liebesbeziehung mit einem Deutschen. Das kurze Verhältnis ging aus politischen Gründen in die Brüche. Ihr Liebhaber konnte nicht nachvollziehen, dass sie es als Jüdin unverantwortlich findet, dass Deutschland bedenkenlos muslimische und damit nicht selten judenfeindliche Migranten ins Land holt. Vor allem nicht unter dem Aspekt, damit ein paar Karma-Punkte nach den Verbrechen des Holocaust sammeln zu wollen. Ihr Date verließ sie, nachdem er noch bekundete, dass ihm das alles zu pauschalisierend sei. 

Orit Arfas Artikel gab mir den Anstoß, etwas näher über die darin geäußerten Probleme nachzudenken. Letztendlich geht es um die Frage, warum gerade die jüngeren Deutschen einen oft laxen und undifferenzierten Umgang mit der Migrationsfrage pflegen. Vor allem der durch muslimische Zuwanderer importierte Antisemitismus wird oftmals kleingeredet und als Sekundärproblem angesehen. Dies entspricht wenigstens der Erfahrung, die ich oft mit Gleichaltrigen gemacht habe. Und das, obwohl hier doch wirklich an jeder Ecke zum Kampf gegen eine weitere Judenverfolgung aufgerufen wird. Aber ich glaube, genau an dieser Stelle liegt das Problem. Es ist die Art und Weise, wie der Holocaust von deutschen Institutionen rezipiert wird, die den Weg für die aus dem Ruder gelaufene Willkommenskultur geebnet hat.

Wenn ich an meine Gymnasialzeit in den Nullerjahren zurückdenke, kann ich eines festhalten: Die NS-Zeit samt Holocaust war omnipräsent. Zum Beispiel behandelten wir in der 5. Klasse im Fach Lebenskunde das Tagebuch der Anne Frank, wir lasen allerdings nur wenige Ausschnitte. Auf mich hatte das Thema jedoch einen so nachhaltigen Eindruck gemacht, dass mir meine Eltern zum 11. Geburtstag das vollständige Tagebuch sowie ein dazu passendes Anne-Frank-Jugend-Sachbuch schenkten. Mich faszinierte einerseits die Person Anne Frank, die in so jungen Jahren so kluge Gedanken äußerte, und andererseits erschreckte mich ihr grausames Schicksal. Für mich war dies die erste nähere Beschäftigung mit der Nazi-Zeit und den deutschen Verbrechen an den Juden. Ich war entsetzt und fiel aus allen Wolken.

Die Gefahren der Relativierung

In späteren Schuljahren waren es die Klassiker der deutschen Exil- und Nachkriegs-Literatur, die im Deutschunterricht eine herausragende Stellung einnahmen. Und bereits diese Werke taten in ihrer Rezeption des Dritten Reiches zuweilen einen entscheidenden Schritt, der meiner Meinung nach das Verhalten von uns Heutigen bestimmt: Sie vernachlässigten das Verhältnis zwischen Nazis und Juden zugunsten eines abstrakteren Verhältnisses zwischen Tätern und Opfern, Verfolgern und Verfolgten.

So geschehen etwa bei Bertolt Brecht. Ihn schien – wenigstens literarisch – die Judenverfolgung nicht primär zu interessieren, obwohl er mit einer Jüdin verheiratet war. Natürlich gibt es beispielsweise den Sketch „Die jüdische Frau“ aus „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ (1935-1943), der eindrucksvoll die Misere einer Jüdin schildert, die ihren nicht-jüdischen Mann verlassen muss, um ins Exil zu gehen. Hauptsächlich aber konzentrierte sich Brecht auf die Aufarbeitung der NS-Diktatur und ihrer Strukturen im Allgemeinen, die er nicht selten durch das Verlagern in historische Epochen verfremdete. So geschehen etwa in „Das Leben des Galilei“ (1939), wo er beschreibt, wie Galileo Galilei auf Druck der Inquisition die Wissenschaft verrät. In „Mutter Courage und ihre Kinder“ (1938/39) thematisiert er die Schrecken des Krieges sowie die Macht der Propaganda, verlagert jedoch auch dieses Werk in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges.

Max Frisch wiederum lässt in seinem Drama „Andorra“ (1961) zwar den „Juden“ Andri auftreten und als solchen von den Andorranern diskriminieren. Allerdings stellt sich bald heraus, dass es Frisch nicht speziell um die Aufarbeitung von Antisemitismus, sondern jedweder Stigmatisierung eines Individuums zum „Anderen“ geht. Im weiteren Handlungsverlauf kommt dann auch ans Licht, dass Andri eigentlich gar kein „Jude“ ist. Dies macht am Ende jedoch keinen Unterschied, da er unwiederbringlich zum „Anderen“ gemacht worden ist und deswegen schließlich ermordet wird. Ein wirkungsvoller literarischer Kunstgriff, der jedoch die Gefahren der Relativierung bereits in sich trägt.

