Letztlich hatte er sich durchgesetzt. Er war kommunistischer Aktivist und Lehrer gewesen, konnte jetzt den gütigen, aber auch strengen Landesvater geben und in den Corona-Jahren zeigen, wie hart er durchgreifen kann.
„Aaaaah…“ Winfried streckte seine 1,93 Meter auf seinem Schreibtischsessel aus. Wie gewöhnlich hatte er sich seit halb acht durch den Pressespiegel gelesen, vor allem auf der Suche nach Berichten über den ersten grünen Ministerpräsidenten in Deutschland – ihn. „Und man muss nedd immr gleich damid komme, wenn i ebbes kridisiere, dess i noh an dr Pressefreiheid rumbossle“, dachte Winfried. „Nadierlich, i schdehe joo au schdändich undr Kridik. Ich muss scho sage, seit zähn Jahre läse i den Presseschbiegl, da hend i scho manchmol den Oidrugg, i beschdähe eigendlich nur aus Fähleret, aus Defizide, mache nie wirklich was ganz recht, des kann joo nedd sai!“
Andererseits: Sie hatten ihm auch jede Menge verziehen. Seine Vergangenheit war abgehakt, seit er sich glaubhaft vom Leichtsinn seiner jungen Jahre distanziert hatte. Diese Gnade wäre ihm nicht zuteilgeworden, wenn er eine braune Vergangenheit gehabt hätte, das war ihm bewusst. Gott sei Dank hatten er und seine Genossen den Marsch durch die Institutionen erfolgreich absolviert, daher konnte er großmütig verzeihen. „Vergäbung isch in dr Demokradie elemendar, s machd gerad ihre Schdärk aus“, hatte er in der Pädophilie-Debatte um Daniel Cohn-Bendit gesagt. Es fiel auch leichter, wenn es um die eigenen Leut' ging. Zuweilen dachte er schon daran, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er seinen kindlichen Berufswunsch umgesetzt hätte. Er kam ja aus einem sehr religiösen Elternhaus, hatte immer Pfarrer werden wollen. Stattdessen predigte er an der Uni, engagierte sich in der Hochschulgruppe des Kommunistischen Bundes Westdeutschland. Damals hatte ihm aufgrund des Radikalenerlasses sogar ein Berufsverbot gedroht, der Verfassungsschutz hatte ihn auf dem Kieker gehabt. „´s Läba isch koi Schlotzer“, dachte Winfried und fuhr sich durchs Bürstenhaar.
Letztlich hatte er sich durchgesetzt. Er war zunächst Gymnasiallehrer gewesen und dann in die Politik gegangen, hatte schließlich die Metamorphose zum gütigen, wenngleich manchmal strengen Landesvater vollzogen. Trotz seiner ostpreußischen Wurzeln war er ja durch und durch Schwabe: von der Fasnet über den Schützenverein bis hin zur Begeisterung für den VfB. Er pflegte Heimat, Dialekt, dieses Verwurzelte auch in der Region zu betonen, war aktives Mitglied im Kirchenchor – und im Schützenverein. „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen“, hatte der Große Vorsitzende schließlich gesagt. Der hatte überhaupt viele kluge Sachen gesagt, deshalb schmökerte Winfried immer noch gern in dem kleinen roten Buch. Selbst zur Kehrwoche fiel ihm ein Zitat ein: „Wo der Besen nicht hinkommt, wird der Staub nicht von selbst verschwinden.“ Seite 13. Er konnte es noch.
Irgendwann reißt der Daimler die Hufe hoch
Viele Seelen wohnten, ach, in Winfrieds Brust. Aber schon der Vorsitzende hatte gesagt: „Das Dogma ist weniger wert als ein Kuhfladen." Irgendwie kriegte er den Spagat immer hin. „Dess i d Wirdschafd verschdehe, des bild i mir scho oi“, dachte er. Im Ländle, neuerdings „The Länd“, konnte man nicht mit dem Bulldozer anrücken, das musste man alles behutsam machen. Schließlich war der Wohlstand hier erst ausgebrochen, als der Daimler kam. Den durfte man nicht zu stark verprellen, jedenfalls jetzt noch nicht. Er ärgerte sich immer noch über den Anfängerfehler, den er damals begangen hatte. „Wänigr Audos wäre nadierlich bessr als mehr“, hatte er der BILD mal vor Jahren gesagt. Und das im Land der Autobauer! Am nächsten Tag stand der damalige Daimler-Chef bei ihm vor der Tür. Verständlich. Aber die Zeiten hatten sich geändert, jetzt waren Lastenfahrräder angesagt. „´s kommt, wie ´s komma muss“, murmelte Winfried vor sich hin. „Dann reißd dr Daimlr nadierlich irgendwann d Huf hoch und des Ländle wird arm wie oi Kirchenmaus. Abr Haubdsache auf dr moralisch rächte Seide!“
Nach einem Telefonat mit dem Robert bereitete sich Winfried auf die Regierungspressekonferenz vor, die dienstags immer Punkt zwölf im Bürgerzentrum des Landtags stattfand. Wahrscheinlich verstanden die Presselümmel wieder nur die Hälfte, aber Winfried hatte nicht vor, sich auf seine alten Tage noch Hochdeutsch draufzuschaffen. Mit 74 Lenzen schien ihm das nicht mehr sinnvoll. Er hatte genug zu tun, musste etwa heute noch zu diesem Autozulieferer und am Abend nach Berlin. Winfried freute sich schon jetzt aufs Wochenende, endlich wieder stundenlang im Baumarkt die ganzen Schlagbohrmaschinen miteinander vergleichen. Und vor allem die Preise.
