Claudio Casula / 02.04.2022 / 12:00 / Foto: Stormxpadme / 49 / Seite ausdrucken

Fall Ofarim: Im Land der Hysteriker

Vor einem halben Jahr berichtete der jüdische Sänger Gil Ofarim von einem antisemitischen Vorfall. Dann kamen Zweifel an seiner Schilderung auf. Jetzt sieht der Musiker selbst einer Anklage entgegen – wegen Verleumdung und falscher Verdächtigung.

„Pack deinen Stern ein!“, soll ein Mitarbeiter beim Check-in im Leipziger Hotel Westin damals zu Ofarim gesagt haben, der zu diesem Zeitpunkt eine Halskette mit XXL-Davidstern sichtbar getragen haben will, sonst könne er nicht einchecken. Jedenfalls stellte der Sänger das in einem Handyvideo nach dem vermeintlichen Vorfall so dar, sichtlich erschüttert und fassungslos am Daumen nagend.

Kaum machte das Video in sozialen Netzwerken die Runde, reagierte die Öffentlichkeit mit Abscheu und Empörung, sogleich wurde zum Boykott des Hotels aufgerufen. Hunderte fanden sich vor Ort zu einer spontanen Demonstration ein. Antisemitismus! Und auch noch in Sachsen! Das triggerte alsbald die üblichen Verdächtigen. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, sprach vom „Alltagsantisemitismus, dem Jüdinnen und Juden immer wieder ausgesetzt sind“. Sachsens stellvertretender Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) entschuldigte sich auf Twitter für die „antisemitische Demütigung“. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes beklagte einen „unfassbaren Fall von Antisemitismus“. Der Vorfall könne nicht folgenlos bleiben.

Die allgemeine Aufregung entbrannte wohl etwas vorschnell. Bilder der Überwachungskameras konnten Ofarims Version der Geschichte nicht stützen, von einer Halskette mit Davidstern keine Spur. „Ich habe diese Kette immer an, ich bin auch bekannt dafür, dass ich immer mit dieser Kette auftrete", so Ofarim. Auch an diesem Abend habe er den Stern getragen: „Ich habe nicht gelogen." Der BamS sagte er: „Jemand hat mich erkannt. Es geht hier nicht um die Kette. Es geht eigentlich um was viel Größeres. Da ich oft mit dem Davidstern im Fernsehen zu sehen bin, wurde ich aufgrund dessen beleidigt."

Nicht nur die Bilder der Überwachungskamera sprechen gegen Ofarims Darstellung, auch von 30 befragten Zeugen konnte keiner den Vorfall bestätigen. Das Verfahren gegen den Hotelangestellten wurde eingestellt. Ofarim hingegen wird nun vorgeworfen, bei einer polizeilichen Vernehmung am 12. Oktober einen falschen Geschehensablauf wiederholt und den Hotelangestellten angezeigt zu haben, berichtet BILD.

In Israel gibt man Antisemiten eins auf die Zwölf, Gil!

Ob nun Gil Ofarims Schilderung zutrifft oder nicht, ist gar nicht so entscheidend. Sollte er den antisemitischen Vorfall aus aufmerksamkeitsökonomischen Gründen erfunden haben, fällt das nicht nur auf ihn zurück, sondern leistet auch dem Kampf gegen Antisemitismus einen Bärendienst. Auch Leute, die sich ein Hakenkreuz in die Hüfte ritzen und danach von einem Überfall durch Neonazis berichten, tun der Sache keinen Gefallen. Von Sebnitz ganz zu schweigen.

