Kurz nachdem feststand, dass Viktor Orbán seinem Vornamen einmal mehr alle Ehre gemacht und die Wahlen zum ungarischen Parlament gewonnen hatte, rief der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn die übrigen EU-Staaten auf, dem Land die Stirn zu bieten. „Vor allem nach dieser Wahl in Ungarn ist es an Deutschland und Frankreich sowie allen Mitgliedstaaten, die nicht auf Gleichgültigkeit setzen, sich schnell und unmissverständlich auf der Basis des europäischen Vertragswerks einzubringen, um diesen Wertetumor zu neutralisieren“, sagte er der WELT.
Asselborn ist für seine markigen Sprüche bekannt. Sein historisches Vorbild ist der deutsche Kaiser Wilhelm II, der im Juli 1900 anlässlich der Abreise deutscher Einheiten zur Niederschlagung der Boxeraufstände in China den Soldaten zurief, kein Pardon zu geben und keine Gefangenen zu machen: „Möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“
Ein anderer Text, die gleiche Melodie
Zwei Weltkriege und 118 Jahre später hat das Lied einen anderen Text, aber die Melodie ist die gleiche. Der ungarische „Wertetumor“, soll „neutralisiert“ werden, unter dem vereinten Oberkommando von Deutschland und Frankreich, bevor er die anderen EU-Mitglieder angreift.
„Neutralisieren“ ist ein Begriff aus der Sprache der Militärs. Er bedeutet dasselbe wie „keine Gefangenen machen“. Welche „Werte“ meint Asselborn? Den Expansionsdrang, die Korruption und die Vetternwirtschaft in der EU, wie sie von seinem Freund Jean-Claude Juncker verkörpert werden? Und mit welchen Mitteln will er den Tumor neutralisieren? Sollte eine EU-Arme die Ungarn zur Vernunft bringen? So, wie es die Sowjets 1956 versucht haben?
Möglich, dass Asselborn es anders gemeint hat. Vielleicht wollte er sagen: Die Ungarn können wählen, wen sie wollen, aber die Ergebnisse der Wahl müssen von der EU-Kommission abgesegnet werden, in Ungarn ebenso wie in allen anderen „Mitgliedstaaten“.
Das wäre ein wesentlicher Schritt vorwärts zur europäischen Integration und zur Bildung einer europäischen Demokratie im Sinne der Werteunion. Dazu müsste man die Wahlrechte nur ein wenig ändern, es unter einen EU-Vorbehalt stellen. So könnte der Tumor minimal-invasiv neutralisiert werden.
Zuerst erschienen in der Züricher Weltwoche