Wir arbeiten künstlerisch, meine Frau und ich, seit Jahrzehnten. Nein, wir können den Krieg nicht ignorieren. Er ist omnipräsent, auch in unserem Denken. Er dringt ein in unser Lebensgefühl, unsere Arbeit.
Wir leben plötzlich mitten im Krieg. In Israel, einem Krieg führenden Land, dessen jüngere Männer, auch viele Frauen, zur Armee einberufen wurden. Darunter auch drei unserer Enkel. Wir arbeiten künstlerisch, meine Frau und ich, seit Jahrzehnten. Sie hat als Graphikerin und Designerin begonnen, lange Jahre Auftragsarbeiten ausgeführt, sich später der freien Malerei zugewandt. Ich bin Publizist und Buchautor, mit Perioden an Universitäten und Ausflügen in den Kultur-Journalismus, heute ganz dem Bücherschreiben zugewandt und Veröffentlichungen in Zeitschriften und im Internet. Empfindlichkeit für die Bewegungen um uns herum, für Atmosphäre und Stimmungen, ist ein Merkmal unserer Berufe. Wir können den Krieg nicht ignorieren. Aber was fangen wir mit ihm an?
Krieg – für die meisten Künstler ein Schreckenswort. Wo Krieg ausbricht, ist alles Höhere, alles Spirituelle und subtil Menschliche außer Kraft gesetzt. Stattdessen breitet Angst ihre dunklen Schwingen aus, tritt das Elementare, Brutale, Gewalttätige in den Vordergrund, die stumpfsinnige Zerstörungskraft von Kampfmaschinen und technischen Geräten, das Grauen von Vernichtung und sinnlosem Sterben.
So haben Künstler zu allen Zeiten den Krieg gesehen: als apokalyptische Größe wie in Dürers Holzschnitt von 1497, als Katastrophe wie Francisco de Goya in seiner Graphik-Serie Desastres della Guerra um 1810, als die Sinne verstörenden Horror wie Otto Dix in seinem Triptychon Der Krieg um 1930 oder als Deformation des Menschlichen wie Picasso in seinem Gemälde Guernica. Zugleich gab es zu allen Zeiten Malerei, die den Krieg glorifizierte: zahllose Schlachtengemälde oder Porträts berühmter Feldherren auf dem Marsfeld, die den Krieg als glorreiches Ereignis stilisieren.
Gänzlich inflationiert ist die Darstellung des Krieges im Film
Dmitrij Schostakowitsch versuchte in seiner berühmten Leningrader Symphonie die Blockade der Stadt durch die deutsche Wehrmacht in Musik umzusetzen, in der Absicht, an die Schrecken des Krieges zu erinnern, an die Hungersnot und die Leiden der Bevölkerung. Zugleich haben seine sowjetischen Kollegen Musikstücke komponiert, die das Sterben für die Heimat verherrlichten, etwa Alexander Alexandrow das damals allbekannte Lied Der Heilige Krieg, das ab Herbst 1941 jeden Morgen vom Moskauer Rundfunk ausgestrahlt wurde. Weltweit bekannte Bücher wie Hemingways Erzählungen aus dem Ersten Weltkrieg, Remarques 1928 geschriebener Roman Im Westen nichts Neues oder Norman Mailers Die Nackten und die Toten von 1948 zeigen in schonungslosem Realismus das Grauen des Krieges.
Andererseits haben immer wieder Dichter und Schriftsteller den Krieg als grandioses Geschehen geschildert. Einige haben ein Geschäft daraus gemacht, blutige Schlachten in Oden zu besingen wie der Troubadour Bertrand de Born im zwölften Jahrhundert. Auch achthundert Jahre später, um 1945, dichtete der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg in Stalins Diensten: „Nichts ahnen sie vom Duft einer Rose auf dem Schlachtfeld (…) Nirgends ging die Sonne schöner auf,/ nirgends als über zerstörten Städten.“
Gänzlich inflationiert ist die Darstellung des Krieges im Film. Ein Publikum finden sowohl Filme, die den Krieg verklären und Krieger heroisieren als auch strikte Anti-Kriegs-Filme. Lange prägten die den Krieg anklagenden Romane Heinrich Bölls oder Filme wie Bernhard Wickys Die Brücke die gesellschaftliche Stimmung in Nachkriegsdeutschland. Der gesellschaftliche Konsens ging in Richtung Pazifismus, doch inzwischen ist er einer Beliebigkeit der Meinungen gewichen, die letztlich alles passieren lässt, was sich gut verkauft. Dem liegt auch ein Paradigmenwechsel zugrunde, der den Krieg – lange als absolute Unmöglichkeit betrachtet – bei der Lösung politischer Probleme neuerdings wieder in Betracht zieht. Der russische Präsident Putin hat dieses brutalste aller politischen Mittel auch an der Grenze zu Europa wieder in Aktion gebracht.
