Von Murat Altuglu.
Die Corona-Lage war absehbar und vermeidbar. Hunderte Menschen, die pro Tag sterben. Allein und qualvoll. Entsprechend kommt Vizekanzler Scholz endlich in Bewegung und stellt Fragen. Danke. Bloß zu spät, viel zu spät. Aber trotzdem: Danke. Denn bereits Ende April, Anfang Mai hatte Trump verkündet, dass zum Jahresende 2020 massenhaft Medikamente und Impfstoff gegen Corona zur Verfügung stehen würden. Stand Ende erste Januarwoche: An die 7 Millionen Dosen verimpft, über 47 Millionen Dosen auf Lager in den USA.
Bis Ende Februar sollen insgesamt 170 Millionen Dosen (dies war die Prognose, die Mitte Dezember gestellt wurde) von Moderna und Pfizer zur Verfügung stehen. Wenn bis dahin etwa der Impfstoff von Johnson & Johnson noch dazu kommen sollte, würde wohl eine Impfdosis für jeden Amerikaner im ersten Quartal zur Verfügung stehen.
USA: Eine Million Impfungen am Tag
Das Problem in den USA ist augenblicklich nicht, dass es keinen Impfstoff gibt, sondern dass er nicht in ausreichendem Maße geimpft wird. Laut Fauci soll aber in Kürze die Zahl von 1 Million Impfungen am Tag erreicht werden. Ähnliches gilt auch für die Covid-Medikamente von Regeneron und Eli Lilly, die in den USA bereitliegen, aber nicht ausreichend verschrieben werden.
Ein anderes Beispiel, Israel. Stand 11. Januar, 21 Prozent der Bevölkerung haben die erste Impfdosis erhalten. Das dürfte bereits alle über 65-jährigen abdecken. Wenn Sie wissen wollen, warum die so erfolgreich sind, schauen Sie sich an, was Netanjahu getan hat. Und das hier.
Das, was jetzt in den USA und Israel realisiert wird, ist das Resultat einer Vorarbeit, die vor gut einem Jahr begann. Die Panik in Deutschland ist das Resultat eines Aktionismus, der vor einer Woche begann.
Was tust Du, Angela?
Es ist gut, dass Herr Scholz jetzt Fragen stellt. Aber warum hat er nicht bereits vor mehr als einem halben Jahr Fragen gestellt? Ich, vor der Glotze auf dem Sofa sitzend, stellte sie beizeiten.
Daher meine Frage an Herrn Scholz: Haben Sie im Mai folgende Frage gestellt: „Angela, der Trump sagt, er tut dieses und jenes in den USA. Tust Du das Gleiche oder mehr? Hier ist die Liste mit dem, was Trump tut; hab bei seiner Pressekonferenz mitgeschrieben. Angela, nun lass doch mal die Katzenvideos auf Instagram!“
Herr Scholz hätte auch aktiv werden können, als Trump an Covid erkrankte, und dank des Medikaments von Regeneron schnell genas. Innerhalb von Tagen war Trump wieder auf den Beinen. Wenn man bedenkt, wie zerstörerisch Covid auf den Körper ist, war ich sehr überrascht über die Wirksamkeit des Regeneron Medikaments.
Hallo Jens. Hast Du was zum Mitschreiben?
Vor 100 Tagen hätte Herr Scholz also bei Herrn Spahn anrufen können, um ihm Folgendes mitzuteilen: „Hallo Jens. Hast Du was zum Mitschreiben? Gut! Also ruf hier an: 001-914-847-7000. Dann sagst Du Folgendes:
"Hello, my name is Jens Spahn. I am calling from Germany. I am the minister for health here. The Covid treatment you have, we would like to purchase it and help you in establishing production facilities in Germany, ASAP. Money is not an issue. Oh, everything could be ready in a hundred days?! Great, thank you, auf wiedersehen.”
Im Übrigen ist dies, was Herr Netanyahu offenbar gemacht hat. Den Hörer in die Hand genommen und persönlich bei Pfizer zwecks Impfstoffes angerufen und mit Geld geklotzt. Schade, dass sich unsere Mutti hierzu geniert hat.
