Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich mag keine Überraschungen. Ja. Ich bin mittelmäßig bis mäßig spontan, genieße Routinen und, halten Sie mich für altbacken, aber mir ist genau der Tag lieb, an dem ich am Morgen bereits weiß, wie er am Abend enden wird. Es gibt Ausnahmen, wie Ausflüge, Tagesfahrten und der Dinge mehr, aber im Regelfall ziehe ich die Gewissheit der Tagesstruktur den Abenteuern der Unwägbarkeit vor.
Und daher mag ich auch keine überraschenden Begegnungen. Einige Male bereits hatte ich Damen beobachtet, die sich spontan in der Stadt trafen und sich minutenlang deswegen totlachten. Für mich eine schier unbegreifliche Reaktion. Ich hätte eher für den plötzlich erschienenen Bekannten ein schmales „Hi“ übrig und bereits den Vorwand auf der Zunge, diese unangenehme Situation zu verlassen. So war es zunächst auch, als ich einen vor gar nicht langer Zeit nahestehenden Menschen traf. Aus dem schmallippigen „Hi“ wurde dann doch eine durchaus angenehme Stunde, und sie war auch noch angenehm, warum auch nicht, als ich sein T-Shirt sah. „Black lives matter“ prangte in stolzen Lettern auf dem Körper eines der unschwarzesten Menschen, die man sich nur vorstellen konnte.
Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht
Er kann durchatmen und sich einen Ast abfreuen, denn er ist dabei. Ein weiteres, inzwischen kaum mehr zählbares Mitglied des Vereins der „kostenlos Mutigen“ betritt den Club! Halleluja. Anders als Doyles Liga der Rothaarigen wissen die Protagonisten jedoch genau, worum es geht: Im Grabenkampf der Moralinsüchtigen auf der besseren, der guten Seite der Geschichte zu sein. Endlich! Schrieb Opa Kurt noch die dunkle, deutsche Zeit mit, wollen es die Enkel nicht nur besser machen, sondern richtig gut und moralisch glänzend. Aus „Nie wieder Ausschwitz“ der Betroffen-Besoffenen wird bei den inzwischen Moraltrunkenen der Slogan: „Immer Teil der Guten“. Kann man beim ersten Spruch noch durchaus Interpretationen in die Zukunft finden, endet der zweite Satz im intellektuellen Nirwana.
Dieser ungemein unschwarze Mensch hat natürlich auch ein Che-Guevara-T-Shirt im Schrank. Dass der argentinische Massenmörder ihn aufgrund seiner Homosexualität wohl in ein Umerziehungslager gesteckt hätte, egal! YOLO, für die gute Sache und den treffsicheren Look kann man schon mal ein paar Augen zudrücken. Selbst wenn es Hühneraugen sind und entsprechend tief das Niveau sitzt.
Verstehen Sie mich richtig: Ich selbst habe Gewalt erlebt, und nicht nur deswegen kann ich durchaus Verständnis für die Empörung, was George Floyd und der Opfer mehr angeht, aufbringen. Doch was für einen anderen Grund als Separation, hier die Guten, da die Bösen, evozieren solche Kampagnen. „Schwarze Leben zählen auch“, na klar. Dafür brauche ich keine Straftaten und ganz sicher keine ganz und gar nicht schwarzen Menschen, die sich Slogans zu eigen machen, die sie sich eigentlich gar nicht zu eigen machen könnten.
Der Verein der kostenlosen Mutigen hat Hochkonjunktur. Scheunentor offene Profivereine feiern ihre grenzenlose Schwulenfreundlichkeit, während sie die Schwulenfeinde auf der Brust tragen. Wat schön. Der FC Bayern paktiert mit einem Land, in dem Frauen in Stoffgefängnissen drei Schritte hinter dem Ehemann herlaufen müssen und Homosexualität unter Strafe steht. Währenddessen ist man aber rot gegen Rassismus. Blutrot, wenn Sie mich fragen. Wer für alles offen ist, ist bekanntermaßen nicht ganz dicht. Und gerade bei den ganz Sozialen, den ganz arg verständnisvollen Exemplaren, die Diversität feiern, als wäre es ein Wert an sich; gerade bei denen läuft es, um im Bild mit der Dichte zu bleiben, wie nach einem Wasserrohrbruch.
