Noch ist das Land zu retten. Es gibt ein Sprichwort: Wenn die Zeiten schlecht sind, werden die Tapferen munter. Zweiter Teil meiner Notizen einer Deutschlandreise 2023. Diesen Text habe ich aktualisieren müssen, weil mir der Krieg dazwischenkam. Mit etwas Glück sitze ich im Flugzeug nach Israel, wenn Sie diese Zeilen lesen.
Ankunft in Köln bei düsterem Himmel. Sogar Regen ist angekündigt. Der Temperatur-Schock, auf den ich seit dem ersten Tag warte. Ich hole mir einen dicken Hoody aus dem Koffer und zwänge mich hinein. Andere trifft er weitaus härter. Etwa die Bedauernswerten, von denen SpiegelOnline um Mittag berichtet: „Funkelnde Fassaden, geschäftige Passanten, der Reichstag um die Ecke: Im Zentrum Berlins finden Sozialarbeiter einen toten Obdachlosen. Er ist einer von vielen, die auf den Straßen der Hauptstadt sterben.“
Mir schien die Zahl der Bettler in Berlin zunächst nicht auffallend hoch. Am Hauptbahnhof wurde ich jedoch schnell mein Münzgeld los. Die Bettelnden allesamt „Bio-Deutsche“, kein Neuzugang darunter. In der S-Bahn auf dem Weg zum Bahnhof Südkreuz sprach mich ein Palästinenser an, nicht um zu betteln, sondern um mir, dem an der Kipa erkennbaren Quasi-Landsmann, sein Leid zu klagen: Man hätte ihn des „Rassismus“ bezichtigt und aus seiner Arbeitsstelle entlassen, weil er sich gegen die Einstellung eines Syrers aussprach, den er für einen „Terroristen“ hielt. Und er möge Terroristen nicht, deshalb sei er ja hier, und nicht mehr „dort“. Schon gestern hatte mir eine arabische Familie auf offener Straße „Shalom“ zugerufen, der in ihrer Mitte wandelnde Patriarch fragte mich sogar in bestem Hebräisch: „Wie geht es dir, Nachbar?“, worauf ich ebenso artig erwiderte, es ginge mir „mezujan“, ausgezeichnet.
In Köln holt mich Herr S. am Bahnhof ab, ein Mitarbeiter von Professor Max Otte. Er fährt mich in ein Dorf in der Eifel, wohin die geplante Veranstaltung verlegt wurde, aus verschiedenen Gründen – ich frage nicht, doch gewiss spielt die Frage der „Sicherheit“ eine Rolle. Hier geht es um mein Islam-Buch, Professor Otte und der Sicherheitsexperte Oberst Ralph Thiele sitzen mit mir auf dem Podium in schönen alten Ledersesseln. Die Fragen aus dem Publikum – überwiegend Geschäftsleute – gehen ins Politische. Unter anderem referiert Thiele über die Bedeutung des israelischen Raketenabwehrsystems Arrow Three, das dieser Tage von der Bundesregierung gekauft wurde, „denn wir haben ein großes Loch in unserer Luftverteidigung“. Er nennt Arrow 3 einen „Glücksfall für die Bundeswehr und Deutschland“. Das anschließende Buffet ist betont frugal, es gibt Kürbis- und Kartoffelsuppe, die Gemüse baut Otte selbst in der Eifel an.
Mit meinem Schweizer Cousin E., der mit seiner afrikanischen Frau in Brüssel wohnt, fahre ich nachts über die nahe gelegene Grenze nach Belgien. Cousine R. wollte nicht länger in Bad Godesberg leben, wo sie als Christin von muslimischen jungen Männern bedrängt und zur Rede gestellt wurde, weil sie nach deren Ansicht an Sommertagen zu leicht bekleidet auf der Straße zu sehen war – „the boys supposed that I was Muslim and not behaving modestly“. Stattdessen wohnen sie nun in einem Villenvorort von Brüssel neben einer Synagoge. Wo ich am nächsten Morgen, Shabat, zugleich erster Tag des Sukot-Festes, in Gesellschaft eines schwarz gekleideten jungen Rabbiners (mit vier oder fünf lebhaft-lautstarken Kindern) und seiner kleinen Gemeinde aus wohlhabenden örtlichen Geschäftsleuten die Torah-Lesung hören kann. Da mein Französisch jammervoll ist, verständigen wir uns hebräisch, wovon religiöse Juden weltweit genug verstehen, um einen reisenden Israeli ins Gespräch zu ziehen. Auch hier in Belgien ist die Synagoge während des Gottesdienstes von Polizei bewacht. Den Beamten genügt mein israelischer Pass, um mich durch das von Kameras kontrollierte Eisentor einzulassen.