Von israelischer Seite vermied man lange das Wort „Krieg“
Hier im Nahen Osten ist es seit langem üblich. Und angesichts der politischen Verhältnisse besteht wenig Hoffnung auf Frieden. Wir träumen natürlich davon, wir entwickelt Theorien und Strategien, wie diese Region friedlich werden könnte zum Segen der hier lebenden Völker. Doch bisher hatten wir damit wenig Erfolg. Stattdessen sind kriegerische Auseinandersetzungen Teil unseres Lebens geworden. Von israelischer Seite vermied man lange das Wort „Krieg“, vielleicht um die Hoffnung auf Frieden zu erhalten. So wurden die Gaza-Einsätze 2009, 2012 und 2014 „Militäraktion“ genannt, in Wahrheit waren es bereits Kriege. Die gegenwärtigen, seit Monaten sich hinziehenden Kämpfe an mehreren Fronten, vor allem in Gaza, können nur noch mit diesem Wort bezeichnet werden. Insgesamt verändert sich die Sprache. Von „Fronten“ ist die Rede, von „Helden“, die Soldaten werden „Kämpfer“ genannt.
Der Krieg erweist sich als omnipräsent: in den Medien, in den Gesprächen, die wir führen, sogar im Gottesdienst der Synagoge, wo täglich spezielle Psalmen gelesen werden, die mit Krieg und Kampf zu tun haben, und ein Gebet für die Soldaten unserer Armee. Die israelische Armee ist eine Volks- und Bürgerarmee: Im Kriegsfall sind fast alle Männer zwischen achtzehn und Mitte vierzig unter Waffen, auch viele Mädchen. Die Regierung appelliert an die Hunderttausende, die persönliche Schusswaffen besitzen (wozu jeder frühere Soldat einer Kampfeinheit nach einigen Tests und Prüfungen berechtigt ist), diese auch anzulegen, im Alltag, auf Autofahrten, im Büro, wo immer, um Terroranschlägen zu wehren, und so sehe ich Pistolen tragende Männer allerorten, auf der Straße, im Bus, im Supermarkt, in der Synagoge. Und jeder, den wir kennen, hat Angehörige, Söhne, Töchter, Enkel, Ehegatten, Schwestern oder Brüder, die „im Krieg sind“, irgendwo kämpfen, ihr Leben riskieren. Täglich hören wir das Krachen der Fighterjets, das Brummen der Hubschrauber über uns am Himmel.
Nein, wir können den Krieg nicht ignorieren. Er ist omnipräsent, auch in unserem Denken. Er dringt ein in unser Lebensgefühl, unsere Arbeit. Probeweise setzt meine Frau in die Wüstenlandschaft, die sie malt, eine Gruppe Soldaten. Sie hat ihre Bilder im Kopf, denn ihre Enkel schicken sie ihr per WhatsApp aufs Telefon. Die Gewitter über der Wüste, das Wetterleuchten, die Sandstürme, die sie gern malt, bekommen etwas Apokalyptisches. Kampfflugzeuge tauchen darin auf oder Helikopter wie gefährliche, monströse Insekten. Es ist ein Zur-Kenntnis-Nehmen des Krieges, ohne ihn zu beurteilen. Wir haben miterlebt, wie dieser Krieg unserem Land aufgezwungen wurde, wir sehen keinen Grund, ihn zu verurteilen, doch deshalb bleibt er, was jeder Krieg ist: eine Katastrophe.
Ich entdecke in meinem Roman, den ich ins Englische übersetze, Erinnerungen an frühere Kriege. Das Übersetzen schien mir ein Umgehen des Problems, ein Ausweg aus dem Dilemma, mitten im Krieg zu leben und ihn dennoch zu meiden. Jetzt stellt sich heraus: Er hatte längst in mein Denken und Schreiben Eingang gefunden, er hat uns längst im Griff. Wir wissen nicht, was aus alledem wird, wie dieser überall spürbare Krieg uns verändern, wie er unsere Arbeit beeinflussen wird, aber sicher ist, dass es geschieht. Es ist, so alt wir sind, eine vollkommen neue Erfahrung.
Dieser Text erschien zuerst im Heft Mai/Juni 2024 des Kulturmagazins OPUS, Heft 103, Mai/Juni 2024. Das Bild stammt von Sabine Kahane-Noll
Chaim Noll wurde 1954 unter dem Namen Hans Noll in Ostberlin geboren. Sein Vater war der Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin, bevor er Anfang der 1980er Jahre den Wehrdienst in der DDR verweigerte und 1983 nach Westberlin ausreiste, wo er vor allem als Journalist arbeitete. 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel, in der Wüste Negev. 1998 erhielt er die israelische Staatsbürgerschaft. Chaim Noll unterrichtet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit an der Universität Be’er Sheva und reist regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen nach Deutschland. Das nächste mal ist er am 9.Mai in Deutschland zu Gast bei einer Diskussionsrunde.
In der Achgut-Edition ist von Chaim Noll erschienen: Der Rufer aus der Wüste – Wie 16 Merkel-Jahre Deutschland ramponiert haben. Eine Ansage aus dem Exil in Israel.