Chaim Noll / 01.10.2023 / 10:00 / Foto: Achgut.com / 46 / Seite ausdrucken

Ankunft bei den „Aussortierten“

Notizen auf einer Reise durch ein zunehmend dysfunktionales und geistig gelähmtes Land und über Begegnungen mit Menschen, die sich dagegenstemmen.

Meine Frau war dagegen. Sie findet, ich sei zu alt für Lese- und Vortragsreisen nach Deutschland, für den Stress, drei Wochen lang mit dem schweren Koffer im Schlepptau von Stadt zu Stadt, zumal mit der als unsicher bekannten deutschen Bahn. Zu alt, um jede Nacht in einem anderen Bett zu schlafen. Zu alt für Wetterumschwünge und unerfreuliche Begegnungen. Sie wurde bestätigt durch einen Anruf der Leipziger Verlegerin: „Sie müssen sich auf Anfeindungen gefasst machen.“ Eins der beiden neuen Bücher, die ich vorstellen soll, beschäftigt sich mit dem Thema Islam – werden auch mir linke Aktivisten eine Torte ins Gesicht schleudern? 

Aber manchmal höre ich nicht auf sie. Den Ausschlag gab eine Einladung in den Deutschen Bundestag und die freundliche Hilfe, die ich von dort erfuhr: Ein Mitarbeiter buchte den Flug für mich, kümmerte sich sogar um Gepäck und Bordkarten, ich nahm es als Zeichen, willkommen zu sein. Die Reise war schon drei Tage alt, als mir der Einfall kam, darüber zu schreiben. Und natürlich, wenn schon, dann für Achgut. Wo ich in den vergangenen Monaten nichts veröffentlicht habe. Weshalb ich ein wenig unter schlechtem Gewissen leide. Was die Achgut-Leute großzügig ignorieren: schon am ersten Tag in Berlin ein Anruf von Dirk Maxeiner, der mich herzlich begrüßte, als wäre nichts. Fabian Nicolay kam sogar zu einer Willkommens-Party, die ein Berliner Freund für mich ausrichtete. Also steht nichts im Wege, ein paar Notizen zu machen: Meine Reise durch ein geistig gelähmtes Land.

Noch ist alles da, noch ist es ein reiches, einigermaßen solide strukturiertes Land, aber zunehmend sklerotisch, dysfunktional, mit sichtlich bröckelnder Infrastruktur. Ich habe, um gleich die Pointe zu verraten, niemanden getroffen, der die derzeitige Regierung und ihre Arbeit schätzt. Ihre Politik wird von fast allen, mit denen ich sprach, gleich welchen Alters oder welcher politischen Richtung, als ineffektiv, bürokratisch-verklemmt, als kontraproduktiv, sogar als schädlich für das Land eingeschätzt. Niemand erhofft etwas von den Regierenden, eher fürchtet man schikanöse Gesetze und die Wirtschaft lähmende Regulierungen. Als Auswärtiger und Aussätziger – von den regierungstreuen Medien ignoriert, von den parteinahen Stiftungen (mit einer einzigen Ausnahme) nicht mehr eingeladen – trägt mich dennoch eine erstarkende Gegenöffentlichkeit, treffe ich überall Leser meiner Texte und Bücher. Je regierungskritischer meine Äußerungen sind, umso lauter wird applaudiert.

Wie die Fragen verraten, sind viele Achgut-Leser da

Ein Land mit zwei Gesichtern. Der Vortrag im Bundestag – anderthalb Stunden über ein theologisch-philosophisches Thema, dem die anwesenden Abgeordneten und Mitarbeiter mit großer Geduld folgten –, das anschließende Beisammensein in der Parlamentarischen Gesellschaft, tags darauf ein Familientreffen mit den Berliner Verwandten, wo es zwei neue Babys zu bestaunen gab, eine ad-hoc-Begegnung mit Matthias Matussek im Restaurant Vapiano auf dem Berliner Hauptbahnhof – all das verlief in ungetrübter Harmonie. Am 21.9. fuhr ich nach Prenzlau, wo mich Pfarrer Dietz am Bahnhof abholte, wir waren sofort, schon während der Autofahrt, im besten Gespräch.