Merkel, Spahn, Lauterbach, Scholz – alle, alle haben versagt. Hätten es besser machen können, wenn sie denn nur geschaut hätten, was andere tun und dies mit den eigenen Aktivitäten verglichen hätten. Haben sie nicht. Und die deutsche Qualitätspresse war nicht imstande, diese simple Observation zu tätigen.
Der Wahlbürger soll nicht zürnen
Und jetzt geht es um Schadenskontrolle. Auf gut Deutsch, der Wahlbürger soll nicht zürnen und sein Kreuz wieder an der richtigen Stelle machen. Armin Laschet will, dass man über das Politikversagen nicht spricht. (Euphemistisch in Politikerdeutsch: „Die Thematik ist zu ernst, um damit Wahlkampf zu machen. Lasst uns lieber über die Froschwege in Castrop-Rauxel diskutieren.“)
Und die Qualitätsmedien leisten hierzu Amtshilfe mit so dollen Interviews wie mit der diplomierten Ethikerin (was ist das denn?) Alena Buyx. Man darf mit Corona keinen Wahlkampf machen; so kommt der Ukas.
Ja, wer macht denn Wahlkampf, Herr Laschet, Frau Buyx? Wo, wer, was? Ich habe noch nirgends hierzu einen Wahlkampf gesehen. Es werden Vorwürfe gemacht, und es wird versucht zu verschleiern. Dabei geht es nicht um Parteienstreit, sondern um individuelle Handlungen und Entscheidungen bzw. deren Abwesenheit. Also die Essenz einer Debatte, die Essenz einer Aufarbeitung von Entscheidungen und deren Folgen.
Warnung vor diplomierten Ethikern
Es wäre ja nett, wenn die Beamtin (auch als Professorin bekannt) definieren würde, was sie mit Wahlkampf meint. Aber in ihrem Statement war dafür kein Platz übrig. Und überhaupt, warum sollten die Entscheidungen zu Corona nicht Wahlkampfthema sein? Das sie dies nicht wünscht, ist kein Argument. Und dass die Offenlegung und Auflistung von Fakten eine „Diskussion verzerren“ könnte, ist mir ganz neu. Tucholsky warnte vor diplomierten Journalisten. Ich ergänze diese Warnung um diplomierte Ethiker.
Ohne Diskussion, ohne Vorwurf, ohne Fingerzeigen, ohne Kampf kommt man einfach nicht weiter.
Debatte: Titanic sinkt. Warum wurden nicht bessere Nieten verwendet?
Buyx: Diese Diskussion verzerrt.
Debatte: Stalingrad. Warum wurde nicht sofort ein Ausbruch unternommen?
Laschet: Kein Wahlkampfthema bitte.
Debatte: Tschernobyl: Warum wurde eine Abschaltung nicht früher initiiert?
Buyx: Die Diskussion verzerrt.
Debatte: Covid: Warum wurde nicht früher Impfstoff bestellt?
Laschet: Kein Wahlkampfthema bitte.
Debatte: Wer hat die Suppe versalzen?
Buyx: Die Diskussion verzerrt.
Jeder Tag zählt
Das Offenlegen von Entscheidungsprozessen ist nötig, um zu erkennen, was geschah und um zukünftige Prozesse anders zu machen. Entscheidungen werden immer, ohne Ausnahme, von Personen gemacht. Die präzise, fokussierte und rücksichtlose Erkennung, wer was wann wusste und wer was wann getan hat (oder nicht), ist wichtig, das Wichtigste, was man tun kann.
Denn meine Gesundheit und die Gesundheit meiner Nächsten steht auf dem Spiel. Da ist mir alles andere wurscht. Diese Aufarbeitung als Wahlkampf zu verwässern, kommt bei mir gar nicht gut an. Jeder Tag zählt. Und diese Dringlichkeit hätte vom ersten Tag an gelten sollen. War das nicht der Fall, will ich wissen, wer es vergeigt hat, und mit meiner Stimme dafür sorgen, dass diese Person keinen Cent Steuergeld mehr für seinen Lebensunterhalt erhält und keine Macht über das Leben anderer Menschen hat.
Das ist meine Ethik. Ganz ohne Diplom, aber dafür aus Anatolien.
Murat Altuglu, 1978 in Köln geboren, Ph.D. der Politikwissenschaft, lehrte an verschiedenen Universitäten in den USA, der Türkei und in Deutschland. Derzeit arbeitet er am Rheinischen Bildungszentrum in Köln.