Wer nichts riskiert, riskiert alles
Wenn man nichts riskiert, riskiert man alles. Und wenn sich Vereine oder Unternehmen oder Einzelpersonen entschließen, mit blutleeren Aktionen ihr Image aufzupolieren, riskieren sie mindestens ihre Glaubwürdigkeit. Als Alice Weidel im Wahlkampf 2017 ihre Homosexualität zum Ende einer scharfen Rede zur Sprache brachte, riskierte sie – nicht nur sprichwörtlich – eine Menge. Sie konnte nicht wissen, wie die Zuhörer reagieren würden.
Auch wenn sie das aussprach, was die meisten wohl bereits wussten, setzte sie ihre Sexualität auf die Agenda, um erleichtert festzustellen, dass sie für ihre Anhänger keine Rolle spielt. Sichtbar gerührt dankte Weidel mit Gesten des Respekts dem ankommenden Applaus. Unabhängig, wie man zur AfD steht – und der geneigte Leser kennt meine Haltung hierzu: Das war beeindruckend. Alice Weidel ist kein Mitglied der Liga der kostenlos Mutigen. Sie riskierte etwas und hatte Erfolg.
Auch Joschka riskierte eine Menge, als er beim Sonderparteitag 1999 in Bielefeld für den Kosovo-Krieg warb. Mit beschmutztem Jackett, er wurde vorher mit einem Farbeutel attackiert, kämpfte er für einen militärischen Einsatz, der bis dato in der Bundespepublik präzedenzlos war und bis heute präzedenzlos ist. Mehr als 20 Minuten rhetorisches Sado-Maso servierte Fischer seinen Parteifreunden, um für seine Sache, den Angriffskrieg, zu werben. Hätte er nichts riskiert, hätte er alles riskiert. Koalition, Befriedung im Kosovo, Glaubwürdigkeit vor den Bündnispartnern. Am Ende stimmten die Deligierten für den Einsatz und gegen liebgewonnene Dogmen.
Auch Fischer würde dankend die Mitgliedschaft im Verein der „kostenlos Mutigen“ ablehnen. Er riskierte alles und gewann. All in und der Sieg war Sein. Es hätte auch anders ausgehen können, ganz anders hätte es ausgehen können. Die Weißbrote mit „Black Lives Matter“-Shirts riskieren dagegen gar nichts. Sie sind Teil der faden Mainstreamsuppe, die nach nichts schmeckt, weil sie nichts bedeutet. Slogans wie diese zementieren ihre Bedeutungslosigkeit, wenn unmaßgebliche Menschen sie pervertieren.
Verstand ist keine Kategorie
Wissen Sie was? Manchmal mag ich doch Überraschungen. Ja. Die Spieler des Londoner Fußballclubs Queens Park Rangers verweigerten den obligatorischen Kniefall, um ihre Solidarität zu bekunden, was die Kritik an Polizeigewalt angeht. Lee Hoos, der Vorsitzende des Vereins, bringt es auf den Punkt: „Wer glaubt, unsere Spieler dulden Rassismus, versteht es nicht. Wer auf ,Black Lives Matter‘ mit ,Alle Leben sind wichtig‘ antwortet, versteht es nicht. Wer glaubt, Hinknien reicht, um soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen, versteht es nicht.“
Lee Hoos wird nicht der Ehrenpräsident des Vereins der „kostenlos Mutigen“. Denn Oma Erna wusste schon: „Was nichts kostet, ist auch nichts wert.“ Aber für ein paar Mark kann man sich einen Black-Lives-Matter-Pullover kaufen. Warum auch nicht? Die Mitgliedschaft ist umsonst, jedoch kostet der Eintritt den Verstand.
Verstand ist für die Ewigguten keine Kategorie. Sie suhlen sich in der Gewissheit, etwas richtig Gutes getan zu haben. Indem sie ein Shirt tragen. Mit der Aufschrift „Black Lives Matter“. Sie können, oder wollen nicht verstehen, dass sie nichts riskieren. Anders als Joschka Fischer 1999, Alice Weidel 2017 und Lee Hoos vor wenigen Tagen.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Julian Marius Plutz' Blog Neomarius.