Wir sind noch im Bundesland Brandenburg, das sich auch hier entvölkert. Wir fahren durch Dörfer, von denen Pfarrer Dietz sagt, sie hätten in den letzten zwanzig Jahren die Hälfte ihrer Einwohner eingebüßt. Das Publikum abends – in der rekonstruierten, schlicht eingerichteten Dorfkirche aus dem 12. Jahrhundert – ist kritisch, skeptisch bis ablehnend gegenüber der jetzigen Regierung. Wie die Fragen in der anschließenden Diskussion verraten, sind viele Achgut-Leser darunter, sie beziehen sich auf Veröffentlichungen von mir. Nachdem der Pfarrer mich begrüßt hat, heißt er noch einen anderen Mann willkommen, der anonym bleiben muss, aber ebenfalls wichtig ist für das Gelingen des Abends: einen Beamten der Polizei, under cover, in Zivil. Mir hat er ihn zuvor verstohlen gezeigt: der Mann in der letzten Reihe, nahe der Tür, im roten Pullover. Die Kirche ist zweimal von Antifa-Trupps überfallen worden während früherer Veranstaltungen, die man unterbrechen musste, bis die Polizei hier war, relativ spät bei den langen Wegen über Land. Man hatte nach Meinung der Antifa „die falschen Leute“ eingeladen, Außenseiter oder „Aussortierte“, wie sie neuerdings genannt werden. 

Zum Schluss greift die Frau Pastorin resolut in die Manuale der Orgel, wir alle singen mit, die ganze volle Kirche, Matthias Claudius’ unsterbliches „Abendlied“, alle sieben Strophen. „Der Mond ist aufgegangen/ die goldnen Sternlein prangen…“ – zuletzt habe ich die berühmten Verse in der Wüste Negev meinem damals vierjährigen Enkel vorgesungen, um ihm einen Begriff von deutscher Volkspoesie zu geben. Das kluge Kind hat sofort den Endreim verstanden und beim zweiten Vorsingen das „aufgegangen“ und „prangen“, das „schweiget“ und „steiget“ mitgesprochen. Dieser Tage hat er seinen Wehrdienst bei einer Elite-Einheit in der Wüste absolviert, sein Deutsch ist so gut, dass er deutsche Bücher des neunzehnten Jahrhunderts liest, neben hebräischen und englischen. Ich gestehe, dass ich gerührt bin, dass mir die Augen feucht werden bei den letzten Zeilen „Verschon uns Gott mit Strafen / und lass uns ruhig schlafen / und unsern kranken Nachbarn auch“.  

Die Empfindlichkeit gegenüber dem Totalitären bleibt

Hinterher im Pfarrhaus an einer langen Tafel, ein weitgehend „ostdeutscher Abend“, fast alle Anwesenden – bis auf eine aus dem Oldenburgischen zugezogene wohlhabende Landwirtin – sind ehemalige „Ossis“. Ich zähle mich dazu, obwohl ich die letzten Jahre vor dem Ende der DDR im Westen gelebt habe – die Ost-Erfahrung bleibt, die Empfindlichkeit gegenüber dem Totalitären, ob es nun braun ist, rot oder grün, das Frühwarnsystem, das jetzt im Westen alle Glocken „schrillen“ lässt. „Wir sind gebrannte Kinder“, sage ich gegen Mitternacht, ehe Pastor Dietz die Tafel aufhebt. Wir haben übrigens mehr gelacht an diesem Abend als geklagt oder räsoniert, die Stimmung ist immer noch heiter, auch mein Schlaf tief und fest oben im Gästezimmer des Pfarrhauses mit Blick auf märkische Wiesen.

