Mit „Extrawurst“ ist den Autoren von „Stromberg“ ein herrlich politisch unkorrektes Theaterstück gelungen: Ein dörflicher Tennisverein will einen Grill für Bratwürste anschaffen. Doch der Verein hat mit Erol ein muslimisches Mitglied.
Wenn der Tennisverein des örtlichen Marktfleckens einen Grill anschaffen will, dann kann das in einer Komödie oder einem Drama oder eben – wie in der Werbung für das Stück „Extrawurst“ bezeichnet – „Dramödie“ enden. Mit diesem Boulevard-Schauspiel tourt das EURO-Studio-Theater gerade durch Deutschland, ich habe eine Vorstellung in Aschaffenburg gesehen (Termine siehe unten). Getragen vom guten Willen aller Akteure mündet die Diskussion um die Anschaffung des Grills in einer Eskalation und letztlich in einer Schlägerei. Denn der Verein hat mit Erol ein muslimisches Mitglied. Ein junger Mann, der gemeinsam mit der Ehefrau eines anderen Vereinsmitglieds im „Gemischten Doppel“ das Paradepferd und erfolgreiche Aushängeschild des Vereins ist. Und ausgerechnet der wird von dem neuen Mega-Grill nicht profitieren können, weil sein Grillgut nicht mit dem Schweinegrillgut seiner nicht-muslimischen Vereinskameraden kompatibel ist.
Erols Beteuerungen, dass ihm das egal sei und für ihn kein Problem darstelle, er würde dann einfach nichts vom Grill essen, werden von seiner Doppelpartnerin unterminiert, die für seine Rechte kämpft, weil sie ihn für zu höflich hält, dies selbst zu tun. Die daraus resultierende Diskussion, inwieweit die Mehrheit sich der Minderheit anzupassen hat oder die Minderheit der Mehrheit oder ob alles egal ist, führt schließlich zur ausufernden Betrachtung über Religion, Ernährungsgewohnheiten, Beziehungen, verletzten Eitelkeiten, Geschlechterkampf, und es tauchen in flotten Wortgefechten sämtliche Argumente von ganz rechts bis ganz links auf, werden entkräftet, bekräftigt, verdreht, pervertiert, zu rhetorischen Strohmännern umgebaut, bis endlich jeder „irgendwie Nazi“ ist.
Die Realität fast punktgenau abgebildet
Für mich lautete der Schlüsselsatz, ziemlich am Anfang des Stücks, die Bekräftigung durch den jovialen Vorsitzenden: „Erol ist einer von uns.“ Genau dieser Satz stellt Erol plötzlich außerhalb des Vereins – denn wäre er „einer von uns“, müsste das nicht extra betont werden.
Im Grunde meint es jeder Protagonist gut und, verblüffend, jeder hat aus seiner Sicht recht. Ich persönlich habe mich in dem Ehemann Matthias von Erols Doppelpartnerin wiedergefunden. Liberal und sarkastisch, bis hin zur Selbstverleugnung. Ein knallharter Liberaler und Atheist, der zwischen den Seiten und Argumenten schwankt und sich auf diese Weise sowohl die Fraktion der abendländischen Verteidiger als auch die Willkommensunkulturer zum Feind macht und sich plötzlich zwischen allen Stühlen bewegen muss.
Den Autoren des Stücks, Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob, ist mit „Extrawurst“ ein Bühnenstück der Sonderklasse gelungen. Kein Wunder, haben die beiden doch auch schon für „Stromberg“ geschrieben und da den Beweis für ihr komödiantisches Talent und ihre genaue Beobachtungsgabe erbracht – und unter uns: Ich war im Innendienst einer Versicherung. Die beiden Autoren haben keine Satire geschrieben, sondern die Realität fast punktgenau abgebildet. Das ist ihnen mit „Extrawurst“ ebenso grandios gelungen.
