Der Autor lebt im Süden Israels, und nur wenige Kilometer von ihm entfernt ist Krieg. Welche Hoffnungen verbindet er mit dem Jahr 2024 für Israel und die Welt? Halt gibt in dieser Situation vor allem die junge Generation mit ihrer Tapferkeit, ihrem Lebensmut und ihrer Standhaftigkeit.
2023 war für mich ein katastrophales Jahr. Ich kann hier in Israel nicht mal darüber klagen, weil es Andere viel schlimmer erwischt hat. In meinem Fall fing es schon denkbar schlecht an: Den Januar verbrachte ich krank im Bett, mit einem lebensgefährlichen Virus, den ich mir im Krankenhaus eingefangen hatte (nein, nicht Corona, es gibt viel bösere Erreger, von denen niemand spricht), wo ich nach einem Unfall – rechte Hand und zwei Rippen gebrochen – einige Tage verbringen musste.
In der dritten Nacht schoben sie nach einer Notoperation einen jungen Beduinen in mein Zimmer, Sohn eines frei in der Wüste lebenden Stammes, der zwei Schusswunden im Bein hatte, irgendein Bandenkrieg um Rauschgift oder andere Schmuggelware, wir haben hier im Süden einen starken Anstieg inner-arabischer Gewalt. Die Clans kämpfen untereinander, oft sehr brutal. Darum kümmert sich niemand, am wenigsten die Regierung in Jerusalem. Der Süden Israels, die einzige Landreserve, die Zukunft des übervölkerten kleinen Landes, wird schändlich vernachlässigt. Das Debakel vom 7. Oktober hat auch damit zu tun, dass man in Tel Aviv und Jerusalem den Süden Israels, wo sich das Schreckliche ereignete, normalerweise kaum beachtet.
Der junge Beduine mit den Schusswunden wurde am nächsten Tag von sämtlichen wichtigen Männern seines Stammes besucht. Zeitweise waren bis zu dreißig laut redende, brüllende, telefonierende Männer im Zimmer, die kleine russische Krankenschwester ging mit ihren Ordnungsrufen schlicht und einfach unter. Die lärmende Horde nahm am Bett ihres jungen Helden Mahlzeiten ein, Pizza-Kartons stapelten sich abends auf dem Fliesenboden, zwischen Pfützen gelber und roter Getränke. Von Hygiene kann unter solchen Umständen keine Rede sein. Ich kehrte nach Hause zurück, frisch operiert, frisch infiziert, mit einem Virus, dessen Wirken mit einem Kreislaufkollaps begann und mich dann vier Wochen lahmlegte. Der Zwischenfall erscheint mir jetzt, in den Tagen des Gaza-Krieges, wie ein böses Omen.
Sorgenvolle Stimmung, die über dem ganzen Land liegt
Israel kämpft derzeit in einem Fünf-Fronten-Krieg: In Gaza versuchen unsere Truppen, die Hamas zu entmachten, im Norden werden unsere Städte und Siedlungen von der Hisballah beschossen, wie im Roten Meer unsere Handelsschiffe von den Huthi-Rebellen, derweil etablieren sich die Iranischen Revolutionsgarden in Syrien, und bei Bedarf gibt es Unruhen in der Westbank. Dieser Allround-Krieg ist schmerzlich spürbar: Nicht nur, dass sich überall im Alltag das Fehlen der halben Million jüngerer Männer unter Waffen bemerkbar macht, nicht nur in den unvermeidlichen wirtschaftlichen Verlusten, in Verzögerungen, Versorgungslücken, mehr noch in der sorgenvollen Stimmung, die über dem ganzen Land liegt.