Am Dienstag, 26. September, fahre ich im ICE nach Erfurt, von dort im Regionalexpress nach Weimar, wo mich Dr. Peter Krause, Direktor der Begegnungsstätte Schloss Ettersburg, im schwarzen Wagen vom Bahnhof abholt. Die Partei, der er angehört, die CDU, lädt mich schon längst nicht mehr ein, auch ihre Stiftung nicht, die Adenauer-Stiftung, obwohl ich einstmals zu ihren liebsten Referenten gehörte. Erstaunlich ist die Geschlossenheit der Ausschließung, hier scheint Digitalisierung – sonst eine spürbare Schwäche Deutschlands – gut zu funktionieren: Die blacklist der Unerwünschten kann durch einfachen Klick weltweit verbreitet werden. Dafür funktioniert im ICE das Internet nicht, der Zugbegleiter versucht verlegene Erklärungen, empfiehlt, es „immer wieder zu versuchen“. Auch ist der Warteraum auf dem Bahnhof Südkreuz ohne ersichtlichen Grund abgeschlossen, so dass ich keinen Strom für den Laptop bekomme. Stattdessen Die Weltwoche lese, eine in Zürich erscheinende Wochenzeitschrift, die ich bisher nicht kannte. Im vorletzten Heft, Nr. 37, erschienen am 14. September, ist eine opulente Rezension meines neuen Buches Höre auf ihre Stimme. Die Bibel als Buch der Frauen abgedruckt, fünf Seiten bebilderter Text – so etwas erlebt ein Autor nicht alle Tage. 

Dass diese Zeitschrift fünf von 82 Seiten für die Besprechung eines Buches hergibt, scheint mir ein gutes Zeichen für ein immer noch bestehendes geistiges Leben – zumindest in gewissen Inseln innerhalb einer sonst zunehmend illiteraten Gesellschaft. Auch sonst gibt es manches Interessante zu lesen, etwa eine Zustandsbeschreibung drückender europäischer Zukunftsprobleme unter dem Titel Europa fällt immer weiter zurück. Die Schweizer Wochenzeitung wagt kritische Töne, die man sonst in keinem deutschsprachigen Printmedium findet:

„Der glücklos agierende Bundeskanzler Olaf Scholz, der nach Angela Merkel eine neue Politik versprach, kann nur an die Bürger appellieren, in einer nationalen Kraftanstrengung den Mehltau aus Bürokratismus, Risikoscheu und Verzagtheit zu überwinden, der dazu führen könnte, dass Deutschland am Ende des Jahres in einer richtigen Rezession steckt (…) Deutschland ist mittlerweile das am langsamsten wachsende Mitglied der G-7. Die deutsche Schwerindustrie ist durch den Verzicht auf billiges russisches Gas erheblich geschwächt, und die Konzentration der EU auf Elektroautos könnte angesichts billiger chinesischer Importe die eigene Autoindustrie in die Knie zwingen.“

Diesmal kommt das Übel aus einer anderen Richtung als bisher

Apropos: Vom Ausland aus gesehen, erstaunt die Gewaltsamkeit, mit der das Elektroauto in Deutschland erzwungen werden soll (obwohl man damit eine hereinbrechende Flut erfolgreicher chinesischer Modelle begünstigt) – auch anderswo fährt man Elektroautos, verbietet aber deswegen nicht die Alternativen. Angela Merkel hatte das Mantra der Alternativlosigkeit in die deutsche Politik eingeführt, Beleg für ihr antidemokratisches Denken. Es ist der Hang zum Totalitären, der Deutschland immer wieder um seine Möglichkeiten bringt und erstarren lässt – diesmal kommt das Übel aus einer anderen Richtung als bisher, aber wiederum mit totalitärer Wucht.

Am Abend lese ich im Weißen Saal von Schloss Ettersburg, einem Kleinod deutscher Restaurationskunst, vorbildlich verwaltet und durch kluge Kulturarbeit, durch aufregende, oft berühmte Gäste von Peter Krause, einem CDU-Politiker, zu einem Zentrum geistigen Lebens entwickelt. Krause wurde 2008 als Kultusminister des Landes Thüringen zu Fall gebracht, weil er in seiner Jugend einige Monate für die Wochenzeitung Junge Freiheit gearbeitet hatte. Die Junge Freiheit wird von einem linken Meinungskartell als „rechtsextrem“ eingestuft, eine für mein Gefühl unsinnige Aburteilung – angesichts der zwanghaften Häufigkeit solcher Verdikte keiner weiteren Erwähnung wert.

