Thomas Rietzschel / 19.03.2019 / 06:15 / Foto: PictorialEvidence / 58 / Seite ausdrucken

Brüssel: Wer aussteigt, ist vogelfrei

Es gehört derzeit nicht viel dazu, weder Mut noch Verstand, um über die Engländer herzuziehen. Jeder Possenreißer macht sich seinen Spaß daraus, sie hämisch, belehrend oder mit geheucheltem Bedauern der Lächerlichkeit preiszugeben. Sogar der Bildkolumnist Franz Josef Wagner schickte jetzt eine Träne auf Reisen, über den Kanal noch London, wo sie „den Minirock erfanden, das Röckchen kurz unter dem Po“. Auf seine Weise nahm der Klatschreporter Abschied vom „Land meiner Jugend“. Heute, schrieb er, „verstehe ich Euch Briten nicht mehr. Ihr seid nicht mehr die Briten von früher. Eure Debatten über den Brexit sind erbärmlich. Aussteigen, nicht aussteigen, verlängern“.

Kaum weniger verächtlich kommentierte die FAS vergangenen Sonntag die Debatten des Parlaments im Palace of Westminster. Unter dem Überschrift „Eine Sitcom namens House of Commons“ schrieb Thomas Gutschker, Mitglied der politischen Redaktion: „Jede Abstimmung ist unberechenbar, die Abgeordneten vollziehen einen Hammelsprung nach dem anderen. Der Plot ist derart wahnsinnig, dass noch keinem Fernsehproduzenten so etwas eingefallen ist.“ Für den Autor steht fest, dass sich das Parlament „im Zustand des Zerfalls“ befindet: „Mit aller Härte zeigt sich, was es bedeutet, den politischen Grundsatzstreit über das Verhältnis zum Kontinent in eine Volksabstimmung auszulagern.“

Mit anderen Worten: Die britische Regierung hat sich mit dem Plebiszit zum Brexit selbst in die Nesseln gesetzt. Soweit hätte es nie kommen dürfen. Hierzulande wäre das undenkbar. Davor bewahren uns die kontinentalen Rituale einer repräsentativen Demokratie, die kein Pardon kennt, nicht gegenüber dem Willen der Völker. Sie werden zuverlässig durchregiert, erstens aus den jeweiligen Hauptstädten und zweitens von Brüssel her.

Die Rache der Kanalarbeiter

Weil den Engländern das partout nicht einleuchten wollte, sollen sie jetzt in Sack und Asche gehen, sich ihres Eigensinns schämen. Die Rache des Kanalarbeiter; die politische und mehr noch die mentale Abrechnung des Festlands mit den Insulanern, mit einer Seemacht, die sich immer etwas abgehoben fühlte vom übrigen Europa. Auch dafür, für ihren weltpolitischen Vorrang über die Jahrhunderte hin, wird den Briten nun im Streit um den Brexit die Rechnung präsentiert. Endlich wollen die Neider auch einmal zum Zuge kommen, politische Vernunft hin oder her.

Während sich die einen spöttisch aufschwingen, spenden andere vergiftetes Bedauern. „Es tut schon weh, wenn man sieht, wie ein so erfolgreiches, großartiges Land wie Großbritannien sich alle Zukunftschancen nimmt“, tönt Markus Söder aus dem bayrischen Krähwinkel. Noch deutlicher wurde Elmar Brok. In einem Interview mit n-tv sprach der bemooste Karpfen im schlammigen EU-Teich von „den verqueren Regeln, die dort (im britischen Unterhaus) herrschen“: „Man kann doch nicht einfach aus einem Verein austreten und nicht wissen, was danach kommt.“ Selbst seit fast vierzig Jahren in Diensten des Europäischen Parlaments, findet der brave Mann „das noch immer unfassbar“.

Was der gläubige Europäer freilich verschwieg, ist die Tatsache, dass es sich bei der EU eben keineswegs um einen „Verein“ im üblichen Sinn des Wortes handelt. Denn wäre es so, dann könnten seine Mitglieder ihn ebenso freiwillig verlassen, wie sie ihm beigetreten sind. Die Gemeinschaft würde ihre Souveränität respektieren. Die Strukturen wären durchsichtig genug, den Auszug jederzeit zu erlauben. Es gäbe keine organisatorische Verstrickung, die das nahezu unmöglich machen oder zum Ruin der Abtrünnigen führen würde.

Nur wer einer Sekte beitritt, hat sich auf Gedeih und Verderben ausgeliefert, unter Umständen einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Bleiben die Vorteile, die das zunächst versprochen haben mag, aus, kann er nicht einfach den Hut nehmen und wieder seiner Wege gehen.