Falls Ofarim doch recht haben sollte, befremdet die Betroffenheitsnummer nach dem Vorfall. Hat ihm sein Vater Abi, in Tel Aviv geboren, nicht beizeiten erzählt, dass sich ein Israeli nicht hinhockt und aller Welt greinend erzählt, wie übel ihm mitgespielt wurde? In einer feindlichen Umwelt („We are living in an very tough neighborhood“, Ehud Barak) empfiehlt es sich nicht, den Schwanz einzuziehen, sobald einem jemand querkommt, sondern im Gegenteil ordentlich Kontra zu geben. Diese Lektion haben die Israelis gelernt. Oder wie Dan Shueftan sagte: „Und wenn ich auch wandere im finsteren Tal, so fürchte ich kein Unheil, denn ich bin der größte Hurensohn weit und breit!“

Gil Ofarim jedoch opfert medienwirksam herum. Sehr uncool. Aber es passt zum Betroffenheitskult, der hierzulande bis zum Exzess zelebriert wird. Ein einziger Idiot reicht, der in einem vollbesetzten Stadion seinen Bierbecher auf einen Schiedsrichterassistenten schleudert oder Affenlaute in Richtung eines dunkelhäutigen Spielers absondert, und schon steht der Spielabbruch bevor. Statt dem Troglodyten eine Kopfnuss zu verpassen, wie man es früher gehandhabt hätte, müssen 60.000 Zuschauer nach Hause gehen, und die Sportzeitungen verbringen die nächsten zwei Wochen damit, sich über diesen neuen Rassismus-Skandal zu empören.

Wie meschugge ist eine Gesellschaft im Dauerzustand der Hysterie?

Nach dem von Ofarim geschilderten Vorfall hätte sich jede Vorverurteilung grundsätzlich verboten. Man hätte dem Beschuldigten zumindest zuhören müssen („audiatur et altera pars“, so hieß das im antiken Rom), und der alte Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) wäre auch in diesem Fall anzuwenden gewesen. Danach hätte man sich immer noch aufregen können, zumal ja nicht zu leugnen ist, dass der Antisemitismus keineswegs gänzlich ausgerottet ist, wie jeder weiß, der sich mit Judentum oder dem jüdischen Staat beschäftigt.

Die Frage lautet also nicht: Wie meschugge ist – möglicherweise – Gil Ofarim, sondern: Wie meschugge ist eine Gesellschaft, die auf jeden Vorfall, jeden Trigger, und handle es sich auch erstmal nur um ein Gerücht, derart hysterisch reagiert? Kultiviertes Verhalten sieht anders aus. Auch die Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, rechtfertigt durchaus keine reflexhafte Empörung, sobald irgendetwas passiert zu sein scheint, was den gesellschaftlichen Friede-Freude-Eierkuchen-Zustand stört. 

Dabei kommt nicht nur das Recht unter die Räder, das durch wohlfeile Entrüstung und einen „Aufstand der Anständigen“ ersetzt wird, sondern auch Individuen wie der Hotelangestellte, der Ofarim antisemitisch angegangen sein soll. Mag sein, dass das Verfahren vorm Landgericht Leipzig am Ende zu seinen Gunsten ausgeht, aber schon die Vorverurteilung wird ihm eine Lehre fürs Leben gewesen sein. Im Deutschland dieser Tage ist der kühle Kopf fast durchgängig von einer ständig auf Stand-by geschalteten Empörungsbereitschaft ersetzt worden. Noch heute wird garantiert irgendetwas von irgendjemandem gesagt, was wieder das halbe Land auf die Palme bringt, statt debattiert oder auch einfach mal ignoriert zu werden. Gesund ist das für eine Gesellschaft nicht.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Rainer Schweitzer / 02.04.2022

Es gab gute Gründe,  bei der Geschichte von Anfang an äußerst mißtrauisch zu sein. Das betreffende Hotel in Leipzig gehört zur amerikanischen, weltweit präsenten Marriott Gruppe und hat absolut internationale Gäste. Ausgerechnet dort soll ein offen antisemitischer Neonazi gearbeitet haben, der solche Sprüche auch noch lauthals vor anderen Gästen an der Rezeption macht? Glaubt man so etwas? Das ist so wahrscheinlich, wie daß Kühe fliegen können. Es überrascht, daß H. Ofarim mit so einer Geschichte an die Öffentlichkeit geht. Sollte er ernsthaft geglaubt haben, damit duchzukommen, ohne daß sie auffliegt? Dann müßte er ein erschütternd schlichtes Gemüt haben. Wenn sie wirklich erfunden ist und alles sieht danach aus, offenbarte das in jedem Falle einen außergewöhnlich miesen, niederträchtigen Charakter. Denn daß der betreffende Angestellte zunächst einmal erhebliche Schwierigkeiten bekommen würde, muß ihm von Anfang an klar gewesen sein, vorausgesetzt, man will ihn nicht gleich für einen Vollidioten halten. Anderen Menschen und Organisationen derart rücksichtslos Schaden zuzufügen, um sich selber zu profilieren, das ist wirklich unterste Schublade.