Grüße mit einem freundlichen Bonjour
Belgien ist mir als flach und grün in Erinnerung – landschaftlich. Sonst ein vitales, vielschichtiges Land. Ab und zu auch hier ein Windrad, aber nicht in der fanatischen Dichte wie jenseits der Grenze. Auf dem Nachmittagsspaziergang gestern – nach einerm opulenten, komplett kosheren Dinner, das meine kongolesische Cousine für uns zubereitete – grüßten uns vorüberkommende Jogger und Radfahrer mit einem freundlichen Bonjour. Ich höre es heute Morgen noch einige Male, als ich in Bruxelles Gare du midi den Zug nach Köln besteige – meine bedauernswerten Verwandten haben es sich trotz der frühen Stunde nicht nehmen lassen, mich zum Bahnhof zu fahren. Auch in diesem Zug war das Internet ungewiss und rudimentär. Und der deutsche ICE nach Basel hatte schon bei Abfahrt eine halbe Stunde Verspätung – fast geniert man sich, es dauernd zu wiederholen. Früher fuhr dieser Zug bis Interlaken, doch die Schweizer Behörden, der dauernden Verspätung der deutschen Bahnen leid, lassen diese neuerdings nur noch bis zum Grenzbahnhof Basel fahren.
In Freiburg mit Veranstalterin Simone Schermann und ihrem polnischen Ehemann nach einer Tasse Tee in ihrem Haus zum Veranstaltungsort. Auch hier möglichst unauffälliges Arrangement: im Souterrain gelegener Saal eines italienischen Restaurants. Veranstalter ist der DIA, der Deutsch-Israelische Arbeitskreis Oberrhein, und es sagt viel über Deutschland in diesen Tagen, dass er sich an einen halb verborgenen Ort zurückziehen muss. Denn ich lese ein Stück aus meinem Islam-Buch. Die „geschlossene Gesellschaft“ erweist sich dafür als ausgesprochen diskussionsfreudig. Der Raum ist voll, die Stimmung großartig, auch später noch, als die meisten von uns oben im Restaurant essen.
Ich werde angesprochen und um Rat gebeten. Eine Frau erzählt mir, ihre Tochter sei in Tel Aviv zum orthodoxen Judentum konvertiert und hätte nun Schwierigkeiten, einen Mann zu finden, der sowohl religiös ist als auch tolerant, gebildet und imstande, mit einer westlich erzogenen, modernen Frau zusammenzuleben. Eine andere Mutter ist beunruhigt, weil ihre Tochter in Marburg einen Marokkaner geheiratet hat und plötzlich beginnt, Kopftuch zu tragen. Auf viele Deutsche, denke ich, kommen ernsthafte Probleme zu, auch privat. Mit ein paar Politiker-Floskeln, wie sie die gute Merkel unters Volk geworfen hat, ist das nicht getan. Hier täte Aufklärung not, Information, vollständige Offenheit. Doch genau das wird von Politik und Medien unterdrückt.
Es gibt sie also noch, die gut arbeitenden Deutschen
Sechs Stunden Bahnfahrt am nächsten Tag, von Freiburg nach Chemnitz, einmal quer durch Deutschland, von der französischen zur polnischen Grenze. Deutschland zwischen West und Ost, das Zentrum, das Herz Mitteleuropas. Ich war nie deutscher Nationalist, hochfliegende Ambitionen haben mich immer beunruhigt, schon das Gerede von der „Lokomotive Europas“ machte mich leicht nervös. Aber ob mir nun besonders am „deutschen Wesen“ liegt oder nicht, es ist einfach eine Frage des common sense, dass man diesem Land für die Zukunft das Beste wünscht, innere Ruhe, Sicherheit und wirtschaftliches Gedeihen. Wer hätte etwas von einem schwachen, kriselnden Deutschland inmitten eines instabilen Europas?
