Henryk M. Broder / 05.05.2020 / 15:00 / Foto: Acgut.com / 41 / Seite ausdrucken

Kein Problem mit der Situation

Und plötzlich wünschen sich alle die Entschleunigung, weg von der Hektik des Alltags, hin zu einem entschleunigten Leben ohne Aktions- und Konsumzwang. Corona, so kann man es derzeit überall hören und lesen, habe auch gute Seiten, Familien würden wieder zusammenrücken – manche sogar zu viert oder fünft auf 60 Quadratmetern – die Leute würden sich gegenseitig helfen und Rücksicht aufeinander nehmen, die Jungen um die Alten kümmern und die Satten den Hungrigen beistehen. „Not macht erfinderisch“, ist die Losung des Tages.

Deswegen schneiden sich jetzt viele die Haare selbst, und wenn es sich um „Promis“ wie Carmen und Robert Geiss handelt, dann ist auch das Fernsehen dabei. Ein Gastronom, der sein Lokal wegen der Corona-Regeln schließen musste, sagt: „Bei all dem schlechten, das gerade über uns hereinbricht, finde ich es herrlich, was daraus entstehen kann.“ Zuletzt habe er sich gemeinsam mit seiner Partnerin auf der Couch ein Konzert „per Internetstream angesehen“.

Ein Tennisprofi, der derzeit nicht spielen kann, sagt, er habe „kein „Problem mit der Situation“. Und „irgendwie genieße“ er „die Zeit jetzt auch, weil man ja weiß, dass man nichts verpasst“.

Nun kann ich mich, anders als etliche meiner Zeitgenossen, noch gut an die Zeit vor Corona erinnern, als man die Wahl hatte, in einem Café Zeitung zu lesen oder in einem Supermarkt einzukaufen, ohne auf Abstandsregeln achten zu müssen. Das ist erst paar Wochen her, aber viele haben es schon vergessen und singen das Hohelied auf eine „neue Normalität“, die „kreative Kräfte“ freisetzen würde.

Ich kann mich auch an ein Buch erinnern, das vor 20 Jahren in einem deutschen Verlag erschienen ist: „Kochrezepte aus dem Konzentrationslager Ravensbrück“, voller Ideen für einen kreativen Umgang mit Kartoffelschalen und anderem Abfall. Wer wollte, konnte schon immer „entschleunigt“ leben, niemand wurde gezwungen, übers Wochenende nach Saigon zu fliegen oder eine Kreuzfahrt in der Karibik zu buchen. Bornholm war auch ok. Man musste nicht in Lokalen tafeln, in denen ein „feines Prosecco-Süppchen“ auf der Speisekarte stand.

Die Freunde der „Entschleunigung“ sollen meinetwegen Brot essen, wenn der Kuchen alle ist. Ich bleibe bei der Esterhazy-Torte.

Zuerst erschienen in der Zürcher Wetwoche

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A.Lisboa / 05.05.2020

@Romana Blechschmidt: ha ha ha ha…danke für diesen Stich ins Wespensnest! Volltreffer!!!

Gert Köppe / 05.05.2020

Herr Broder, hätte ich die Möglichkeit evtl. eine andere Torte zu wählen? @Archi W. Bechlenberg: Wir sind Brüder im Geiste. Ich kann Ihnen Wort für Wort zustimmen. Bis auf den letzten Satz. Hier bin ich ein Abweichler, denn ich schneide meine Haare schon seit Jahrzehnten selbst. Mangels Masse an “Mecke” dauert es inzwischen nur noch fünf Minuten. Friseur, Kamm, Föhn, Haarspray und der ganze “Schnudelhuber” sind für mich überflüssig geworden. Diesen ganzen “Luxus” nur noch für meine Frau.

Hans-Peter Dollhopf / 05.05.2020

“Zuletzt habe er sich gemeinsam mit seiner Partnerin auf der Couch ein Konzert „per Internetstream angesehen“”. Da erinnert Es mich an die folgende Meldung aus dem Morgenweb-Newsletter um 22:05 Uhr vom 3. Mai! “Mannheim. Fast 5000 Euro brachte am Donnerstag das Solidaritätskonzert von Enjoy Jazz gemeinsam mit dem Jazzclub Ella & Louis im Rahmen des Internationalen Jazztages der Unesco ein. Das teilte Enjoy Jazz mit. Stars der regionalen Szene traten dabei vor mehr als 500 Zuschauerinnen und Zuschauern auf – per Stream. Die Einnahmen von 4790 Euro per Solidaritätstickets kommen den von der Krise stark betroffenen beteiligten Künstlerinnen und Künstler zugute.” Was an dieser Meldung verwundert? Das ist, dass Konzerterlöß dann auch noch “den von der Krise stark betroffenen beteiligten[!] Künstlerinnen und Künstler [selbst] zugute” kommt, an die beteiligten Kulturschaffenden ausgezahlt wird! Unglaublich, an wen sonst, als an die Veranstaltenden? Performten diese vor Corona immerzu gratis, weil sie es sich - durch ein ominöses staatliches Grundeinkommen vielleicht - bis dato immer hatten leisten können? Oder was! Bestimmt nicht. Leistung aber nun plötzlich wieder gegen (unmittel-)Bares : Macht’s Corona noch einmal möglich in der kommenden Wirtschaftsdepression, deren Menetekel wir am Kulturbetrieb bereits studieren können? Auch wenn die Künstlergagen im Kulturbetrieb, wie hier der Fall, ab nun als “Solidaritätszuschläge” versteuert würden, die Trauer über die Schneise der Verwüstung, die ödester Multi-Kult in der einstigen Jazz-Hochburg Rhein-Neckar-Delta vor Jahrzehnten hinterlassen hat, ist lange schon selbst begraben. Die Unesco führt diesen “Club der toten Dichter” als Ladenhüter.