Wer geht, begeht Verrat

Da es erstens die Ideologie ist, die den Zusammenhalt stiftet, würde das Ausscheiden von den Verbleibenden als Verrat empfunden und geahndet. Jeder weiß oder könnte doch wissen, wie die Glaubensgemeinschaften vorzeiten mit denen umgingen, die sich abkehrten. Bis heute bedroht sie der Islam mit dem Tode. Auch die Kommunisten veranstalteten gern Schauprozesse, um jene abzuschrecken, die mit dem Gedanken eines Parteiaustritts spielten.

Und zweitens kommt hinzu, dass der Glaube an die Sache, welche auch immer, zu wirtschaftlichen Verflechtungen führt, die es schier unmöglich machen, den Einzelnen ohne Gefahr für das Ganze ziehen zu lassen. Womit wir wieder bei der EU wären. Sie hat ja den Briten nicht nur mutwillig Steine in den Weg gelegt und Hürden errichtet, die sie vom Austritt abhalten sollten. England ist, wie die Debatten in London und Brüssel zeigen, tatsächlich auf so vielfältige Weise in das undurchschaubare Konstrukt der Europäische Union eingebunden, dass niemand weiß, wie es sich schadlos für beide Seiten abtrennen lässt. Unauflösbar scheint der Gordische Knoten.

Selbst der geordnete Brexit würde eine Bresche schlagen, die den Turmbau zu Brüssel unterhöhlt, dann zumal, wenn andere Länder den Briten zu folgen wagten. Vor diesem „Desaster“ warnte Christian Lindner vor wenigen Tagen. Um es abzuwenden, wünschte er sich, auf der Insel wachse „die Einsicht, dass ein zweites Referendum sinnvoll wäre“, eines, in dem sich das Volk gegen den Brexit entscheiden möge.

Statt eines Endes mit Schrecken, gäbe es den Schrecken ohne Ende. Die EU bliebe, was sie nicht von Anfang war, aber im Laufe ihrer Bürokratisierung geworden ist: eine Sekte, die vom Machtwillen ihrer politischen Anführer zusammengehalten wird. Eine Zwangsgemeinschaft verführter Länder, immer bedroht vom unverhofft erwachenden Verlangen ihrer Mitgliedsstaaten nach der einstigen Souveränität. Und nichts wird sich daran ändern, solange der Gemeinschaft ihr ideologischer Überbau wichtiger ist als das wirtschaftlich vernünftige Zusammenwirken freier Nationen und Staaten. Allein hin und her geschobene Subventionen stiften auf Dauer keine ertragreiche Gemeinschaft. Als Hirngespinst hat sich der Wunschtraum von der globalen Wirtschaftsmacht erwiesen – in Brüssel, nicht in London.

Wie die Partie ausgeht, wird sich zeigen. Warten wir es ab. Am besten lacht noch immer, wer am Ende lacht. Da mag Franz Josef Wagner die „erbärmlichen“ Briten verspotten, wie er will.

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K.Anton / 19.03.2019

Ein Austritt aus der EU (nicht aus Europa..) ist eigentlich nur ungeordnet durchführbar. Ein Verhandeln über dem Austritt in Augenhöhe ist nicht möglich, da Brüssels Position durch Dogmen (zB die sinnentleerten 4 sg Grundfreiheiten…) charakterisiert ist. Nur dadurch kann ein Land dem totalen Machtanspruch Brüssels entkommen und seine Souverenität wiedererlangen. Erst von diesem “Nullpunkt” ist eine Neuverhandlung des Verhältnisses mit der EU möglich. Und selbst dann darf man dem Kraken Brüssel nicht zu nahe kommen und sorgfälltig darauf achten, dass die neue Relation sich ausschliesslich auf die wirtschaftliche Ebene beschränkt.

Thomas Holzer, Österreich / 19.03.2019

Daß alleine über 30.000 Regeln, Verordnungen, Richtlinien, Gesetze das Verhältnis zwischen EU und GB und in der EU untereinander “regeln”, zeigt den Wahnsinn dieses Konstruktes, kommen doch tagtäglich neue Schwachsinnigkeiten hinzu (siehe “Wasserrichtlinie). Ja es stimmt, die EU ist zu einem Glaubensverein verkommen, welche alle, die nicht an sie glauben, am liebsten in der Hölle schmoren lassen würde. Die Vernunft in diesem Verein wurde schon längst vertrieben.

