Der Erste, der sich nach dem Erscheinen meines Buches „Der ewige Antisemit" im Jahre 1986 zu Wort meldete, war der Intendant des Frankfurter Schauspiels, Günther Rühle. Er erwirkte eine einstweilige Verfügung, mit der dem S. Fischer Verlag und mir untersagt wurde, die Behauptung zu verbreiten, Rühle habe im Zusammenhang mit der Aufführung des Stückes „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder gesagt, die „Schonzeit“ für Juden sei „vorbei“.
Ich hatte mir diesen Satz weder ausgedacht noch Rühle unterschoben. So stand er u.a. in der New York Times und der taz, und als Urheber wurde jedes Mal Rühle genannt, ohne dass er sich dagegen verwahrte. Es kam zu einer Verhandlung vor einer Kammer des Frankfurter Landgerichts, die weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Richterzimmer stattfand. Sie endete mit einem „Vergleich“ zwischen Rühle auf der einen und dem Verlag und mir auf der anderen Seite. Rühle räumte ein, er habe gesagt, der „Schonbezirk“ für Juden sei „vorbei“, der Verlag und ich erklärten, wir würden die Behauptung, er habe gesagt, die „Schonzeit“ für Juden sei „vorbei“, nicht weiter verbreiten. Die entsprechenden Stellen wurden geschwärzt, das Buch durfte wieder verkauft und gekauft werden.
So wird auf ewig ungeklärt bleiben, ob Rühle „Schonzeit“ oder „Schonbezirk“ gesagt oder ob er vielleicht „Schonzeit“ gesagt, aber „Schonbezirk“ gemeint hat. Das eine würde bedeuten, dass man Juden wieder jagen darf, das andere, dass es nur außerhalb eines bestimmten Gebietes erlaubt ist, also zum Beispiel im Westend nicht, nebenan in Bockenheim aber schon.
Aus dem Abstand von 32 Jahren betrachtet, mutet das, was ich in diesem Buch beschreibe, den fortschrittlichen Antisemitismus der aufgeklärten, linksliberalen Kreise, geradezu idyllisch an.
So neu wie die Plissee-Röcke dieses Sommers
Die Frage, die damals diskutiert wurde, lautete: Gibt es einen linken Antisemitismus, kann es ihn überhaupt geben? „Linke können keine Antisemiten sein!“ postulierte Gerhard Zwerenz als elftes Gebot; Alice Schwarzer und andere maßgebliche Kultur-Linke waren derselben Meinung. Antisemitismus galt als eine Domäne der Rechten, mehr noch: Auschwitz, Endlösung, Holocaust. Inzwischen kann man sogar in der taz lesen, dass es einen linken Antisemitismus gibt, ganz abstrakt, der sich als „Israelkritik“ ausgibt. Allerdings vermag niemand zu sagen, wo die „legitime Israelkritik“ aufhört und der Antisemitismus anfängt. Die Grenzen sind fließend wie bei Mord, Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge, wobei es dem Opfer egal sein kann, ob es vorsätzlich, fahrlässig oder zufällig vom Leben zum Tode befördert wurde. Um ihn vom finalen Antisemitismus der Nazis abzugrenzen, sprechen Wissenschaftler gerne von einem „neuen Antisemitismus“, der freilich so neu ist wie die Plissee-Röcke, die in diesem Sommer wieder modern sind.
Man nennt ihn auch „sekundären Antisemitismus“ oder „Schuldabwehrantisemitismus“, wobei diese Begriffe vor allem der Verschleierung der Tatsache dienen, dass es den Antisemiten Spaß macht, Juden zu hassen und dass sie es unter verschiedenen Vorwänden tun. Mal geht es gegen Juden, die sich als Deutsche, Franzosen, Polen, Russen, Ukrainer verkleidet haben, mal gegen Juden, die als separate Nation in einem eigenen Staat leben wollen. Der Jude kann es dem Antisemiten nie recht machen, denn es geht dem Antisemiten nicht darum, wie der Jude ist – links oder rechts, arm oder reich, klug oder dumm –, es geht darum, dass der Jude da ist. Das zu begreifen, fällt auch Juden schwer, weswegen sie immer den „Dialog“ mit den Antisemiten und diese davon zu überzeugen versuchen, dass Juden „ganz normale Menschen“ sind – von den vielen Nobelpreisträgern, die sich um den Fortschritt verdient gemacht haben, einmal abgesehen.
