Eine deutsche Geschichte als Geschichte der Freiheit: Ist das nicht abwegig? Gelten die Deutschen nicht vor allem als das Volk der Staatshörigkeit, der Staatsmetaphysik, der knechtischen „Freiheit zu gehorchen“ („libertas Oboedientiae“)? Uferte der Weg der Deutschen nicht in den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts und in die „deutsche Katastrophe“ von 1945 aus? Gibt es nicht Kontinuitäten von Karl dem Großen über die mittelalterlichen Kaiser, dann das großstaatliche Preußen mit Friedrich dem Großen und Bismarck bis zum „Führer“? (So sahen es die nationalsozialistischen Historiker.) Und sind es nicht deutsche Philosophen und Ökonomen gewesen, die den Macht- ebenso wie den Wohlfahrtsstaat verherrlicht haben (Hegel, Treitschke, Adolf Wagner, Schmoller) und den utopischen Sozialismus begründeten (Rodbertus, Marx, Engels)
Ich will eine andere Geschichtslinie der Deutschen zeigen – als Träger einer reichen politischen Kultur der Freiheit, des Universalismus, einer fast unglaublichen Vielfalt politischer Institutionen und dazu einer reichhaltigen Freiheitsliteratur. Die Deutschen waren nirgends und zu keiner Zeit nur ein Land des obrigkeitstreuen Gehorsams, einer „terra oboedientiae“. Ihr Hauptteil hatte historisch einfach „Pech“, als eine ungünstige politische Konstellation im 20. Jahrhundert eine Entwicklung sich durchsetzen ließ, die schon bei dem Wegdenken einzelner Faktoren – wie zum Beispiel der Weltwirtschaftskrise nach 1929 oder der Dämonie Adolf Hitlers – auch weniger unglücklich hätte verlaufen können; selbst noch in jenem späten Juli 1944, als einzelne Mutige sich auf den Weg machten, den „Führer“ in die Luft zu sprengen (nach bis dahin etwa 40 ähnlichen Bemühungen).
Der repräsentative Deutsche
National-preußische Historiker, von Heinrich von Treitschke und Gustav Droysen an bis zur Gegenwart, hatten es sich angewöhnt, die deutsche Geschichte bis zum sieghaften Aufstieg Preußens als politische Verfallsgeschichte mit dem Partikularismus und den Spaltungen als deutschem „Krebsübel“ zu schildern, seine Dezentralisation und sein „Weltdeutschtum“ (Thomas Mann) zu verdammen. In der Tat war der repräsentative Deutsche, auch unserer Klassik, gleichzeitig und vor allem mangels eines nationalen Zentrums betonter ideeller „Weltbürger“, wie Goethe, Schiller, Kant oder Wilhelm von Humboldt. Er entbehrte bis ins 19. Jahrhundert eines politischen Mittelpunktes und hatte das bis zu den napoleonischen Kriegen nur selten vermisst.
Es geht hier darum, dazu beizutragen, dass sich in Betrachtung der anderen Seite der deutschen Geschichtslinie, des Polyzentrismus und Wettbewerbspluralismus, bei den historisch entwurzelten Deutschen in ihrem Hauptstaat ein bescheidener liberaler Patriotismus wieder entfalten kann – ein Patriotismus, der im Unterschied zum Nationalismus des 19. Jahrhunderts, nicht erkauft ist mit der Herabsetzung anderer Nationen oder einem hybriden Vormachtsstreben, ein Patriotismus also im Sinne Herders. Er ist, wie Friedrich Nietzsche einmal schrieb, nur ein „Wohlgefühl des Baumes an seinen Wurzeln“. Wie Herfried Münkler in unseren Tagen bemerkte, braucht jede Nation aus Gründen ihres Selbstverständnisses eine „große Erzählung“, Mythen und Symbole, die ihren Zusammenhalt und ihr Überleben sichern. Zu den Elementarbedürfnissen der Menschen gehört eben auch ein tiefes Verlangen nach Zugehörigkeit. Warum nicht die große Erzählung von der Freiheit und dem Wettbewerb in der deutschen Geschichte?
