Chaim Noll / 09.05.2022 / 06:00 / Foto: Pixabay / 128 / Seite ausdrucken

Ist der Westen wirklich so dekadent?

Der angeblich so „verweichlichte“ Westen erweist sich als überraschend stark – und wird von den Autokratien der „harten Männer“ immer wieder unterschätzt. 

Zu den ehernen Gewissheiten des Weltbildes von Wladimir Putin und Konsorten gehört das Dogma von der Dekadenz „des Westens“. Einmal handelt es sich um eine Weisheit aus der leninistischen Theorie vom „Spätkapitalismus“, die bis heute in den Köpfen dieser älteren Herren nistet, deren Karrieren einst in kommunistischen Einrichtungen begonnen haben und in vielen Fällen geistig dort hängenblieben. Zum anderen verführen zu dieser Einschätzung die zahlreichen Schwächen, Fehlleistungen und Konfusionen westlicher Staaten, von ihren Medien breit diskutiert, die immer wieder aufkommenden, oft von der Jugend initiierten Proteste gegen den für die Menschheit ruinösen westlichen Lebensstil, oder die Selbstdarstellung in Film, Musik, Literatur etc. mit ihrer Neigung zu schonungsloser Selbstkritik bis hin zur Dystopie.

Die Staaten des „Westens“ liegen in Wahrheit über fast alle Kontinente verstreut, ihre Staatsformen sind unterschiedlich, von konstitutionellen Monarchien bis zu strikten Demokratien, in denen der Adel abgeschafft wurde, von zentral regierten Präsidialrepubliken bis zu lockeren Föderationen. Sie verändern sich ständig, in der ethnischen oder religiösen Zusammensetzung ihrer Bevölkerungen, in ihrer Außenpolitik und ihren Bündnissen, in ihrer inneren Struktur, im Zustand ihrer natürlichen und Umweltbedingungen. Doch es gibt starke Gemeinsamkeiten, die den etwas ungefähren Oberbegriff rechtfertigen. Eine dieser Gemeinsamkeiten – aus der Sicht derer, die diese Länder fürchten und verachten – ist ihre „Dekadenz“.

Die fleißigen „Spießer“ des Westens kommen medial kaum vor

Auch wir „im Westen“ sind eigentlich davon überzeugt, unsere Lebensweise zeige starke Zeichen von Dekadenz. Am ausgeprägtesten scheint dieses Gefühl in den Vereinigten Staaten von Amerika zu sein. Glaubt man der medialen und künstlerischen Selbstdarstellung der amerikanischen Intellektuellen, leben in ihrem Land überwiegend sozial gestörte, sexsüchtige, Rauschgift und Alkohol konsumierende Stadtneurotiker oder, als deren Gegenspieler, extrem brutale, durchsetzungsfähige Rednecks, schießwütige Sheriffs, betrügerische Banker und Mafiosi. Von den Millionen, die täglich zur Arbeit gehen und das ungeheure amerikanische Nationaleinkommen erwirtschaften, ist selten die Rede. Das angeblich überwiegend von Irren, Aussteigern und Gaunern bewohnte Land erarbeitet mit 23 Billionen US-Dollar das weltweit größte Bruttoinlandsprodukt (BIP) und das mit Abstand größte BIP pro Kopf von über 69 Tausend Dollar.

Zum Vergleich: Das in seiner Selbstdarstellung und unserer Wahrnehmung als Wirtschaftsgigant wahrgenommene China kommt auf ein BIP von 14,7 Billionen und pro Kopf nur auf 11 Tausend Dollar. In Australien liegt das BIP pro Kopf bei 63 Tausend Dollar, in Kanada bei 52 Tausend, in Deutschland bei 45 Tausend, in Großbritannien bei 40 Tausend. Putins Russland, gleichfalls als bedrohlicher, hochgerüsteter Riese wahrgenommen, kommt auf ein vergleichsweise winziges BIP von nicht mal 2 Billionen – weniger als ein Zehntel des amerikanischen, die Hälfte des deutschen und etwa das gleiche wie Süd-Korea – und auf nur 11 Tausend Dollar BIP pro Kopf, ungefähr das Level von China.

Wir sind von Propaganda nicht so unabhängig, wie wir gern wären. Als intelligente, super-informierte Westler halten wir uns für Menschen mit unbestechlicher eigener Meinung. Dabei sind wir in vielen Fällen weder gegen die Desinformazija der Kreml-Ideologen gefeit noch gegen die auf Verschweigen und Selbstverherrlichung beruhenden chinesischen Eigendarstellungen. Vor allem nicht gegen unsere eigenen westlichen Klischees. Und zu denen gehört, dass wir, verglichen mit den Völkern, die da schrecklich und unaufhaltsam über uns kommen, verweichlichte, dekadente Schwächlinge sind, aussterbende degenerierte Wohlstandskinder, die eigentlich kaum noch eine Chance haben.