Ein seit Tagen bestehendes technisches Problem, der allmähliche Zusammenbruch meines chinesischen Adapters für den Laptop, spitzt sich auf dieser Fahrt zu: Das Billig-Gerät wirkt zwar noch als Stromkabel, aber es lädt die Batterie nicht mehr auf, und als diese den Nullpunkt erreicht, führt jede Stromschwankung im ICE zum Blackout. Ich sende eine verzweifelte WhatsApp-Nachricht an meinen Cousin in Chemnitz, von dem ich nicht genau weiß, ob er helfen kann, doch er ist Physiker, und ich hoffe, dass er von Computern mehr versteht als ich. Wir wollen uns nach vielen Jahren zum ersten Mal treffen, den Abend in seinem Haus verbringen, und nun habe ich gleich ein Anliegen an ihn.
Er bittet per Handy-Nachricht um Fotos von Laptop und Adapter, eine Stunde später teilt er mir mit, ein befreundeter Händler hätte genau das Teil, das ich suche. Und als wir Stunden später in Chemnitz zu jenem Händler fahren, stimmt auch wirklich alles, es ist der Original-Adapter zu meinem Laptop, abends ist die Batterie wieder aufgeladen und ich kann aufatmen. Es gibt sie also noch, die gut arbeitenden Deutschen, Leute, die etwas von ihrer Sache verstehen, die effizient sind, präzise und zuverlässig. Nur wirken sie – verglichen mit dem aufgeblasenen, offiziellen Deutschland der Medien und Politiker – eher dezent im Hintergrund, wenn nicht im Untergrund.
Fragen, ob es in Israel noch auszuhalten sei
Unterwegs Nachrichten aus der Heimat. Stolz melden Medien eine weitere Demo der hunderttausend Unermüdlichen gegen die gewählte Regierung. „Die Proteste dauern bereits seit 38 Wochen an“, verkündet Zeit online hoffnungsvoll. Da man mich auf dieser Reise immer wieder fragt, wie ich jetzt in Israel lebe und ob es dort noch auszuhalten sei, antworte ich hier summarisch, dass ich, wie neunzig Prozent aller Israelis, von den Protesten fast nichts mitbekomme. Dazu müsste ich nach Tel Aviv fahren. Und dort in bestimmte Stadtviertel. Und ich müsste wohlhabender, sorgloser und weniger beschäftigt sein, um 38 Wochen lang an Demos teilnehmen zu können.
Ich habe diese Regierung nicht gewählt, doch da sich eine Mehrheit für sie entschieden hat, ist sie für meine Begriffe legitim. Wie die Proteste. Viele alte Gräben werden jetzt aufgerissen. Zwischen ashkenasischen Juden, die traditionell im Obersten Gericht in der Mehrheit sind, und sephardischen, die sich zurückgesetzt fühlen. Zumal ein früherer Präsident des Obersten Gerichts, Aharon Barak (der durch in seiner Ägide durchgesetzte, übertriebene Privilegien des Gerichts einer der Hauptverursacher der Unruhen ist) seinerzeit erklärt hatte, „Marokkaner“ wären nicht geeignet als Richter im Obersten Gericht. Andere Spannungen bestehen zwischen religiösen und säkularen Juden. Zwischen rustikalen Westbank-Siedlern (die sich seit langem von Entscheidungen des Obersten Gerichts benachteiligt fühlen) und ihren mondänen Gegnern in den Hochhäusern des Küstenstreifens…
Auch Chemnitz ist eine Stadt, die sich benachteiligt fühlt. Schon weil ihr die verdiente Intercity-Strecke verweigert wird und man nur im Regionalexpress dorthin reisen kann, obwohl sie eine Technische Universität beherbergt, neue IT-Unternehmen, und kulturell aktiver ist als manche gepriesene Metropole. Mein Cousin holt mich am Bahnhof ab, nach dem Tee besuchen wir den Stolperstein unserer gemeinsamen Großmutter, dann essen wir, kurz vor meiner Lesung, einen Teller Borschtsch und geräucherten Stör bei den Kogans, aus Russland eingewanderten Juden, die den Jüdischen Kulturverein Shalom in Chemnitz gegründet und viel für die Kultur der Stadt getan haben. Dr. Ilya Kogan, ein Paläontologe, arbeitet in leitender Position im berühmten Naturkundemuseum der Stadt, seine Mutter Olga, Germanistin, unterrichtet Deutsch an der Volkshochschule.