Diesen Diskurs, die im Holocaust verfolgten Juden mit Minderheiten jeglicher Art gleichzusetzen beziehungsweise die NS-Zeit auf ein „faschistisch gegen antifaschistisch“ herunterzubrechen, kenne ich also gut aus meiner Schulzeit. Er ist heute in der deutschen beziehungsweise westlichen Öffentlichkeit präsenter denn je. Er wird teilweise auch von Institutionen, die jüdische Interessen vertreten sollten, proklamiert, indem sie sich pauschal mit sämtlichen anderen Minderheiten solidarisieren. Man darf sich also nicht wundern, wenn ausgerechnet das Jüdische Museum in Berlin zu einer Veranstaltung mit Namen „Living with Islamophobia“ einlädt oder das Anne-Frank-Haus in Amsterdam in einer Ausstellung über das Leben Anne Franks dazu aufruft, über eigene Diskriminierungserfahrungen nachzudenken und hierzu Tafeln über Identität und Diversität anbietet.

Früher Holocaust, heute böses Israel

Apropos Identität und Diversität: In politisch-korrekten Kreisen ist ja das Denken in Opferhierarchien sehr beliebt. Um jedoch als Opfer oder meinetwegen als gefährdetes Individuum gelten zu können, ist das Erfüllen bestimmter Qualifikations-Kriterien erforderlich. Hier geht es natürlich um das möglichst starke Abweichen von der Norm (= männlich, weiß, hetero, christlich geprägt, gesund usw.) in puncto Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Herkunft, Einkommen, sexuelle Orientierung, behindert/nicht behindert et cetera. Ein im Westen oder Israel gut situiert lebender Jude bekommt also höchstens aufgrund seiner jüdischen Herkunft ein paar Punkte auf seinem Opfer-Konto und muss ansonsten vor anderen zurückstecken, es sei denn, er ist zusätzlich schwul, behindert und so weiter.

Da heutige Juden in ihrer Gesamtheit nicht als besonders bedürftige Gruppe auftreten, ist es auch kein Wunder, dass ihnen in linken Augen kein besonderer Schutz gebührt. Der Holocaust wird gerne als Motor für den antifaschistischen Kampf benutzt, aber das war gestern und heute gibt es das böse Israel. Die ganze Angelegenheit gestaltet sich leider so primitiv, wie sie sich anhört. Sie ist jedoch verwandt mit der Auffassung, dass Deutschland sich von irgendeiner Schuld reinwaschen könnte, indem es in wildem Aktionismus allen hilft, die Hilfe brauchen oder wenigstens so aussehen, ohne die real-politischen Folgen oder den wahren Nutzen der „Unterstützung“ zu bedenken. 

Abschließend möchte ich betonen, dass ich es wichtig finde, dass sich Deutschland gegen jedwede Form der Diskriminierung einsetzt und dieses auch entsprechend in Institutionen wie den Schulen vermittelt wird. Zu einem gewissen Grade kann man natürlich auch die Verfolgung der Juden mit der Verfolgung anderer Minderheiten gleichsetzen und allgemeingültige Muster und Gemeinsamkeiten hinter sämtlichen Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung erkennen.

Nur sollte klar sein, dass Deutschland, wenn es seiner Verantwortung für den Holocaust begegnen will, sich auf jüdische Schicksale und die Förderung jüdischer Anliegen konzentrieren sollte. Dies schließt selbstverständlich keine Wohltätigkeit oder Unterstützung gegenüber anderen Kulturen aus. Letzteres sollte jedoch unter anderen Vorzeichen erfolgen und nicht als „Wiedergutmachungs-Aktion“ fungieren müssen.  

Denn solange diese Einstellung herrscht, sollte man sich nicht wundern, wenn gutmeinende Deutsche die Not von Wirtschaftsflüchtlingen mit dem Schicksal von Holocaust-Opfern gleichsetzen. Denn genau hier findet sich eine wahre Form der Pauschalisierung, um mit den Worten von Orits Date zu sprechen und den Ball an ihn zurückzuspielen.

Foto: Achgut.com

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Andreas Rühl / 30.04.2019

Die Diskussionen drehen sich im Kreis. Und aus dem gibt es für uns, als Tätervolk, kein Entkommen. Man stelle sich nur vor, jemand erzählt in einer größeren Gesellschaft einen Judenwitz (selbst wenn dieser jemand ein Jude ist) der antijüdische Stereotypen bedient (was übrigens Witze von Juden über Juden sehr gerne tun): Wird dann von den Anwesenden herzlich gelacht? Oder eher nicht? Gibt es Beklemmungen oder keine? Lachen wir so herzlich wie über einen guten Witz über Amerikaner oder Italiener? Wir haben und werden niemals wieder ein “normales” Verhältnis haben als nichtjüdische Deutsche zu deutschen oder nichtdeutschen Juden, als Deutschland zu Israel, egal, wer auch immer das möchte und fordert und danach schreit. Das Geschehene ist zu monströs, um vergessen zu werden - und da helfen auch keine Vergleiche mit den nordamerikanischen, südamerikanischen “first nations”, den Armeniern und wie sie alle heißen. Denn das ändert doch an unserer Schuld nichts, unserem auf alle Ewigkeit gestörten Verhältnis zu den deutschen und nichtdeutschen Juden und zu Israel. Wer das nicht begreift, ist sich selbst gegenüber unehrlich und auf dem besten Wege, zum Antisemiten zu werden: Aus Groll darüber, wie Broder so schön witzelt, dass die Juden sich haben von uns umbringen lassen. Aus dem Grund kann ich zu der Debatte nichts betragen. Meine Befangenheit ist eine totale.