Der „Westen“ ist über viele Kontinente verteilt

Sind wir wirklich dekadent? Können wir es überhaupt sein? Haben die Staaten, von deren Verderbtheit, Degeneration und Niedergang wir ausgehen, überhaupt das dazu nötige Alter? Gut, die europäischen Staaten sind relativ betagte, stark verholzte Gewächse, aber in ihrer heutigen Staatsform in Wahrheit oft sehr jung. Die Erste Republik Frankreich wurde 1793 gegründet (mit baldigem Rückfall ins Napoleonische Kaiserreich), die zweite Republik besteht erst seit 1848. Italien als Staat gibt es seit 1861, als Republik sogar erst seit 1946, die Bundesrepublik Deutschland erst seit 1949. Die Vereinigten Staaten wurden 1776 gegründet, auch sie sind gerade mal 246 Jahre alt. Kanada wurde erst um 1950 vom früheren britischen Dominion zum selbstständigen Staat transformiert, Australien erst kurz nach 1900 ein eigener Staat. Wie alt ist der Staat Finnland, die Republik Österreich, Süd-Korea, die Republik Portugal, der Staat Neuseeland oder Israel?

Die meisten dieser Staaten stecken in ihren Jugendjahren, wenn nicht noch in ihren Kinderschuhen. In Wahrheit sind die meisten westlichen Gesellschaften in ihrer heutigen Form nicht dekadent, sondern infantil. Die Fehler, die gemacht werden, sind nicht Symptome der Altersauflösung, sondern Zeichen von Unreife. Es ist auch im täglichen Leben schwer, diese beiden Zustände auseinanderzuhalten. Pubertierende verhalten sich oft so, als wären sie „dekadent“. Sie verschwenden ihr Geld für Rauschmittel und Parties, betrinken sich, feiern die Nächte durch und erwachen gegen Mittag mit schwerem Kopf. Sie vernachlässigen ihre Sicherheit, verachten Vorkehrungen für ihre Zukunft. Ihr Leben ist auf Spaß und Sex orientiert, nicht auf die Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Pflichten. Sie neigen zu Leichtsinn, verantwortungslosem Wirtschaften und mangelnder Voraussicht. Wenn wir all das in der westlichen Politik unserer Tage wiederfinden, ist es eher ein Zeichen von Infantilität als von „Dekadenz“.

Die Armee der „harten Männer“ ist erstaunlich schwach

Wladimir Putin hat sich verspekuliert. Er ist seiner eigenen Propaganda aufgesessen, den Stereotypen seiner früh gestanzten Weltanschauung und einer gefährlichen Unterschätzung seiner Gegner. Er hätte diesen Krieg nicht begonnen ohne den festen Glauben an die Schwäche des Westens. Doch die dekadenten Staaten, die er mit seinen veralteten Panzerarmeen einschüchtern wollte, besitzen Kräfte und Fähigkeiten, die er nicht versteht.

Die chaotische Unordnung und Unentschlossenheit, die er dort vermutet, ist die Kehrseite ihrer – verglichen mit seinem starren Reich – großen Flexibilität. Demokratien mögen viele Schwächen haben, doch sie sind beweglich und erfinderisch. Ihre Bürger genießen Freiheiten, die ein großes Durcheinander erzeugen, doch zugleich eine nie gesehene Kreativität. Man kann stählerne, tausende Tonnen schwere Kriegsschiffe zum Sinken bringen mit einem elektronischen Flugkörper, der wenige Kilo wiegt. Das starre, dröhnende Reich des Ostens trifft auf dekadente Staaten, deren Leib erschlafft sein mag, doch deren Geist lebendig ist.

Foto: Pixabay

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Franz Michael / 09.05.2022

Das BIP sagt absolut nichts ohne Angabe der Lebenshaltungskosten und Arbeitsstunden aus. Die Deutschen sind in Europa mit die Ärmsten, Arbeiten am Längsten, erhalten europaweit die geringste Rente, selbst indische Wissenschaftler haben einen besseren Lebensstandard. Alleine das jedes Jahr ca. 1 Milliarde kostenlose Überstunden geleistet werden, zeigt den Arbeitswahn bzw. den woken sozial jur. Machtmissbrauch. Aktuell, Krankenhaus­treik in Nordrhein-Westfalens Unikliniken, das ohne Gewerkschaft weil diese weltweit versagen. Aufgrund der anstehenden Wahl berichten Medien nicht darüber. Und wer das BIP um die Militärmaschinerie bereinigt, wird wohl feststellen dass das meiste Geld für Waffen und dessen Systeme erarbeitet wird. Die USA ist seit ~200 Jahren im Dauerkrieg mit der Welt und über 50% der Amerikaner kann sich keine Autoreparatur von 400 Dollar leisten(DieZeit 2016) in Deutschland müssen Rentner Lebensmittel oder Verwertbares in der Mülltonne suchen, in den Tafeln prügeln sie sich um den Biosondermüll.