Hier begann der offene Widerstand
Nach einer Nacht in Berlin fahre ich am 4. Oktober nach Leipzig. Die Stadt wirkt vital und selbstbewusst, die gute Laune ihrer Einwohner teilt sich atmosphärisch mit. Kein Wunder, denke ich beim Durcheilen der Fußgängerzone Nikolaistraße, hier begann der offene Widerstand, die Massenkundgebungen, das Ende des SED-Regimes. Gestern, am Tag der deutschen Einheit, wurde seltsamerweise kaum daran erinnert. Jedenfalls nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dessen Sendung zum Thema ich im Vorübergehen mitbekam. Dort trat Gregor Gysi auf, Liebling der Medienleute, aber eigentlich kein Mann des Widerstands. Und noch eine Kronzeugin: die frühere Kanzlerin. Sie war auch in diesem groß angekündigten „ersten Fernseh-Interview“ seit ihrer Pensionierung von jener – hinter falscher Bescheidenheit verborgenen – Selbstgerechtigkeit, die ihre Herrschaft gekennzeichnet hatte.
Die vielen, die sie ablehnten, waren in ihrer Darstellung „kleine radikale Gruppen“, im Großen und Ganzen galt ihr Begeisterung. Ein paar neue Töne hat sie dennoch in ihrer Litanei: Wichtig im Leben sei „Diversität“, in Deutschland strebe man zu schnell „Vereinheitlichung“ an, und zu viele würden neuerdings „ausgegrenzt“. Absurd, das ausgerechnet von ihr zu hören. Aber darüber Klage zu führen, scheint dieser Tage in der Luft zu liegen, und als erprobtes Medium der Massenstimmung schnappt sie schnell ein paar Schlagworte auf, um en vogue zu sein.
In der Lesung abends im alten Pfarrhaus der Thomaskirche, einem ehrwürdigen Gebäude, dessen bullige Gewölbe uns wärmend umgeben, begegne ich einem gebildeten Publikum mit vielen Theologen, einer israelischen Judaistik-Professorin, die in Leipzig lehrt, und mehreren jungen Deutschen mit Hebräisch-Kenntnissen. In der Diskussion lerne ich sogar einen Neu-Hebraismus, den ich noch nicht kannte: „Freier“, Bezeichnung für einen höflichen, aber zimperlichen Menschen, wie ich ihn etwa in meinem Roman Die Synagoge beschrieb: „In der ersten Zeit seines Hierseins hatte er höflich abwartend neben der Tür gestanden und anderen den Vortritt gelassen, so lange, bis der Bus ohne ihn abfuhr.“ Aber ich kannte das umgangssprachliche Wort nicht, wahrscheinlich ein so genannter „Jiddismus“, ein über das Jiddische, ursprünglich aus dem Deutschen kommender Begriff. Nachträglich ist es mir ein bisschen peinlich, dass ich ausgerechnet ein solches Wort nicht kenne. Rückfrage bei meinen Enkeln über WhatsApp ergibt, dass es ein im Alltags-Hebräisch der Jungen geläufiger Terminus ist.