Helga Müller / 02.04.2022

Der Herr Ofarim hat seinerzeit den Jussie Smollett gegeben. Letzterer ist übrigens zu einer Haftstrafe verurteilt worden, allerdings ist er nach nicht mal einer Woche wieder draußen, weil er “in Revision” gegangen ist; im Vorfeld hatte sich in den USA neben den Medien auch eine zuständige Staatsanwältin (?) und nachgewiesenermaßen persönliche Freundin von Michelle “Mike” Obama für den Schauspieler Smollett stark gemacht. Hier wie dort: Man erkennt die Absicht und ist mehr als nur verstimmt.

RMPetersen / 02.04.2022

“Ob nun Gil Ofarims Schilderung zutrifft oder nicht, ist gar nicht so entscheidend.” Ich dachte, das sei bei der Achse anders, hier würden Fakten eine Rolle spielen. Aber seit dem Angriff der Russen auf die Ukraine ist oft auch hier “Haltung” wichtiger als Differenzierung.

Mats Skinner / 02.04.2022

Natürlich gibt es auch hier eine Geschichte hinter der Geschichte: Der gute öffentlichkeitsaffine Künstler hatte den Auftrag, die gesamten Betroffenheits- und Spaßbewohner des ultralinken Stadteils C. aus der Reserve, sprich ihren Wohnungen und Barrikaden zu locken, damit der entsprechende Schutzverein in Präsent 20-Anzügen die Domizile akkurat verwanzen kann, ohne Auseinandersetzung und Beobachtung der renitenten Bewohner und Widerstandskämpfer. Während man betroffen-besoffen vor dem Leipziger Hotel skandierte, wurden die Buden, gemäß den Vorgaben aus das Leben der Anderen, auf akustische Sensibilität getrimmt. Überglücklich und erschöpft von ihrem täglichen Kampf gegen die rechte Brut kehrten die Einheimischen in ihre Behausungen zurück, in dem festen Glauben, es treffe ja haltungsgerecht immer nur die Anderen. Damit wurden gleich zwei Fliegen mit einer Klatsche getroffen: Die Angestellten des Hotels wurden, auch durch internationale Hinweise, auf politisch korrekte Linie gebracht, wozu es sonst unzählige Meetings und Erziehungssanktionen gebraucht hätte und einem hypermoralisierender Mob tiefe Entspannung durch aktivistische und antifaschistische, aufmerksamkeitsdefizitär kompensatorische, Handlungen beschert. Quasi eine Win-win-win Situation, weil in Zukunft alle spontanen und ungeplanten Volksfeste in C. rechtzeitig eingeplant werden können, inklusive biometrischer Zuordnung der Teilnehmerlisten. Wie lehrte uns schon der Hauptdarsteller Goethe aus dem gleichnamigen Kopulationsfilm: „Mein Leipzig lob ich mir!“

ricardo sanchis / 02.04.2022

Aber es geht hier doch gar nicht darum ob das stimmt was Ofraim gesagt hat. Es geht doch hier um was viel Größeres. Er hat sich nur im Dienst der guten Sache gestellt und nun wird er dafür jetzt von alten, toxischen, weißen Naziraissisten angefeindet.  *lach

Stanley Milgram / 02.04.2022

Es gibt viele Gründe, dieses heutige Deutschland zu verachten. Nicht nur der digitale und mediale Pöbel, der sofort mit virtuellen Mistgabeln loszieht, wenn einer etwas behauptet, ohne den anderen anzuhören. Allerdings habe ich ähnliche Aktionen auch bei anderen Landsleuten bereits erlebt… es ist ekelhaft.