Für kaum ein anderes kulturelles Phänomen trifft die Bezeichnung „rasender Stillstand“ so sehr zu wie für die „Wer-ist-ein-Antisemit-und-woran-erkennt-man-ihn?“-Debatte. In dieser Beziehung hat der Antisemitismus einiges mit Alkoholismus gemein. Nur wenige Alkoholiker geben zu, dass sie ein Problem mit dem Alkohol haben. Und mir ist noch kein Gegenwarts-Antisemit begegnet, der sich als solcher geoutet hätte. Der Wiener Bürgermeister Karl Lueger war ein ehrlicher, bekennender Antisemit, ebenso der Journalist Wilhelm Marr, der den Begriff Antisemitismus geprägt und die „Antisemitenliga“ gegründet hat; der Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stöcker gehörte derselben Spezies an. Aber schon bei Karl Marx, dessen 200. Geburtstag vor kurzem pompös gefeiert wurde, gehen die Ansichten auseinander, weil er selbst Jude war. Ja, Marx hat verächtlich über Juden geschrieben, aber war er deswegen gleich ein Judenhasser? Als ob man seine Schrift „Zur Judenfrage“ missverstehen könnte, als ob Sätze wie „Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum“ nicht die Anleitung zur Ausgrenzung und in letzter Konsequenz zur Ausrottung enthalten würden.
Heute will niemand ein Antisemit sein, nicht einmal Roger Waters, der bei seinen Konzerten ein heliumgefülltes Riesenschwein mit einem aufgemalten Davidstern über der Bühne schweben lässt. Mit Antisemitismus habe das nichts zu tun, sagt der Pink-Floyd-Gründer, es sei Kritik an der „rassistischen“ Politik Israels. Die Aussage würde ein wenig glaubwürdiger klingen, wenn ihm etwas Vergleichbares zu der rassistischen Politik eines anderen Staates eingefallen wäre, zum Beispiel der Chinesen gegenüber den Tibetern oder Uiguren. Dem „sekundären“ Antisemitismus folgt ein tertiärer auf dem Fuße, es ist ein Antisemitismus ohne Antisemiten.
Es hat über 20 Jahre gedauert, bis sich die Erkenntnis etabliert hat, dass es doch so etwas wie einen linken Antisemitismus gibt, dessen Objekt Israel und dessen Ziel die Vernichtung des Judenstaates ist, der nicht nur für die Leiden der Palästinenser, sondern für alle Übel dieser Welt verantwortlich ist, einschließlich der Brutalitäten, die weiße Polizisten an schwarzen US-Amerikanern begehen. Das ist kein Witz, das ist eine Behauptung der „Black-Lives-Matter“-Bewegung, die sich auch in Deutschland verbreitet.
„Einzelfälle“, die keinen „Generalverdacht“ rechtfertigen
Es wird vielleicht nicht ganz so lange dauern, bis sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass es doch so etwas wie einen muslimischen Antisemitismus gibt, der mit den Flüchtlingen, Geflüchteten und Schutzsuchenden ins Land geströmt ist. Diese offensichtliche Tatsache wurde eine Weile als „fremdenfeindlich“ denunziert und bestritten, inzwischen wird sie widerstrebend anerkannt, wenn auch nicht als Ergebnis der Erziehung in einigen der Herkunftsländer, sondern als eine Abfolge von „Einzelfällen“, die keinen „Generalverdacht“ rechtfertigen. So wie die Linke sich selbst idealisiert hat, so idealisiert sie jetzt die Flüchtlinge. Der deutsche Vormund braucht immer wieder ein Mündel, dessen er sich annehmen kann. Dabei geht ausgerechnet das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Berliner TU meinungsbildend voran. Eine langjährige Mitarbeiterin des Zentrums hat in einem TV-Interview festgestellt, es gebe „keinen muslimischen Antisemitismus“, sondern nur „einen Antisemitismus unter Muslimen“, „Einzelfälle“ infolge der „medialen Aufmerksamkeit“.
Daraus ergibt sich: Es gibt es auch keinen christlichen Antisemitismus, sondern einen Antisemitismus unter Christen; keinen nationalsozialistischen Antisemitismus, sondern einen Antisemitismus unter Nazis. Keinen kommunistischen Antisemitismus, sondern einen Antisemitismus unter Kommunisten. Wörtlich genommen bedeutet Antisemitismus unter Muslimen, dass es sich um eine innermuslimische Problematik handelt, dass Muslime sowohl die Träger wie die Objekte des Antisemitismus sind. Das ist Wissenschaft auf höchstem Abstraktionsniveau.
Ein anderer Wissenschaftler beim Zentrum für Antisemitismusforschung treibt den Erkenntnisprozess noch weiter voran, indem er behauptet, so die FAZ, es gebe „keine belastbaren Zahlen für Unterschiede im Ausmaß antisemitischer Einstellungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen sowie Flüchtlingen, Migranten und Deutschen“. Bis jetzt sei man, so der Forscher, „über anekdotische Beispiele von Antisemitismus“ nicht hinausgekommen.