Die Sorge vieler Intellektueller gilt der zunehmend eingeschränkten Meinungsfreiheit
Bin ich bereits, was wir Pensionäre allesamt fürchten zu sein: alt und weltfremd? Beim anschließenden Essen im feinen Restaurant Lutter und Wegner, Ableger des Berliner Stammhauses, in dem einst der champagnertrunkene E. Th. A. Hoffmann seine „Nachtstücke“ und „Elixiere des Teufels“ fantasierte, geht es um Politisches, um Zweifel an der Politik der Grünen, um den wirtschaftlichen „Abschwung“. Wir tafeln lange im holzgetäfelten Gewölbe, die Geschäftsführerin des Verlages, die Programmdirektorin, der Pressechef und ich. Die Evangelische Verlagsanstalt Leipzig ist weitaus flexibler und innovativer als der treudeutsche Name vermuten lässt: Sie wagte 2020 mein 700-Seiten-Buch Die Wüste. Literaturgeschichte einer Urlandschaft des Menschen zu veröffentlichen, das zuvor von zehn Verlagen abgelehnt worden war. Was die Evangelische Verlagsanstalt nicht gereut hat, denn das Buch „verkauft sich“ und findet zahlreiche Liebhaber – was die anderen für undenkbar gehalten hatten. Noch sei Deutschland ein reiches, gut funktionierendes Land, sage ich im Verlauf des Abends. Frau Dr. Weidhas, die Programmdirektorin, erwidert: „Aber jetzt entscheidet sich, ob es so bleibt.“ Die Sorge vieler Intellektueller gilt der zunehmend eingeschränkten Meinungsfreiheit und dem damit verbundenen Verfall des kreativen Potenzials.
Am nächsten Tag in München holen mich alte Freunde vom Bahnhof ab, diesmal katholische, Mechthild und Johannes. Sie gehörten lange zu einer inzwischen aufgelösten Gemeinde, die Papst Benedikt nahestand und ihn, als er noch Kardinal war und Präfekt der Glaubenskongregation in Rom, stark inspiriert hat, was sein positives Verhältnis zu Israel und den Juden betraf. Unter Kardinal Ratzingers Federführung wurden die entscheidenden judenfeindlichen Äußerungen aus dem Katechismus der katholischen Kirche entfernt. Deshalb ist Ratzinger in Israel beliebter als in Deutschland, wo ihn linke Medien als „rechts“ und „reaktionär“ abgestempelt haben – werden sie ihrer dummen Etikettierungen und Verleumdungen niemals überdrüssig? Denn so ist es oft bei ungezogenen Kindern: sie bekommen ihren Unfug irgendwann satt.
Wir besuchen die Apotheke, die Johannes gegründet und jetzt seiner Tochter übergeben hat, ein Haus mit vier Stockwerken voller Labors und Büros. Auch diese Stadt wirkt stark und solide. Ihre Bewohner aktiv und beschäftigt. Flottillen teurer, glänzender, oft schwarzer Limousinen und SUVs gleiten durch die Straßen. Ist das Schwarz symbolisch gemeint? Manchmal scheint mir die Stimmung schlechter, als es das Land verdient. Noch rollen die Milliarden. Die Frage ist, wohin.
Noch ist das Land zu retten, antworte ich
Abends in der Diskussion nach der Lesung springt wieder Politisches auf, Sorge um die Zukunft, Zweifel an den Ideologie-bestimmten Aktionen, Vorschriften und zunehmenden Verboten der jetzigen Regierung. Veranstalterin Mechthild hat derlei vorausgeahnt und einen zweiten Teil nach der Pause eingeplant, in dem solche Fragen gestellt und beantwortet werden können. Auffallend ist, dass die Exemplare meines Islam-Buches sofort ausverkauft sind, dieses Thema scheint viele Deutsche zu beschäftigen. Wie mein Eindruck sei, fragt ein junger Mann, nachdem er zuvor seine eigenen Sorgen und Befürchtungen vorgestellt hat. Er kenne meine kritischen Kommentare von Achgut und möchte wissen, ob mich, was ich auf dieser Deutschland-Reise sah, beunruhige.