Krause kostete sie damals Job und Karriere, wobei Schloss Ettersburg ein wunderbares Trostpflaster ist. Veranstalter der Lesung ist die einzige parteinahe Stiftung, die mich noch einlädt, die der FDP nahestehende Friedrich-Naumann-Stiftung. Die von ihr entsandte Moderatorin ist von meinem Buch Höre auf ihre Stimme sehr angetan – ein guter Anfang. Wir trinken Tee auf der wunderbaren Terrasse des Schlosses. Zur Lesung kommt Vera Lengsfeld, die hier in der Nähe ein Haus mit Obstgarten hat und sich dort, wie sie abends beim Wein erklärt, viel lieber aufhält als in der Hauptstadt der „bunten Republik“. „Ich fahre immer seltener nach Berlin“, sagt sie. „ich fühle mich dort nicht mehr so richtig wohl.“

In Dessau wächst welkes Gras zwischen den Bahnsteigen

Am 27. September hält das warme, sonnige Wetter der letzten Tage an. Also bisher kein Kälteschock. Morgenspaziergang im Schlossgarten, in dem immer noch die Dattelpalmen in großen Kübeln stehen. Finde auf der Richtung Buchenwald führenden Wiese eine grüne Birne, füttere damit das weiße Pferd, das auf einer Koppel nahe dem Schloss weidet, wandere dann ein Stück den Hügel hinauf, hinter dem, meinem Blick verborgen, irgendwo südöstlich, das Konzentrationslager liegt. Vor mir die im Morgenlicht leuchtende Wiese. Deutschland ist ein schönes Land. Nicht überall, aber immer wieder, stellenweise. Zum Bahnhof, in Erfurt in den ICE Richtung Leipzig, der zehn Minuten Verspätung hat, aber noch den Anschlusszug erreicht. Bisher nur kleine Pannen. Änderung des Bahnsteigs im letzten Augenblick oder die beliebte vertauschte Wagenfolge, so dass man, um den bestellten Sitz zu erreichen, kurz vor Abfahrt am ganzen Zug entlangrennen muss. Mit dem Koffer im Schlepptau. Schwitzend, echauffiert sinke ich in den Sessel. In solchen Augenblicken fällt mir ein, was sie gesagt hat: Du bist zu alt für diese Reisen.

In Dessau wächst welkes Gras zwischen den Bahnsteigen. Die weltberühmte Stadt, Heimat des Bauhauses, das die Architektur der Moderne geprägt hat wie keine andere Schule, wirkt wie verlassen. Dunkelhäutige junge Männer bewegen sich munter über die weiten, verödeten Plätze. In der Geschichte gibt es kein Vakuum. Wo niemand ist, lassen sich andere nieder. Zu Fuß zum nahe gelegenen Hotel Radisson Blue, in der Stille begleitet mich nur das Geräusch meines rollenden Koffers. 

Abends, kurz vor der Veranstaltung, begrüßt mich ein Mitarbeiter des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Dr. Haseloff, der mit den Jahren unser Freund geworden ist, gläubiger Christ und Liebhaber Israels, er hat uns sogar in unserem Haus in der Wüste besucht und sich unseren künstlich bewässerten Garten angesehen. Teile seines Bundeslandes sind von der Versteppung, der Desertifikation bedroht, dort sinkt der Grundwasserspiegel, vertrocknet der Boden, deshalb fuhren wir zusammen ins Institut für Wüstenforschung in Sde Boqer, um uns kundig zu machen über moderne Bewässerungstechnologien.