Zum Mittagessen in der Kantine gab es Spätzle, aber für ihn wie üblich ohne Soße. Winfried war kein Nassesser, egal, was die Leut‘ um ihn herum für üblich hielten. Die telefonische Anfrage zur Teilnahme an einer Polit-Talkshow schlug er umgehend aus, das war nicht wirklich seine Welt. Er hatte den Ruf, sich oft lang und manchmal auch umständlich zu erklären, außerdem hätte man dann wieder einen Simultanübersetzer gebraucht. Ihm lag das mit dem Daimler noch ein bisschen auf der Seele. Nervös nestelte Winfried an der grünen Krawatte, die er an diesem Tag trug, eine von über 300 in seinem Kleiderschrank in Laiz. Die Linie musste klar sein: die Autoindustrie erstmal am Leben zu erhalten, also musste er Umweltschutz und Automobilindustrie unter einen Hut bringen. „Wir müsse Wachschdum vom Nadurverbrauch endkobbeln. Dabei isch d Wirdschafd unsr nadierlichr Verbündedr. Nur sie kann grüne Idee umsedze, Audos sauberr, Maschine ressourceneffiziendr. Mir sind weldweid am beschde in dr Lag, Umweldschudz und Technologie z kombiniere und z exbordiere.“, sagte er im Interview mit dem SWR. Was sollte er sonst sagen?
Mit Spaziergängern richtig Schlitten fahren
Nach dem Kurzbesuch beim Zuliefererbetrieb warf er den Rechner an und schaute auf seine Homepage. Dort prangte noch immer auf der Startseite das Motto „Bewahren heißt verändern.“ Er hatte wirklich viel aus Orwells „1984“ gelernt. „Schdädr Trobfe höhld den Schdoi“, dachte Winfried. Man musste die Leut‘ müdelabern. In der Pandemie hatte es wie am Schnürchen geklappt. Gemeinsam mit dem Maggus hatte er den übervorsichtigen Onkel gegeben, der seinen Schützlingen auch mal Opfer predigen musste. Von einer „Plage biblischen Ausmaßes“ hatte er gesprochen. Und dann waren da noch die Ungeimpften. Durfte man die wirklich aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließen, als Chrischt?
Jäsus Chrischtus. Der hatte sich wohl mit Ausgegrenzten getroffen, mit Proschtituierten, Aussätzigen, Zöllnern. Von Ungeimpften war aber nicht die Rede. Damit war die Sache für Winfried klar, 2G beschlossene Sache. Für ihn kam eine Exit-Strategie selbstverständlich nicht infrage, er hatte sich „haltlose Ausstiegsdebatten“ verbeten und immer härtere Maßnahmen gefordert, drastische Eingriffe in die Bürgerfreiheiten, um Pandemien schneller unter Kontrolle zu bekommen. Dafür hatte er auch eine Grundgesetzänderung in Betracht gezogen. „Moi These lauded: Wenn mir frühzeidig Maßnahme ge d Pandemie ergreife könne, d saumäßich hard und womöglich z dem Zeidbunkd nedd verhäldnismäßich gägenübr den Bürgeret sind, noh könnde mir oi Pandemie schnell in d Knie zwingen".
Dafür war er scharf angegriffen worden, auch von den liberalen Grundgesetzfanatikern. Es gelte immer noch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Was für eine überkommene Ansicht! Aber typisch für die Deutschen, die ewigen Reichsbedenkenträger. Der Chinese wusste, wie’s geht. Gewiss brachte das Härten mit sich für die 25 Millionen Menschen in Schanghai, aber es war eben am sichersten für alle, wenn gar keiner mehr einen Schnupfen kriegen würde. Die Demokratie war da doch sehr schwerfällig. Der Große Vorsitzende hätte die Pandemie sicher frühzeitig in den Griff bekommen…
Und er hätte vor allem gewusst, wie man mit den Querdenkern richtig Schlitten fährt. Bis zu seinem Haus hätten es die „Spaziergänger“ jedenfalls nicht geschafft. Gerlinde war ganz schön erschrocken gewesen. „Demos vor Wohnhäuseret vo Polidikerinne und Polidikeret gehe mol überhaubd gar nedd!“, sagte Winfried vor sich hin. Immerhin war der Rädelsführer zur Zahlung von 30.000 Euro verknackt worden. Bestrafe einen, erziehe hundert.
Aber man musste nach vorn schauen. „Die demokratische Revolution ist die notwendige Vorbereitung zur sozialistischen Revolution.“ Übrigens auch vom Großen Vorsitzenden. Hajo, so isch des! Winfried warf einen dankbaren Blick auf das Porträt an der Wand.
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