Es zeigt sich, dass es in der deutschen Geschichte („deutsch“ als kultureller Begriff) wunderbare Beispiele von Nicht-Zentralisation der Macht gab: ein Freiheitsbewusstsein unabhängiger Bauern und Bürger; genossenschaftliche Bauernrepubliken; stolze, konföderierte Städte; um Wohltaten für ihre Bürger konkurrierende Kleinstaaten mit liberal „aufgeklärten“ Herrschern, ja sogar „Frauenstaaten“. Jeder Libertäre wird staunend zur Kenntnis nehmen, dass es sogar unabhängige Dörfer, ja einzelne freie Bauernhöfe, auch hunderte von kleinen Ritterstaaten gab, deren Vielzahl allein die Macht jedes Einzelnen reduzierte, von politisch selbstständigen Bistümern, Klöstern und Abteien abgesehen.
Neben der institutionellen Vielfalt und dem politischen Wettbewerb gab es auch einen nicht weniger imponierenden religiösen und geistigen Pluralismus. Deutsche – Martin Luther – waren es, die das Glaubensmonopol der römischen Kirche durch eine religiöse Sezession durchbrachen. Ihr Beitrag zum liberalen Denken ist bedeutend: Kants Begründung des freien Rechtsstaates, von Humboldts, Schillers, Goethes liberale Schriften machten Weltgeschichte. Nirgends ist eine so schöne Theorie der individuellen Persönlichkeit entwickelt worden. Besonders stolz können die Deutschen auf ihre institutionelle Untermauerung der Freiheit, auch „jenseits von Angebot und Nachfrage“ (Wilhelm Röpke), sein: die Lehren des „Ordo“- und „Neoliberalismus“, die Entdeckungen der Österreichischen Schule der Ökonomie (Böhm-Bawerk, Hayek, Mises).
Die nihilistische Mode der „Dekonstruktion“
Für ihren Abfall von den Grundsätzen individueller Freiheit und ihre überspannten Machtpolitik haben die Deutschen furchtbar büßen müssen: mit dem Untergang ihrer alten Städte, der Abwanderung oder Vernichtung großer Teile ihrer Elite, der Vertreibung von Millionen aus seit Jahrhunderten angestammten Siedlungsgebieten, der territorialen Verkleinerung, der Teilung mit 40 Jahren totalitärer Fremdherrschaft im Osten des Landes. Und am allerschlimmsten: dem brennenden Gefühl der Schande und der Scham über Untaten, die man, bevor sie geschehen sind, in einer so hochstehenden Nation für unvorstellbar gehalten hatte. Bis heute wirkt auch bei Jüngeren dieser Absturz traumatisierend nach, verhindert ein ruhiges politisches Selbstbewusstsein und treibt in utopische Mythen. Dies wird verstärkt durch die nihilistische Mode der „Dekonstruktion“ (Foucault, Derrida, Deleuze u.a.), welche die Menschen "allein in der Welt" zurücklässt.
Sie haben keinen Anker mehr und keine Beziehung zu einem Ort und sie werden so zum Opfer von jeder Schwärmerei und jeder vorübergehenden Mode, egal wie krank oder gutartig diese auch sein mögen. Unter diesen Umständen ist es nicht weiter überraschend, wenn Menschen infolge solcher Schwärmereien in den wütenden Tonfall verfallen, der die Auseinandersetzungen unserer Zeit in besonderem Maße prägt. Die Raserei entsteht nicht allein durch die jeweils aktuelle Wut, sondern durch ein tiefes Gefühl des nirgendwo Hingehörens, durch das Empfinden, dass die Welt, in der man sich befindet, „nicht so ist, wie es einen gelehrt wurde“ (Douglas Murray, Vorwort zu Scruton, 2019). Dies gilt nicht nur, aber besonders im unruhigen Deutschland.
Dies ist das geringfügig gekürzte Vorwort aus: „Freiheit und Deutschland. Geschichte und Gegenwart“, dem neuen Buch von Gerd Habermann. 2020, Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek, hier bestellbar.