Nur noch verkrampft miteinander umgehen
Das Ensemble um Gerd Silberbauer zeigt eine hohe Spielfreude und regelrecht Spaß bei der Arbeit. Silberbauer bekommt sogar einen knallroten Kopf, wenn er sich in seiner Rolle als Vereinsvorsitzender aufregt. Die Charaktere sind tatsächlich auch hervorragend gewählt und besetzt: Hier der sarkastische Liberale, der eben dabei ist, weil es seine Frau auch ist, da der „eigentlich“ integrierte Türke, dessen anfängliche Gelassenheit ihn verlässt, als ihm die Opferrolle von der wiederum engagierten Doppelpartnerin aufgedrückt wird, die ihn ja nur verteidigen will, dort der joviale Vereinsvorsitzende, der schon seit Ewigkeiten Vereinsvorsitzender ist und seine Zugänglichkeit aus seiner Machtposition heraus wie ein Fürst lebt.
Und letztlich der zweite Vorsitzende, der Gneisenau des vorsitzenden Blücher, der sich ehrenamtlich in Zahlen, Daten und Fakten verliert und unheimlich viel Freizeit in sein Ehrenamt investiert, satzungssicher und moralisch gefestigt ist. Einer muss es ja tun. All diese Charaktere dürften sich tatsächlich in jeder Partei und jedem Verein wiederfinden, und sie dürften ziemlich exakt genauso wie ihre Doubles auf der Bühne argumentieren.
Alles in allem, aber auch im Einzelnen, ein wirklich vergnüglicher Theaterabend mit der etwas bitteren Erkenntnis, dass jeder von uns da oben auf der Bühne steht und wir alle ab irgendeinem Punkt nur noch verkrampft miteinander umgehen, weil wir das Unverkrampfte verlernt haben. So bleibt als Aufforderung eigentlich nur der Schlusssatz freischwebend im Raum: „Seid glücklich.“
Das Einzige, was mich an diesem Abend wirklich enttäuscht hat, war die lächerlich geringe Zuschauerzahl. Bestenfalls 30 Zuschauer wollten sich in Aschaffenburg diese „Extrawurst“ gönnen, davon ganze zwei, die nach 1982 geboren wurden. Dieses Stück müsste Pflichtbesuch für sämtliche Politiker und Schulklassen sein und hätte ein ausverkauftes Haus mehr als verdient gehabt. Und das finde ich wirklich schade.
Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.
Weitere Termine:
Samstag, 7. Mai 2022, 20 Uhr, Kamen, Konzertaula Kamen, Tickets hier.
Sonntag, 8. Mai 2022, 17 Uhr, Lingen, Theater an der Wilhelmshöhe, Infos hier.
Montag, 9. Mai 2022, 19.45 Uhr, Stade, Stadeum. Tickets hier.
Dienstag, 10. Mai 2022, 20 Uhr, Beverungen, Stadthalle Beverungen, Tickets hier.
Mittwoch, 11. Mai 2022, 20 Uhr, Nienburg, Theater auf dem Hornwerk, Tickets hier.
Donnerstag, 12. Mai 2022, 20 Uhr, Langen, Stadthalle Langen, Tickets hier.
Freitag, 13. Mai 2022, 20 Uhr, Villingen, Theater am Ring, Tickets hier.
Samstag, 14. Mai 2022, 20 Uhr, Rodgau, Bürgerhaus, Tickets hier.
Sonntag, 15. Mai 2022, 18 Uhr, Neu Isenburg, Hugenottenhalle, Tickets hier.
Dienstag, 17. Mai 2022, 19:30 Uhr, Wolfenbüttel, Lessingtheater, Ausverkauft.
Mittwoch, 18. Mai 2022, 20 Uhr, Alfeld, Aula des Gymnasiums, Tickets hier.
Donnerstag, 19. Mai 2022, 19.30 Uhr, Bergisch Gladbach, Bürgerhaus Bergischer Löwe, Tickets hier.