Henryk M. Broder / 09.03.2020 / 14:00 / 29 / Seite ausdrucken

Das Rowohlt-Gericht tagt

Das gute alte Rechtsprinzip, dass jeder als unschuldig gilt, bis er rechtskräftig verurteilt wurde, ist längst aufgehoben. Zugunsten einer Art von Volksjustiz, deren Vertreter es gar nicht abwarten können, den oder die Beschuldigten hängen zu sehen. Sie erheben die Anklage, sitzen zu Gericht, sprechen das Urteil und vollstrecken es. So geht Effektivität.

Fünfzehn Autorinnen und Autoren des Rowohlt-Verlages, darunter solche Supertalente wie Nis-Momme Stockmann („schreibt, fotografiert, malt und filmt") und Margarete Stokowski, die Mut und Haltung bewies, als sie 2018 eine bereits ausverkaufte Lesung in einer Münchner Buchhandlung absagte, weil diese auch Primärtexte rechter Autoren führte, sind enttäuscht über die Entscheidung des Rowohlt-Verlags, die Autobiographie von Woody Allen zu veröffentlichen und fordern, dass die Veröffentlichung unterbleibt. Das Vorgehen des Verlages sei unethisch und zeige einen Mangel an Interesse für die Belange der Opfer sexueller Übergriffe. 

Dabei geht es nicht einmal darum, ob Allen seine Adoptivtochter Dylan sexuell mißbraucht hat, das Ganze könnte auch die Begleitmusik zu einem längst erledigten Sorgerechtsstreit zwischen Allen und seiner Ex-Frau Mia Farrow sein, es geht darum, dass Allen sich nie überzeugend mit den Vorwürfen seiner Tochter auseinandergesetzt hat und öffentliche Auseinandersetzungen über sexuelle Gewalt als Hexenjagd heruntergespielt hat. 

Das entscheidende Wort in diesem Kontext ist überzeugend, und was überzeugend ist, das entscheidet eine Jury aus 15 Laienscharfrichtern, die gerne und mit großem Engagement für Rowohlt schreiben, was sie offenbar auch dazu befähigt, Urteile zu fällen, denen keine Verhandlung vorausgegangen ist.

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Leserpost

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Thomas Taterka / 09.03.2020

Die alberne Anmaßung mancher Hausautor*innen kann man vielleicht ermessen, wenn man sich erinnert, daß es zur Publikationsgeschichte dieses Verlagshauses gehört, einstmals ERNST VON SALOMON verlegt zu haben UND Tucholsky, ( und, und, und ) - ohne Scheu vor öffentlichen Debatten. Verlagshäuser in Deutschland waren einmal groß durch ihre kontroverse Risikobereitschaft. Sie haben die öffentliche Meinung herausgefordert. Das war ihre Erfolgsgeschichte, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. - Vielleicht hat sich das auch in einer anderen kulturgeschichtlichen “Galaxie” abgespielt . Wer weiß das schon ?

Karl Mistelberger / 09.03.2020

In Franken, wie auch in ganz Bayern, nennt man solche Leute Krampfbeutl und Krampfhenna,  gräuslige.

Robert Korn / 09.03.2020

Es gilt: Wer sich verteidigt, klagt sich an; wer schweigt, gesteht.

Mathias Rudek / 09.03.2020

Danke Herr Broder für ihren Hinweis. Natürlich hat mich auch der DLF Kultur auf diesen Vorfall aufmerksam gemacht. Erstaunlich, was die nachgewachsenen, selbst-inthronisierten Jokobiner des deutschen Feuilletons so umtreibt. Es wäre schon sinnvoll, wenn diese nichtssagenden Schwätzer mal selbst darauf kommen würden, ob sie tatsächlich gesellschaftliche Antithese ( die, sie doch gerne wären) sind oder leicht zu durchschauender, daherplappernder Mainstream. Diese moralistische Spießer-Kolonne ist einfach nicht zu ertragen, Vorverurteilungen, Anschuldigungen, Meinungen, die sich einem diffusen Gefühl anschließen und das immer in Lettern gedruckt, in den Medien ausgeplaudert und veröffentlicht. Ich glaube, daß diese Jakobiner noch nie zur Kenntnis genommen haben, daß das kaum einen Bürger in diesem Lande interessiert. Ich hoffe, daß der Rowohlt-Verlag hier standhaft bleibt. Ein kürzlich erschienener Artikel von Gerd Held auf der Achse sollte hier noch einmal erwähnt werden: “Eine der Errungenschaften der Neuzeit ist die Beseitigung des mittelalterlichen Wildwuchses von Verurteilen und Bestrafen.” Das sogenannte “Verfemen” ist wieder für eine Klasse interessant, die sich intellektuell maßlos überschätzt und sich moralisch zu weit aus dem Fenster hängt. Zu Woody Allen kann ich nur sagen: Was stört’s die Eiche, wenn die Sau sich daran scheuert!

Nico Schmidt / 09.03.2020

Sehr geehrter Herr Broder, wenn ich Ihnen vor 10 jahren erzählt hätte, was heute in dem guten, alten Deutschland los ist, hätten Sie mich ausgelacht und gefragt, ob ich ich vielleicht Fieber hätte oder in der nacht Stimmen höre. Die guten Deutschen sind ständig besoffen, von dem vielen Gutsein. Das strengt an. MfG Nico Schmidt

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