Jeder, den ich kenne, hat nahe Angehörige unter den „Kämpfern“, wie Soldaten und Sicherheitsleute jetzt überall genannt werden, jeder fürchtet, ihr oder ihm könnte etwas zustoßen. Denn täglich erscheinen in der Zeitung die jungen Gesichter der gestern Gefallenen, sieht man die Fotos von den Beerdigungen, vom Schmerz der Familien und Freunde. Dort werden Texte verlesen wie dieser in der Zeitung Yediot Acheronot zitierte Abschiedsbrief des Sergeanten Joseph Gitarts, eigentlich Honor Student für Computer Science an der Reichman Universität Herzliya:
„Gitarts schrieb in einem Brief, den seine Eltern nach seinem Tod erhielten: 'Ich habe ein gutes und interessantes Leben gelebt, ich hatte keine Angst vor dem Tod; ich habe diese Entscheidung selbst getroffen und sie bis zum Ende durchgezogen; und wenn ich falle, sterbe ich ehrenvoll für mein Volk, ich bereue nichts'.“
Alltag im Krieg. Bilder unserer Soldaten in den apokalyptischen Landschaften Gazas, in den Schutthaufen und Schluchten zwischen Ruinen und verlassenen Häusern. Man hat der Hamas viele Jahre Zeit gelassen, sich unterirdische Gänge und Höhlen zu bauen wie Sandratten und Schakale. Nur, dass ihre betoniert sind, viele Kilometer lang, mit Klimaanlage und Internet, Vorräten und Waffenlagern. Es wird Monate dauern, diese Unterwelt zu erobern und zu zerstören. Bedrückende Fragen: Warum hat Israel den Tunnelbau stillschweigend geduldet, warum nicht früher eingegriffen? Warum wurden die Militäraktionen 2009, 2012 und 2014 nicht zu Ende geführt und die Hamas nicht längst zerschlagen? Ein deutscher Pastor hilft mir aus, er antwortet auf diese Fragen in einer christlichen Zeitschrift: „Weil Israel dazu in den Gaza-Streifen eindringen muss. Das hätte bisher für einen ungeahnten Aufruhr gesorgt, nicht nur in der arabischen Welt, sondern weltweit. Die internationale Akzeptanz für solch einen Schritt ist jetzt nach Massakern ungleich höher.“
Die Unschlüssigkeit in den Vormittagsstunden des 7. Oktober
Hier im Land ist man sich dennoch weitgehend einig, dass die Regierung versagt hat, die Armeeführung und die Geheimdienste. Premierminister Netanyahu war schon vorher unbeliebt und ist es nun noch mehr, seine Tage im Amt sind gezählt. Die Spitzen von Militär und Geheimdiensten haben ihren Rücktritt angekündigt – anständigerweise erst nach dem Krieg (und wer weiß, wann das sein wird.) Ich glaube aber nicht, dass es so einfach ist. Das von Zeugen belegte Unterdrücken von Warnungen und Geheimdienst-Informationen, die seltsame Verzögerung von mehreren Stunden in der Reaktion der Armee, die Unschlüssigkeit in den Vormittagsstunden des 7. Oktober könnten auf die Intervention einer beliebten Schutzmacht zurückzuführen sein, deren 81-jähriger Präsident im nächsten Jahr seine Wiederwahl anstrebt und die sich anbahnende Allianz mit Saudi Arabien nicht gefährden wollte. Und der weiß, wie unpopulär Krieg in westlichen Ländern ist, auch in seinem eigenen. Denn dass es ein längerer, größerer Krieg werden würde, war angesichts der Situation an Israels vielen Grenzen vom ersten Augenblick an klar.
Am akademischen Himmel kreisen bereits die Aasgeier, wie der Politologe Moshe Zimmermann, der in HaAretz verkündet, der 7. Oktober beweise, dass „der Zionismus“ gescheitert sei. Doch das ist im Augenblick vollkommen unnütz: dieses elende Denken in Theoremen, diese durch nichts zum Schweigen zu bringende Besserwisserei, nicht mal durch den Schmerz und das Leid seiner Mitmenschen. Außerdem müssten hier weit größere Zusammenhänge betrachtet werden als Zimmermanns kleinliche Perspektive hergibt: Großmächte sind im Spiel, geopolitische Bewegungen, die sich anbahnende Konfrontation zweier „Blöcke“ wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“.
Nein, friedliche Zeiten haben wir vorerst nicht zu erwarten
Das Mullah-Regime im Iran verfügt seit dem 2021 abgeschlossenen Staatsvertrag mit China über enorme Geldmengen: China will dem Regime im Verlauf der nächsten zwei Jahrzehnte für 400 Milliarden Dollar Rohöl abkaufen. (Auf ähnliche Weise saniert China den russischen Diktator Putin und sein Regime). Die wachsende Großmacht China gibt neuerdings handfeste strategische Interessen in der Region zu erkennen. Und Iran ist von zentraler Bedeutung für die chinesische „One-Belt-One-Road“-Strategie, die China über Libanon und Syrien direkten Zugang zum Mittelmeer ermöglichen soll. Für das Mullah-Regime bedeutet dieser Geldsegen, dass sie den Terror gegen den Westen in noch größerem Maßstab finanzieren und instigieren können. Der Krieg gegen den Westen wird in den nächsten Jahren erst richtig Fahrt aufnehmen. Nach den Regeln der Geopolitik wird Israel die heftigsten Stöße abbekommen. Nein, friedliche Zeiten haben wir vorerst nicht zu erwarten.
Also keine guten Aussichten für 2024. Die Kriege, die Israel jetzt führen muss, um in dieser Region zu überleben, werden langwieriger sein als die bisherigen. Auch verlustreicher. Das kann man sich selbst als Notwendigkeit suggerieren, aber meine Emotionen kann ich dadurch nicht besänftigen, meine Befürchtungen und Konfusionen, das plötzliche Erwachen in der Nacht bei Raketenalarm oder auch nur, wenn ein Kampfflugzeug von der nahe gelegenen Luftwaffenbasis startet, unter höllischem Lärm, in den zugleich die tröstliche Gewissheit gemischt ist, dass es in jedem Fall unser Flugzeug ist, kein feindliches.
Ein „normales“ Lebensgefühl will sich nicht einstellen. Von meinen eigenen Verlusten will ich nicht sprechen, von behinderter Arbeit und geplatzten Projekten – mit solchen Petitessen kann ich hier niemandem kommen. Die Bank erwartet trotzdem, dass Geld auf dem Konto ist. Wie steht es um die Familien, deren Vater und Ernährer gefallen ist? Wer kümmert sich um die kleinen Kinder arbeitender Witwen? Wie gut, dass in Israel die Familienstruktur funktioniert, dass es Großmütter, Onkel und Tanten gibt, in den meisten Fällen. Und das sind noch sanfte Probleme verglichen mit dem Chaos, der Armut, der massenhaften Obdachlosigkeit, die derzeit in Gaza herrscht.
Was wird nach dem Krieg aus dem zerbombten Gebiet?
Kann man sich „daran gewöhnen“, dass täglich fünfzig Kilometer von hier junge Menschen einen gewaltsamen Tod finden und jeden Tag wieder, vorerst kein Ende? Denn der Krieg ist trotz allem populär. Die überwiegende Mehrheit meiner Landsleute will, dass er diesmal „zu Ende“ geführt wird, „ad ha sof“, wie es hebräisch heißt, bis zur Zerstörung der Hamas. Rund 500.000 Israelis – beide Geschlechter, fast alle Altersstufen, die jüngsten 18, der älteste, ein Militärrabbiner, 79 Jahre alt – stehen derzeit unter Waffen, und gegenüber dieser halben Million hat es bisher nur einen einzigen Fall von Wehrdienstverweigerung gegeben und erst in der vergangenen Woche, fast drei Monate nach Kriegsbeginn: der 18-jährige Tal M. aus Tel Aviv erklärte im Musterungsbüro, dass er fürchte, Israels Truppen würden noch lange in Gaza bleiben, es käme von neuem zu einer „Okkupation“, und da er grundsätzlich die „Okkupation der Palästinenser-Gebiete“ ablehne, könne er nicht in der israelischen Armee dienen.
Er wirft immerhin eine uns alle bewegende Frage auf: Was wird nach dem Krieg aus dem zerbombten Gebiet? Der status quo ante ist nicht zu empfehlen, die unkontrollierte Selbstherrschaft islamisch-terroristischer Gruppen. Andererseits stieße die Idee, erneut unsere Truppen dort zu stationieren, bei vielen Israelis auf Widerstand: Wer möchte seine Kinder oder Enkel längerfristig in dieser Hölle wissen? Aus den Berichten der freigekauften Geiseln wissen wir, dass die Gaza-Bevölkerung ein Potenzial von Gewalttätern und Judenhassern ist. „Es gibt dort keine unschuldigen Bürger“, sagte die befreite Geisel Mia Shem in einem Fernsehinterview. „Es sind von der Hamas kontrollierte Familien. Es sind Kinder, denen vom Moment ihrer Geburt an beigebracht wurde, dass Israel Palästina ist und dass sie Juden hassen sollen.“ In der Zeitung Israel HaYom fragt der Journalist Ariel Kahana: „Wie lassen sich zwei Millionen Araber kontrollieren, die man seit ihrer Geburt gelehrt hat, Juden zu töten, noch dazu in einem engen, ruinierten Gebiet, ohne irgendwelche Ressourcen, dessen Bevölkerung keine Tradition der Unabhängigkeit oder Bemühen um Fortschritt kennt, sondern nur eine Kultur von Jihad und Mord?“
Zudem brechen in Gaza, wie die WHO beobachtet, epidemische Krankheiten aus. Dort lagern nicht nur Megatonnen Explosivstoffe, Raketen und Munition, nicht nur tausende Exemplare der arabischen Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“, sondern in gewissem Sinn noch gefährlichere Materialien: Viren, Bakterien, bisher unbekannte Erreger. Gaza ist eins der schmutzigsten Gebiete der Erde. Schon im Sommer wurde in israelischen Zeitungen vor giftigen Abwässern gewarnt, die sich von dort ins Meer ergießen, und das Baden am Strand von Zikim nahe der Gaza-Grenze verboten.
Man kann davon ausgehen, dass in Gaza hunderttausende Menschen ohne alle hygienischen Vorkehrungen, ohne Kanalisation, Müllabfuhr oder Seuchenprävention leben, dass der Gaza-Streifen demnächst eine riesige Kloake sein wird. Das Eindringen von Raketen oder Terroristen lässt sich verhindern, aber nicht das Eindringen vergifteter Luft und verseuchten Wassers. Wenn unsere Zeitungen schreiben, man befürchte Infektionen, kann man davon ausgehen, dass bereits Fälle aufgetreten sind. Besonders gefährdet sind verletzte israelische Soldaten, heißt es in ersten vorsichtigen Berichten, einer soll bereits an einem rätselhaften Infekt gestorben sein. (Womit sich der Kreis für mich schließt, der Jahreskreis. Der Kreis dieses schlimmen Jahres, das auch für mich mit einer rätselhaften Infektion begann.)
2024 wird für uns ein schwieriges Jahr, kaum besser als das vergangene. Als Berliner, der in den Ruinen des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen ist und den Aufstieg der Stadt aus Schutt und Asche, Teilung und Elend miterlebt hat, bin ich ein unverbesserlicher Optimist. Und Optimismus zeigt sich eigentlich erst in schlechten Zeiten. Ich bedauere meine Enkel, deren Erwachsenenleben mit einem Krieg beginnt, den wir Älteren nicht verhindern konnten. Unsere Enkelin S., jetzt 19, ist direkt von der Schulbank in den Krieg gezogen. Doch sie selbst strahlt Zuversicht und gute Laune aus. Ja, sie hätte Alpträume, seit sie in Gaza war, gesteht sie ein, aber sie sei stolz darauf, dass sie dabei war. Ihre Brüder sind nicht weniger entschlossen aus Gaza zurückgekehrt und halten sich für weitere Einsätze bereit.
Eine Generation formiert sich, die mir fast unheimlich ist in ihrem Kampfesmut und ihrer positiven Weltsicht, und die ich zutiefst dafür bewundere. „Gib deinen Kindern und Enkeln Gelegenheit, etwas für dich zu tun“, schrieb der britische Rabbiner Jonathan Sachs zum Torah-Abschnitt dieser Woche. „Das größte Geschenk, dass du einem Enkelkind machen kannst, ist, dass du ihm die Möglichkeit gibst, dir etwas beizubringen, dich zu belehren.“ Er meinte es allgemein, nicht auf die extreme Situation dieser Tage gemünzt, denn er ist vor drei Jahren gestorben. Wir haben den Enkeln die Verteidigung unseres Lebens überlassen, wir lernen von ihnen Tapferkeit, Lebensmut und Stehvermögen. Sie zeigen uns, wie man in schweren Tagen den Kopf hoch hält, wie man seine Arbeit – und mag es die mit der Waffe sein – in Präzision ausführt, unter größtmöglicher Berücksichtigung des Menschlichen. Sie belehren uns durch ihr Beispiel. 2024 mag werden, wie es will, aber ich freue mich darauf, meine Enkel siegen zu sehen.
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland. In der Achgut-Edition ist von ihm erschienen „Der Rufer aus der Wüste – Wie 16 Merkel-Jahre Deutschland ramponiert haben. Eine Ansage aus dem Exil in Israel“.