Olaf Hüffner / 09.05.2022

Kennen die Staaten, die sich in den betreffenden UN-Abstimmungen zu Sanktionen gegen die Russische Föderation der Stimme enthalten haben bzw. die Sanktionen abgelehnt haben, diese Analyse?

Hans-Joachim Gille / 09.05.2022

Die Frage ist nur, wie sich die Stärke des Westens denn ausdrückt? Ich sehe keinen agierenden Westen, alles nur Theater. Und das ist auch ganz gut so.

Reinmar von Bielau / 09.05.2022

Wir sind doch bereits dabei aus dem “Westen” auszusteigen in einen Autokrantisch/totalitären Staat. Die Deutschen scheinen das zu mögen. Linksgrün und den gleichgeschalteten Medien sei Dank. Aber immerhin gibt es Demos und Eier gegen Baerbock und Co., wenn auch nicht genug. Die Masse der Deutschen wälzt sich immer noch in den suizidalen Gedankenkonstrukten, welche ihnen täglich per Radio und TV eingepflanzt werden.

Andreas Rochow / 09.05.2022

Die bloßen BIP-Zahlen eines sich ausufernd bürokratisierenden Staates, der bei der Hühe von Steuern und Abgaben in der ersten Reihe der Welt rangiert und die Kontrolle über seine Währung abgegeben hat, sind für internationale Vergleiche nicht mehr geeignet! Der “Sozialstaat” ist der Anfang vom Ende der FDGO, denn er beruht auf weitgehender Enteignung der Arbeitsentgelte UND mittlerweile auch der Sparguthaben. Diese Umverteilungsbürokratie ist ein nicht zu leugnendes ein Dekadenzzeichen!

STeve Acker / 09.05.2022

“Wir sind von Propaganda nicht so unabhängig, wie wir gern wären. “ insbesondere sind wir überhaupt nicht unabhängig von westlicher Propaganda und Desinformation durch Staats- und Mainstreammedien. Das wird schon seit einigen Jahren immer schlimmer. In der Corona-Zeit hat das rasant zugenommen.

Andreas Rochow / 09.05.2022

Die Agenda der grenzenlosen multikulturellen linksglobalistischen UN-angeührten Gesellschaften ohne eigene Nationalkultur, eigene Sprache, eigenes biologisches Geschlecht und ohne Eigentum (Kevin Kühnert) IST dekadent! Wir sollten auch die Demographie als essenzielles Kennzeichen betrachten und schauen, wie eine demokratiefeindliche Illiberalität aufwächst, die uns die passende Meinung, Sprache und Denken mit teuren Staatsmedien vorschreibt. Dass Putin es diesbezüglich noch wesentlich ärger treibt, will auf mich einfach nicht tröstlich wirken. Zum Wohlstand - Stichwort BIP - gehört auch der militärische Schutz der geschaffenen materiellen und immateriellen Güter, der Grenzen und unser aller Leben vor potentiellen Angreifern! Wer angesichts der geopolitischen Realität an dieser Stelle abbaut und spart, ist ein gefährlicher Realitätsverweigerer. Außer seiner destruktiven Ideologie hat er keine rechtfertigenden Gründe für seine Agenda. Manche nennen das zu Recht dekadent.

Marco Schulz / 09.05.2022

Beim Artikel mit dem feigen Hasen konnte man noch glauben, es geht hier allgemein um Haltung, vielleicht noch um C., dieser hier sollte dem Letzten klar machen, was die Linie hier ist. Was da alles geschrieben wird, in Artikeln und Kommentaren, ohne zu erkennen, egal wie sich die Dinge entwickeln, der Mensch verliert! Jeder einzelne, auf allen Ebenen. Ich will mich nicht zwischen Pest und Cholera entscheiden, und ich muss es auch nicht. Wieder wird ein unlösbares Problem geschaffen, wird inszeniert und präsentiert. Und die Meisten begeben sich zu gerne in den Frame. Fabulieren wie nach dem Fußball über Moral, Stärken, Schwächen, Versagen, Politik, Szenarien. Wenden Energie auf, sind gar zum Kriege bereit. Wie bei Don Quijote. Wenn man auch nur ein wenig zurück tritt, sieht man wie das Geschehen zur Agenda passt. Energiewende, Geldentwertung, Digitalisierung, was so ein kleiner Flugkörper alles kann! Was glaubt ihr, die Russen haben auch ihre Spielzeuge, seit langem. Da ist kein “starres Reich des Ostens”.

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