Nicht wenige Bundesbürger hatten sich auf eine Merkel-freie Silvesternacht gefreut. Und in der Tat sah es eine Weile danach aus, als wäre die Kanzlerin noch vor dem Ende des Jahres am Ende ihrer Karriere angekommen. Ihr Wunsch-Fraktionsvorsitzender wurde abgewählt, sie selbst legte – mehr oder weniger freiwillig – ihr Amt als Parteivorsitzende nieder und kündigte an, dass sie am Ende der laufenden Legislaturperiode, also voraussichtlich im Herbst 2021, kein politisches Amt mehr ausüben würde.
Es war ein Rückzug auf Raten, der von Freund und Feind bejubelt wurde. Unisono würdigten sie den „Mut“ der Kanzlerin und zollten ihr „Respekt“. Man konnte meinen, Deutschland wäre ein Fürstentum und die Landesherrin dem murrenden Volk einen Schritt entgegengekommen, derweil die Hofschranzen in den Medien „Lang soll sie leben!“ anstimmten.
Tatsächlich erlebten die Zuschauer eine von Altlasten befreite Kanzlerin, die sich in ihrer traditionellen Neujahrsansprache an die lieben „Mitbürgerinnen und Mitbürger“ geläutert gab.
Der Blick aus dem All
Sie wisse, dass „viele sehr mit der Bundesregierung gehadert“ hätten; erst habe man „lange gebraucht, um überhaupt eine Regierung zu bilden“, und als sie endlich zustande gekommen war, „da gab es Streit und viel Beschäftigung mit uns selbst“.
Deswegen habe sie „Ende Oktober einen Neubeginn eingeleitet“. Und das war es auch schon mit der Selbstkritik. Der Rest war Business as usual. Die „Herausforderungen unserer Zeit“ wären nur zu meistern, „wenn wir zusammenhalten und mit anderen über Grenzen hinweg zusammenarbeiten“.
Die Formel „über Grenzen hinweg“ hörte sich wie „weg mit den Grenzen“ an und war nicht zufällig gewählt. An dieser Stelle wurde die Ansprache der Kanzlerin mit Bildern unterlegt, die „unser Astronaut Alexander Gerst“ aus der Internationalen Raumstation zur Erde geschickt hat, „Bilder von der überwältigenden Schönheit unserer Erde“. Von da war es nur ein kurzer Schritt zu der „Schicksalsfrage des Klimawandels“ und anderen globalen Herausforderungen.
Es war nicht die schlechteste Rede, die Merkel je gehalten hat, immerhin hat sie den Bürgerinnen und Bürgern nicht geraten, öfter spazieren zu gehen oder Blockflöte zu spielen. Zweimal noch wird sie sich an das Volk wenden, bevor sie und Alexander Gerst die Plätze tauschen.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche