Henryk M. Broder / 27.06.2018 / 15:00 / Foto: Eva Rinaldi / 24 / Seite ausdrucken

Ich fühle mich ja so ausgegrenzt

Das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen hat eine Erklärung dafür gefunden, warum viele "Deutschtürken" für Erdogan gestimmt haben – weil sie sich unter anderem auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt "ausgegrenzt fühlen".  

Ich kann das nachvollziehen. Ich fühle mich jedes Mal ausgegrenzt, wenn ich mit meinem alten Daihatsu von einem BMW oder Porsche überholt werde. Oder wenn ich in einem ICE keinen Platz am Fenster bekomme. Oder überhaupt keinen Platz bei Borchardt. Und bei vielen anderen Gelegenheiten. Ich weiß allerdings, dass "ausgegrenzt sein" und sich "ausgegrenzt fühlen" nicht dasselbe ist, nicht einmal das gleiche. Muss ich trotzdem Anton Hofreiter und seine Partei wählen?

Das mit der gefühlten Ausgrenzung ist so wie mit den gefühlten Temperaturen. Es gibt Leute, die sich auch im Hochsommer den Arsch abfrieren und andere, die bei 20 Grad unter Null schwitzen. Deswegen stellt das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen das Wahlergebnis vom letzten Sonntag vom Kopf wieder auf die Beine. Die Darstellung, zwei Drittel aller hier lebenden türkischen Wahlberechtigten habe Erdogan gewählt, sei... nicht korrekt. Richtig dagegen sei:

Von den 2,8 Millionen in Deutschland lebenden Türken seien 1,4 Millionen wahlberechtigt gewesen. Von ihnen habe sich lediglich knapp die Hälfte beteiligt. Von diesen rund 660.000 Stimmen bekam die AKP und Erdogan dann rund 65 Prozent, also 430.000 Stimmen.

Alles halb so schlimm. Es haben nicht 65 Prozent der Wahlberechtigten für Erdogan gestimmt, sondern nur 65 Prozent derjenigen, die an der Wahl teilgenommen haben. Auf diese Weise werden auch die Wahlergebnisse in Deutschland, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern berechnet. Die Zahl der Wahlberechigten ist nie identisch mit der Zahl der Wahlbeteiligten. Nur bei den Wahlen in der Türkei ist das offenbar anders, und deswegen muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass eben nicht zwei Drittel aller hier lebenden türkischen Wahlberechtigten Erdogan gewählt haben.

Man kann natürllch noch einen Schritt weiter gehen. Wenn von den 2,8 Millionen in Deutschland lebenden Türken nur 430.000 für Erdogan gestimmt haben, dann waren das etwa 15 Prozent aller in Deutschland lebenden Türken. Klingt doch gleich viel besser als 65 Prozent. Aber dann fühlen sich auch viel weniger ausgegrenzt, oder? 

Achgut.com ist auch für Sie unerlässlich?
Spenden Sie Ihre Wertschätzung hier!

Hier via Paypal spenden Hier via Direktüberweisung spenden
Leserpost

netiquette:

Test 45: 50185

Peter Terres / 27.06.2018

Hallo Herr Broder,die Gründe für die Argumentation des ZTI liegen auf der Hand! Aber da muss man ansetzen! So sehr die gewählte Relativierung unserer Bundes-Mutti auch gefallen mag, haben wir es hier mit einer sogenannten Selbstüberlistung der Politikerkaste und ihrer Helfer zu tun:2017 waren (gerundet!) max. 80% der deutschen Staatsbürger (nicht Wohnbevölkerung) wahlberechtigt. Davon haben (aufgerundet) 77% an der Bundestagswahl teilgenommen, bei der Union und Spezialdemokraten knapp 54% der abgegebenen gültigen Stimmen bekamen. Hier gilt die Annahme, dass 95% der Wohnbevölkerung Passdeutsche sind und je nur 67% der Anhänger der Parteien eine GroKo wollten.Folge: Gehen Sie über die Straße, schauen Sie sich die Passanten an! Gerade mal jeder 5. (20%) hat die aktuelle GroKo gewollt. Von der durch das Parlament ins Amt beförderten Kanzlerin wollen wir gar nicht erst sprechen!Ich erkenne kein Demokratiedefizit in der Türkei! Ein stolzer Türke darf sich seinen Diktator mit ca. 50% Zustimmung selbst wählen. Da hat Deutschland gewaltigen Nachholbedarf.

Peter Pertz / 27.06.2018

Aber 87 % der Deutschen haben die Altparteien gewählt. Na dann ist ja alles gut.

Martin Wessner / 27.06.2018

Volltreffer! Ist nur eine billige Ausrede und das übliche "Die anderen sind schuld"-Spielchen. Unsere türkischstämmigen Mitbürger in Deutschland haben Erdogan nicht gewählt, weil sie sich ausgegrenzt fühlen, sondern, weil sie vielmehr in ihrer Mehrheit sehr konservativ sind und (daher) mit den politischen und weltanschaulichen Überzeugungen von Herrn Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP weitgehenst übereinstimmen. Period!

Elmar Schürscheid / 27.06.2018

Haha, das ist Mathematik vom feinsten. Da kratzt Adam Riese sich am Kopf.

Ulla Smielowski / 27.06.2018

Herr Broder machen Sie sich keine Gedanken wegen Ihres Daihatsus.. Im Porsche sitzt man so schlecht. Äußerst unbequem, egal wie groß er ist.Ein Problem habe ich allerdings... wie soll ich es nur ausdrücken. Ich zweifle am Verstand der Türken, die diesen Erdogan wählten. Kann man die Augen verschließen vor der Realität? Geht das denn? Dasselbe ist mit dem Verhalten so einiger die hier leben: Kleinste Hinweise, führen zu massivsten Bedrohungen, ja zu Tätlichkeiten. In der Schule, Ausbildung strengen sie sich oft nicht an. Schuld sind immer die anderen, z.B. der Lehrer, der das benotete. Überhaupt fallen mir einige auf, die ein auffälliges Verhalten bevorzugen. Bei Rossmann, einer Drogeriekette, wird alles geöffnet und befühlt, diskutiert in einer Gruppe von 5 Leuten,. ebenso bei Penny. Bei REWE oder Edeka oder gar Biomärkten ist mir das noch nie aufgefallen.... Wenn ich das, fast täglich, nicht selbst erlebte, so könnte ichs kaum glauben. Dann bezeichnete ich das wohl auch als Hetze.... Aber wie will jemand ohne ausreichende Schulbildung und ohne Anstregung eine gute Arbeitsstelle finden?

Ronald M. Hahn / 27.06.2018

Ich hab mich einmal im Leben wirklich ausgegrenzt gefühlt: Als ich in einem türkischen Restaurant in der Köln-Mülheimer Keupstraße zum Essen ein Bier bestellte und mir vom Kellner einen Blick einhandelte als hätte ich ihn um die Hand seiner neunjährigen Tochter gebeten.

Karl Eduard / 27.06.2018

Naja, Herr Broder, sollen die etwa schreiben, daß sich ein stolzer Türke nicht mit der jammerlappigen deutschen Genderkultur anfreunden kann, deren höchstes Glück darin Ausdruck findet, sich alle Nase lang für die Geschichte zu entschuldigen? Das zwar ja der Wahrheit nahe aber die ist ja seit einiger Zeit tabu.

Weitere anzeigen

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Henryk M. Broder / 05.07.2025 / 06:15 / 103

Dunja Hayali und die Wege der Diplomatie

Dunja Hayali hat vor kurzem Sigmar Gabriel im heute journal interviewt, routiniert wie immer. Dabei berief sie sich auf das Völkerrecht und behauptete, Kriege würden…/ mehr

Henryk M. Broder / 15.06.2025 / 13:00 / 14

Was Sie schon immer über den Antizionismus wissen wollten ...

An diesem Wochenende findet in Wien der erste jüdisch-antizionistische Kongress statt. Das Ereignis wird seit Wochen in den sozialen Medien konspirativ beworben. Der Veranstaltungsort wird…/ mehr

Henryk M. Broder / 10.06.2025 / 16:00 / 54

Der antisemitische Furor der gehobenen Stände

Die Zeit wird offenbar auch von Lesern konsumiert, die nicht ganz zum postulierten liberalen Profil des Blattes passen. Was sich bei deren Online-Ausgabe unter den…/ mehr

Henryk M. Broder / 01.06.2025 / 06:00 / 94

Endlich muss man „Messerstecher*innen“ sagen

Was wollte die Messerstecherin von Hamburg mit ihrer Tat beweisen? Die 39-jährige weiße deutsche Frau, die im Getümmel des Hamburger Hauptbahnhofs unter Einsatz eines Messers…/ mehr

Henryk M. Broder / 26.05.2025 / 12:00 / 59

Überleben, um von Kriegsverbrechen abzulenken?

Warum wächst der Antisemitismus eigentlich, wenn es immer mehr und neue Antisemitismus-Beauftragte gibt? Vielleicht, weil manch einer, der sich dazu berufen fühlt, auch schon mal…/ mehr

Henryk M. Broder / 21.05.2025 / 17:00 / 0

Bedeutende Denkerinnen und Denker des 21. Jahrhunderts – Heute: Wolfgang K.

Wolfgang Koydl plädiert in der Weltwoche für einen "Diktatfrieden" zu Lasten der Ukraine. Denn: "Diktatfrieden werden dem Kriegsgegner auferlegt, der den Krieg verloren hat. Dies…/ mehr

Henryk M. Broder / 20.04.2025 / 12:00 / 40

Eine Chronik der Massaker in Kosovo

Dies ist kein Coffee-Table-Buch, kein Buch, das man auf Reisen mitnimmt. Und keine erbauliche Lektüre. Der Inhalt kommt einer Schocktherapie sehr nahe. Es ist eine…/ mehr

Henryk M. Broder / 31.03.2025 / 14:00 / 48

Al-Quds Tag: Positioniert euch!

The same procedure as every year! Nur dass dieses Mal der Präsident des Zentralrates der Juden muslimische Verbände um Hilfe bittet. Leider vergeblich. Stellen Sie…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com