Bernhard Freiling / 19.03.2019

Der Austritt der Briten wurde von denen parlamentarisch längst fixiert. Und zwar schon vor rd. zweieinhalb Jahren. Zum Exitdatum wurde der 29.3.2019 bestimmt. Natürlich kann das einer wie Elmar nicht nachvollziehen. Gehört der doch seit rd. 40 Jahren, gut bezahlt, einer Institution an, die die Bezeichnung “Parlament” nur honoris causa trägt.  Weil dieses “Parlament” keinerlei Entscheidungsbefugnis besitzt - im Gegensatz zum britischen.  Wenn ich das richtig verstanden habe, wird der sogenannte “hard-brexit” allenfalls für die EU “hart”, für die Briten wohl eher nicht. Zumindest, soweit es den Handel betrifft. Ab Null Uhr am 30.3. gelten dann zwischen der EU und dem UK, da keine Regelung herbeigeführt werden konnte,  die allgemeinen Regeln der WTO. Da die Briten bereits ankündigten, ab diesem Datum auf rd. 85% aller Zölle zu verzichten, wird das die EU ganz schön hart treffen. Denn die WTO besagt, daß der Handelspartner dann auch auf eben die gleichen Zölle zu verzichten hat. Und da der Verzicht der Briten ja keine Vereinbarung mit der EU ist, sondern für alle Partnerländer zutrifft, mit denen kein Handelsabkommen besteht, wird da ein zweischneidiges Schwert für die EU draus. Treibt sie weiterhin Handel mit dem UK, gilt ihr Verzicht auf Einfuhrzölle auch allen anderen Ländern gegenüber, mit denen kein Handelsvertrag besteht. Soll ich jetzt mal weiterspinnen, was mit den Ländern geschieht, mit denen Handelsvereinbarungen bestehen, die hinsichtlich der gegenseitigen Zölle die Handelspartner aber schlechter stellen, als wenn der Handel gemäß WTO durchgeführt würde? Ob Donald die amerikanischen Autobosse schon mal zur großen Party geladen hat? Ob die EU-Finanzminister schon zur Trauerfeier geladen haben? Der Gedanke gefällt mir ausgesprochen gut.  In nicht ganz 2 Wochen, vielleicht werde ich ja durch das Heulen und Zähneklappern der EUler geweckt,  werd ich’s wissen. ;-)

Ulrich von Küster / 19.03.2019

Es ist einfach wunderbar, dass es die Achse gibt. Diese beruhigend vernünftigen Gedanken anders als bei dem unglaublich einseitigen Mainstream, der nur Entsetzen und Verachtung für die Briten kennt. Dabei müsste es sich doch eigentlich allen aufdrängen, dass hier nicht die Briten sondern die EU das Problem ist. Schon dieser peinliche Jelzin-hafte Juncker als Regierungschef, in einer echten Demokratie mit wirklicher parlamentarischer Kontrolle eigentlich undenkbar. Man stelle sich einmal Trump als einen solchen Trunkenbold vor. Dann diese ständige Vorschriftenproduktion aus Brüssel, nahezu ohne Beteiligung der Öffentlichkeit und ohne nachvollziehbare kritische Debatten, die unser Leben angeblich immer mehr verbessern sollen, die uns in Wahrheit aber immer mehr einengen und uns irgendwann, so fürchte ich, in bürokratischer Überregulierung ohne Freiheit ersticken lassen. Wie besonders schmerzhaft muss das erst für die Briten sein, die mit dem Common Law eine ganz andere Rechtstradition als wir vorschriftsgläubigen Deutschen haben. Die EU ist ein Sanierungsfall geworden. Ich kann die Briten gut verstehen, dass sie da nicht mehr mitmachen wollen.

Stephan Jankowiak / 19.03.2019

Treffender Vergleich mit Austritt aus Allmacht beanspruchenden, demokratiefeindlichen Organisationen.  Allerdings bin auch ich heftigst gegen den Brexit: Britons, don’t let me stand alone with this idiots. Als Untertan Ihrer Majestät hätte ich wohl auch dafür gestimmt.

Uwe Schäfer / 19.03.2019

Mir fehlt bei dem ganzen Gezeter und Gesülze unserer Qualitätsmedien und so großartiger Persönlichkeiten wie Herrn Brock ein entscheidender, kleiner Punkt. Warum die Mehrheit der Briten für den Austritt gestimmt hat. Wegen der Politik Deutschlands und seiner gottgleichen Regierungschefin!!! Diese Einsicht muss man natürlich dem dummen Volk und sich selbst vorenthalten.

HsJo Wolf / 19.03.2019

Ich wünschte, es käme endlich das Ende dieser EU oder einen „Dexit“

Joachim König / 19.03.2019

War schon immer meine Ansicht, dass mit diesem elendigen Gezerre, anderen Ländern, die ggf. mit dem Gedanken spielen die EU zu verlassen, ein abschleckendes Beispiel gegeben werden soll, was dann auf sie zukommt. Was ist so schwierig? Gab es kein Leben vor der EU? Und man muss sich mal vorstellen, das GB nicht einmal Teil der Währungsunion war/ist. Die Abstimmung pro/contra war eine knappe Kiste, mag sein. Aber Mehrheit ist nunmal Mehrheit. Soll nun jedesmal so lange abgestimmt werden, bis das „richtige“ Ergebnis herauskommt?

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