H.Roth / 05.05.2020

Es spricht ja nichts dagegen, einem alten Sprichwort gemäß, aus der Not eine Tugend zu machen. Allerdings gibt es bestimmte Menschen, die immer wieder dazu neigen, aus einer Tugend ein Pflichtprogramm für jedermann zu machen. Insofern nervt natürlich diese Angeberei von wohlhabenden Prominenten, mit ihrer öffentlichen Entdeckung des einfachen Lebens. Millionen Arbeitslose freuen sich sicher detzeit ebenso über das staatliche Entschleunigungsprogramm und Rezepte mit Büchsenöffner! Normalerweise interessiert mich eine Meldung über den Haarschnitt eines C-Promis überhaupt nicht. Ich gebe allerdings zu, dass diese Meldungen aktuell fast schon etwas Beruhigendes haben, zwischen 20 Coronakrisenmeldungen. Denn sie zeigen, dass der normale Wahnsinn noch nicht ausgestorben ist.

Bargel, Heiner / 05.05.2020

Also wenn ich ein Stück von der Torte abhaben könnte, Herr Broder, dann verrate ich Ihnen auch mein Lieblingskabinettstück patriotischer Coronabekämpfungspropaganda:  SWR aktuell am 24.4.2020 um 21.45 (noch in der Mediathek zu finden?) - Heroische Sammlung von Schnapsresten, um, nach erneuter Destillation des zusammengeschütteten Hochprozentigen, den so gewonnenen reinen Alkohol zum Apotheker nebenan zu schaffen, damit dieser Händedesinfektionsmittel draus macht. Wem Vergleiche zu ähnlichen Sammlungen in der deutschen Geschichte einfallen, darf seiner Fantasie freien Lauf lassen.

Karla Kuhn / 05.05.2020

“die Leute würden sich gegenseitig helfen und Rücksicht aufeinander nehmen, die Jungen um die Alten kümmern und die Satten den Hungrigen beistehen. „Not macht erfinderisch“, ist die Losung des Tages.”  .....und wenn sie NICHT gestorben sind, so leben sie noch heut.” Übrigens, wegen der starken Nachfrage wurden die MÄRCHENBÜCHER vom dritten Stock ins Parterre verlegt !  Die meisten Z- “PROMIS”  (“Kulturschaffende” die nach Spenden rufen ?) klappern doch nur, weil es in der heutigen Zeit schon ohne Corona total schwer ist seinen Sch… unter die Menschheit zu bringen. WER schaut sich denn sowas an ?? Wolfgang Kaufmann, ich liege unter dem Tisch vor lachen: “Es sticht und pflückt der Heinzelmann, dass Massa weiter chillen kann.” Einfach köstlich !  HERRLICH !  WARUM, Herr Schulze -Osterloh, soll Frau Ilona Grimm NICHT für Herrn Broder schwärmen dürfen ?? Herr Broder hat etwas, was vielen Männern fehlt, CHARISMA. Und einen unglaublichen HUMOR !!  Einen Mann OHNE Humor hätte ich NIE geheiratet . Mein Mann sieht zufällig gut aus aber auch wenn er wie “Quasimodo” aussehen würde, hätte ich ihn schon allein wegen seiner herzlichen Lache und seinen Humor genommen. Abgesehen davon ist es unterste Schublade zu fragen ob ihr Mann gestorben ist oder sie verlassen hat, wohl keine KINDERSTUBE gehabt ?

Ines Sack / 05.05.2020

Das einzig schlimme an den Einschränkungen der Freizeitaktivitäten ist für mich, dass meine d…en Nachbarn nicht mehr rausgehen können und die ganze Zeit laut im Haus rumhühnern. Sie haben recht, wer wollte, konnte schon immer entschleunigt leben. Vor vielen Jahren hörte ich mal ein Gespräch von zweien auf der Straße mit, in dem sie sich gegenseitig zugaben, oft gar nicht zu der und der Party zu wollen, aber doch gehen würden, weil sie Angst hätten, etwas zu verpassen. Und deshalb fahren die ja auch alle so auf Verbote ab: wenn keiner mehr etwas darf, verpassen diese miesen Mitläufer auch nichts. Und deshalb haben die auch kein Mitleid mit Leuten, denen es wirklich schlecht geht, denn die stehen ja nicht, wie sie selbst, unter diesem schlimmen Freizeitstress und Konsumzwang. Bleiben Sie gesund, Herr Broder.

alma Ruth / 05.05.2020

Lieber >Herr Broder, Sie haben wie fast immer recht. “Fast” schreibe ich nur aus Vorsicht. Ich hab’s gelernt, daß kein Mensch immer recht haben kann. Ich bleibe auch lieber bei der Esterházy-Torte und ähnlichem. Was das Buch Ravensbrück&Küche betrifft, kann ich nur sagen, deutsches Gemüt. Der Vergleich mit der Nachkriegszeit von einem der Kommentatoren ist ganz falsch. Denn die Nachkriegssituation in D wurzelte allein in der deutschen Schuld, die fast unermäßlich groß war. Bei den “Bewohnern” des Ravensbrücker- Lagers war das nicht der Fall. lg alma Ruth

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