Nicht wirklich, antworte ich. Noch ist das Land zu retten. Worüber gelacht wird. Ich denke für mich: Erstaunlich, wie viele Menschen Achgut lesen oder wenigstens kennen, jedenfalls unter denen, die ich getroffen habe. Hier hat mein alter Freund Henryk wirklich etwas Gutes in die Welt gesetzt. Seine Enkel, die er sehr liebt, werden es ihm vergelten. Die Zukunft Deutschlands mag im Augenblick nicht rosig aussehen, aber es ist euer Land und ihr müsst es behaupten und verteidigen. In den rund dreißig Jahren, die ich in Israel lebe, sind wir immer wieder durch gefährliche Zeiten gegangen. Dann kommt es auf die Stimmung an. Es gibt ein Sprichwort, ich weiß nicht, woher und aus welcher Sprache: Wenn die Zeiten schlecht sind, werden die Tapferen munter.
Meine Zuversicht erstaunt mich selbst. Aber ich fühle sie, und ich hatte mir vorgenommen, in diesen kurzen Notizen einfach mitzuteilen, was ich fühle. Auch, wenn ich es nicht erklären kann. Und siehe, mein Optimismus wird belohnt: ICE 800, in dem ich am 4. Oktober 2023 von München nach Berlin unterwegs war, trifft Berlin Hauptbahnhof ein, auf die Minute pünktlich.
Die Reise nimmt ein überraschendes Ende, besser gesagt: sie nimmt bisher kein Ende. In Israel bricht Krieg aus, buchstäblich am letzten Tag, als ich schon packe und alles für den Rückflug vorbereite. Morgens im Bett erste WhatsApp-Nachrichten meiner Frau von Raketenbeschuss unserer Gegend, was nicht zum ersten Mal vorkäme – wir leben nur vierzig Kilometer von Gaza entfernt. Wir haben einen als bombensicher deklarierten Raum im Haus, und wenn die Sirene losgeht, ziehen wir uns dorthin zurück. Aber diesmal sei es schlimmer, sagt meine Frau am Telefon, so schlimm wie noch nie. Dann kommen die Medienberichte, die schrecklichen Videos und Fotos.
Abends, beim jährlichen Autorentreffen von Achgut, bittet mich Henryk, ein paar Worte zum Krieg in Israel zu sagen: „Wir können dazu nicht schweigen.“ Sima Schermann hat die Idee, ich solle zum Schluss ein hebräisches Gebet sprechen. Peter Grimm und ich suchen im Internet das Gebet für die Soldaten der israelischen Armee, das ich aus dem Laptop ablese. Ich denke dabei an unsere Enkelin Sarah, derzeit an der ägyptischen Grenze stationiert, und begreife plötzlich, wie bedrohlich die Lage ist. Jetzt nach Hause! Ich will in meinem Haus sein, bei meiner Familie. In der Nacht wird eine so genannte „closure“ verhängt, Grenzübergänge und Flughäfen sind geschlossen. Morgens werden zwei weitere Enkel als Reservisten einberufen. Mein Flug nach Tel Aviv wurde vorgestern gestrichen, ich bin immer noch in Berlin. Der nächste Flug meiner Fluggesellschaft geht heute früh. Mal sehen, ob es gelingt.
Der erste Teil dieser Notizen erschien am vergangenen Sonntag, Sie finden sie hier.
Chaim Noll war in der vergangenen Woche auf Lesereise in Deutschland mit seinen neu veröffentlichten Büchern Höre auf ihre Stimme. Die Bibel als Buch der Frauen (Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2023, 330 Seiten, 22 Euro) und Scharia und Smartphone. Texte zum zeitgenössischen Islam (Hess Verlag Stuttgart, 2023, 381 Seiten, 22,80 Euro)
In der Achgut-Edition ist von Chaim Noll erschienen: Der Rufer aus der Wüste – Wie 16 Merkel-Jahre Deutschland ramponiert haben. Eine Ansage aus dem Exil in Israel.
Weitere Texte:
Chaim Noll: Palästinenser-Hilfswerk korrupt. Deutschland voll dabei, Achgut, 31.7.2019
Chaim Noll: Hamas. Tod der Hoffnung. Von Deutschland bezahlt, Achgut, 4.8.2020
Chaim Noll: Ist der Aufruf zum Judenmord in Deutschland noch strafbar? Achgut, 8.7.2021
Chaim Noll, Super Stimmung in Kreuzberg und Neukölln, Achgut, 25.4.2022