Theodor W. Adorno hat einmal gesagt, der Antisemitismus sei ein „Gerücht über die Juden“. Nun wird aus dem „Gerücht“ eine Sammlung von Anekdoten ohne jeden empirischen Beweiswert. Da wird ein jüdisches Kind an einer Schule gemobbt, ohne dass es die Lehrer mitbekommen, dort ein Israeli verprügelt, weil er mit einer Kippa auf dem Kopf durch Friedrichshain spazierte. Die Anekdoten häufen sich, aber: Nur wo Antisemitismus darauf steht, kann auch Antisemitismus drin sein. Es wird eine der Aufgaben des neuen „Antisemitismusbeauftragten“ der Bundesregierung und seiner elf Mitarbeiter sein, auf diesem Gebiet für Klarheit zu sorgen und Etikettenschwindel zu unterbinden. Optimal wäre es, wenn der „Antisemitismusbeauftragte“ eine Art „Gütesiegel“ verleihen würde, mit einem, zwei oder drei gelben Sternen. Von „antisemitismusverdächtig“, über „leicht antisemitisch“ bis zu „eindeutig antisemitisch“. Er hat damit bereits angefangen, indem er gleich zu Beginn seiner Tätigkeit kundtat, der Antisemitismus sei „unislamisch“.
Die grandiose Sicht hat auch meinen inneren Blick erweitert
Der Antisemitismus-Beauftragte ist ein freundlicher und integrer Ministerialbeamter, der sich freilich erst mit dem Gegenstand seiner Tätigkeit vertraut machen muss. Helfen soll ihm dabei ein eingetragener Verein, ein „flächendeckendes Netzwerk“ zur „Sicherstellung einer bundeseinheitlichen, zivilgesellschaftlichen Erfassung antisemitischer Vorfälle“. Wie bei den Weight Watchers und den Anonymen Alkoholikern wird es „Meldestellen“ geben, die allerdings nicht Antisemiten zur Behandlung annehmen, sondern „antisemitische Vorfälle“ an die Zentrale „melden“ werden. Was danach passieren soll, ist noch unklar. Wird eine „Task Force“ ausrücken und sich die Antisemiten vorknöpfen? Es geht wohl eher um eine statistische Erfassung der „Vorfälle“, denn Statistiken sind das Rückgrat der Bürokratie.
Es ist noch nicht lange her, da hat man es geschafft, mit gnadenloser Genauigkeit festzulegen, wer ein Volljude, Halbjude oder Vierteljude war. Heute ist man schon froh, wenn man sich auf eine Antisemitismus-Definition verständigen kann, die so allgemeinkonkret ist wie der Satz, dass die Armut von der Poverte kommt. Der Antisemitismus, sagen die Konflikt- und Vorurteilsforscher, sei eine Form der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. Das ist nicht einmal falsch, aber was unterscheidet ihn dann von der Abneigung gegenüber Analphabeten, Schwulen, Veganern, Karnivoren, Rauchern, Radfahrern, Rentnern, Rockern und Alkoholikern? Sind das nicht auch Variationen „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“? Und im Übrigen: Was spricht dagegen, bestimmte Gruppen von Menschen nicht zu mögen?
Ich zum Beispiel kann Männer nicht ausstehen, die Baseballmützen verkehrt herum tragen. Aber ich würde sie deswegen weder einsperren noch ausbürgern.
Der Antisemitismus gehört zum Weltkulturerbe. Sein Epizentrum liegt in Europa. Er ist das, was Juden und Judenhasser verbindet. Ein tiefes und nachhaltiges Gefühl. Anzunehmen oder auch nur zu hoffen, man könnte ihn aus der Welt schaffen, ist Ausdruck eines modernen Aberglaubens, der auch dem Klima vorschreiben möchte, wie es sich entwickeln soll.
Als ich 1986 den Ewigen Antisemiten schrieb, lebte ich in Jerusalem und schaute aus meinem Arbeitszimmer über die judäische Wüste bis zum Toten Meer. Die grandiose Sicht hat auch meinen inneren Blick erweitert. Wenn ich heute lese oder höre, wir müssten „den Anfängen wehren“ finde ich das nur noch komisch. Noch lustiger ist nur die Feststellung, der Antisemitismus sei inzwischen „in der Mitte der Gesellschaft“ angekommen – als ob er jemals irgendwo anders logiert hätte.
Dieses Buch ist eine Momentaufnahme aus den 1980er Jahren. Es wurde mir damals vorgeworfen, ich würde hemmungslos übertreiben und überall Gespenster sehen. Rückblickend kann ich nur sagen: Ich habe untertrieben. Geschichte funktioniert wie ein Theaterstück. Das Ensemble ändert sich, aber die Vorstellung geht weiter.
Henryk Broders Buch "Der ewige Antisemit" von 1986 gilt als Klassiker des Themas, hat nichts von seiner Aktualität verloren und ist soeben als E-Book im Piper-Verlag neu erschienen. Dieser Beitrag ist das von Henryk Broder dazu verfasste neue Vorwort.