Dietmar Moll / 02.04.2022

Da bleibt zu hoffen, dass dem Herrn Ofarim ein ordentlicher Denkzettel verpasst wird !

L. Bauer / 02.04.2022

Herr Casula, danke, alles gesagt. Zwei Dinge möchte ich anmerken. Erstens war mir von Anfang an klar, dass der Bursche lügt. Wer sich ein bisschen mit Hotels und deren internen Richtlinien auskennt, vor allem in den großen Häusern der Ketten. Darin ist für Hotelangestellte gar kein Platz für persönliche Meinungen. Man hat höflich und freundlich zu sein und zu dienen. Das ist der Sinn eines Hotels und die Angestellten wissen das sehr genau. Es wird nie jemand laut durch die Lobby brüllen und dabei noch persönlich werden. Gehört nicht zur Stellenbeschreibung. Dafür Diskretion. Und zweitens, er ist meschugge! Und zwar ordentlich.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Claudio Casula / 03.05.2024 / 06:15 / 121

Good Buyx!

Nach acht Jahren, davon vier als Vorsitzende, ist Alena Buyx aus dem Deutschen Ethikrat ausgeschieden. Anlass, ihr Wirken in der Corona-Zeit noch einmal angemessen zu würdigen. In einer…/ mehr

Claudio Casula / 01.05.2024 / 06:15 / 82

Der Tag der verschmähten Arbeit

Auch an diesem 1. Mai werden Politiker wieder über Arbeit sprechen und dabei reichlich heiße Luft emittieren. Selbst haben sie immer häufiger mit echter Arbeit…/ mehr

Claudio Casula / 29.04.2024 / 12:00 / 103

Hamburg auf Kalifat-Kurs

Seit vielen Jahren ist Hamburg eine Hochburg des Islamismus, doch die Behörden haben vor allem ein Auge auf den Rechtsextremismus. Am Wochenende riefen hier über 1.000 Islamisten…/ mehr

Claudio Casula / 27.04.2024 / 06:00 / 100

Mario Voigt und die Lizenz zum Twittern

Im digitalen Raum regt sich unvermindert Widerstand. Jetzt liebäugelt auch Thüringens CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt mit Zensur-Fantasien. Mehr als vier Jahre ist es her, da wurde die Wahl eines…/ mehr

Claudio Casula / 25.04.2024 / 06:00 / 108

Boris der Große im ZDF

Ein Film über Verteidigungsminister Boris Pistorius im ZDF wird als Meisterwerk der Hofberichterstattung in die Fernsehgeschichte eingehen. Vor einer Woche zeigte das ZDF die Doku „Mensch Merz!…/ mehr

Claudio Casula / 24.04.2024 / 06:25 / 58

Mit Inhalierscham das Klima retten

Schlechte Nachrichten für die 6,1 Millionen Patienten in Deutschland, die auf Inhalatoren angewiesen sind: Sie sind von einer neuen EU-Verordnung betroffen. Die Verordnung über fluorierte Treibhausgase und…/ mehr

Claudio Casula / 20.04.2024 / 06:15 / 77

Corona-Ticker (15): Die Geister lassen sich nicht verjagen

Wie sieht es aus mit der Aufarbeitung der Corona-Zeit? Die Politik wehrt sich, die Medien zieren sich und die Justiz macht weiter wie bisher.  Mit…/ mehr

Claudio Casula / 19.04.2024 / 12:55 / 127

Der Baerbock-Bibi-Kompetenz-Vergleich

Annalena Baerbock will Benjamin Netanyahu belehren. Was befähigt sie dazu? Wie Bild meldet, hat sich Außenministerin Annalena Baerbock beim Versuch, Israels Ministerpräsidenten mit der Warnung…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com