Erika Schoeffmann / 30.04.2019

Vor einiger Zeit gab es eine Demonstration in Berlin, vorwiegend Palästinenser, die auf offener Straße die israelische Flagge verbrannt haben und Tod den Juden gebrüllt haben. Mir saß der Schock in den Gliedern. Die Reaktion unserer Regierung, nichts nennenswertes gehört. Keiner wird sagen können, wir haben es nicht gewusst.

Martin Lederer / 30.04.2019

Das mit der linken “Opferhierarchie” trifft es genau. Wenn ich ein angebliches Opfer bin, stehe ich in der linken Hierarchie weit oben. Wobei ein wirkliches, echtes Opfer sein, wenig Spaß macht. Spaß macht es dagegen, wenn es mir an sich ganz gut geht, ich aber zusätzlich noch den linken Opferbonus einfahren kann. Ich vermute mal, heutige Juden wollen keine Opfer sein, weil Opfer sein nicht so lustig ist, wie es damals erleben durften. Somit stehen sie in der linken Opferhierarchie eben weit unten. Wobei ich nicht weiß, ob die damals lebenden Juden in der heutigen linken Opferhierarchie weiter oben wären. Ein Teil war wohlhabend, hatte einen Beruf, manche sogar Angestellte. Und ich denke, Opfer wollten sie schon damals nicht sein. Allgemein glaube ich, dass eine Gruppe, die zu einem linken Opfer gemacht werden soll, noch zusätzliche Eigenschaften braucht. Im zaristischen Russland hatten die ganzen sozialistischen Gruppen zuerst die russischen Bauern als Opfer auserkoren. Mit dieser Opfergruppen waren sie aber ganz unzufrieden, da zu schmutzig, zu misstrauisch gegen Fremde, zu abergläubisch, ... . Später haben sie dann die Arbeiter als Opfergruppe auserkoren. Mit der waren sie mehr zufrieden.

S Biehl / 30.04.2019

Sehr treffend geschrieben. Deckt sich mit meinen Erfahrungen und Empfindungen meiner Schulzeit in den spaeten 80’ern/fruehen 90’ern. Sogar die selben Buecher wurden gelesen und dieselben Interpretationen wurden gemacht.

Thomas Taterka / 30.04.2019

Zu jeder Auseinandersetzung mit dem Holocaust sollte eine detaillierte Kenntnis des “Engagements"der Nazis in der Levante Pflicht sein , die hier vor allem durch den propagandistischen Einfluß der DDR unterbunden und von den westdeutschen Konservativen regelrecht “verpennt ” wurde. Die Diskussionen heute sind Resultat einer schlampigen Bildungspolitik und die Verwirrung junger Leute der historischen Unkenntnis geschuldet. Die Episode, die Orit Arfa schildert, ist EIN Modellfall unter vielen. Möglich, weil beide zu wenig wissen über die Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands. Aber dem Jungen sei trotzdem gesagt, daß man einen Menschen erst dann zu lieben beginnt, wenn man erkennt, daß man ein gemeinsames SCHICKSAL hat. Liebe hat einen Preis.

R. Nicolaisen / 30.04.2019

Ich meinte natürlich, meinen Kommentar vor allem auch als zu Orit Arfas Artikel gehörig zu betrachten.

R. Nicolaisen / 30.04.2019

Was sich zeigt: Angst, Dummheit ( Nichtwissen(wollen) , mangelnde Rationalität, Unfähigkeit, genau hinzuschauen, echte Empathie ( leider Ideologie vor Gefühl), Würdelosigkeit (!). - Schade. Mit Bedauern abhaken. Vielleicht wird er ja noch einmal reif…  \\Tip: Entdecken und hören Sie Jean Ferrat! In liebendem Verneigen…

Eugen Karl / 30.04.2019

Bitte was ist denn “Lebenskunde”? Das Fach hatte ich in der Schule nicht. Eigentlich müßte es die deutsche Übersetzung von Biologie sein, dem Zusammenhang muß man aber entnehmen, daß das nicht möglich ist. Bekommt man jetzt auf der Schule beigebracht, wie man lebt? Es muß sich mehr verändert haben als ich bislang annahm.

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