Die deutschen Klima-Ideologen haben sich in die Gefahren des Kohlendioxids verbissen, sie verkrüppeln die Autoindustrie, ihre radikalen Adepten kleben sich auf Fahrbahnen fest und behindern Krankenwagen und andere Lebensnotwendigkeiten, doch die Versteppung des Planeten nehmen sie nicht zur Kenntnis, dabei erreicht sie nun auch ihr eigenes Land. An der weltweiten Desertifikation ist weniger der Kapitalismus schuld als indigene Völker Afrikas oder Länder wie China und Brasilien – daher interessiert sie die engstirnigen CO2-Hysteriker nicht, die den Klimawandel zum Vorwand nehmen, um den Selbsthass westlicher Wohlstandskinder auszutoben.

In Deutschland hat man das Problem überhaupt noch nicht erkannt, von wenigen Weitsichtigen wie Haseloff abgesehen. Der CDU-Politiker ist in Berlin nicht sonderlich beliebt, obwohl er der längstgediente Ministerpräsident eines Bundeslandes ist, nunmehr zum dritten Mal gewählt. Er wäre gern selbst zu meiner Lesung gekommen, sagt der Mitarbeiter seiner Staatskanzlei, ein junger Mann in untadelig sitzendem Anzug, knapp und tailliert wie die Uniform eines Gardeoffiziers, doch der Ministerpräsident musste überraschend nach Berlin. Er schickt mir eine Karte mit Grüßen und einen Kunstband für meine Frau. 

Ein grüner Wirtschaftsminister ist in dieser Situation ungünstig

Das Publikum besteht fast nur aus Frauen, ich sehe nur drei oder vier Männer verloren unter ihnen. Moderatorin ist, wie schon zuvor, die Germanistik-Professorin Ilse Nagelschmidt von der Uni Leipzig, die meine Bücher gründlich liest und erstaunliche Anmerkungen dazu macht. Am nächsten Tag, im ICE nach Hamburg, lese ich dank diesmal funktionierendem Internet alarmierende Ankündigungen in der Bild-Zeitung:

„Hilfe, wir schrumpfen! Experten schocken heute mit einer Hiobsbotschaft von unserer Wirtschaft. Rechneten die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute im Frühjahr noch mit einem Mini-Wachstum von 0,3 Prozent, korrigieren sie ihre Prognose jetzt um minus 0,9 Prozentpunkten. Heißt: Die deutsche Wirtschaft (gemessen am Bruttoinlandsprodukt/BIP) wird in diesem Jahr um 0,6 Prozent schrumpfen.“

Im Zug schreibe ich an diesem Text, dessen eiliger, rudimentärer Charakter mir bewusst ist, aber er soll authentisch sein, tatsächlich auf der Fahrt durch Deutschland entstehen, sozusagen „im rollenden Wagen“. Im Hotel kann ich ein paar Korrekturen machen und im Internet Angaben verifizieren, aber der Schwung dieser Notizen – an deren Sinn ich längst zu zweifeln begann – erwächst aus der Bewegung. Wie komme ich auf das Wort „Schwung“? Durch „Abschwung“ – so nennt die Bild-Zeitung die Entwicklung der deutschen Wirtschaft. Es ist natürlich extrem ungünstig, in dieser Situation einen grünen Wirtschaftsminister zu haben. Einen Kinderbuchautor, der im Reich der Fiktion und des Traums zu Hause ist. Der jetzt nicht pragmatische Entscheidungen trifft, sondern weiter seine ideologisch geprägte Agenda verfolgt, seine hochherzigen Projekte zur Belehrung der Welt.

Auf dem Bahnhof Hannover scheint niemand beunruhigt; gut gekleidete, wohlgenährte Menschen warten auf ihren Zug, der „Abschwung“ ist sichtlich noch nicht im allgemeinen Bewusstsein angekommen. Das hat etwas Unheimliches: dieses ruhige Weitermachen, dieser Tiefschlaf im Wohlstand, dieses Promenieren auf Deck, während unten im Maschinenraum bereits die Maschinen knirschen und blockieren.

Das Publikum gehört zu den „Aussortierten“, da es christlich und pro-israelisch ist

In Hamburg von alten Freunden auf dem Bahnhof empfangen. Unterwegs musste der ICE über Nebenstrecken „umgeleitet“ werden, wodurch wir zwanzig Minuten Verspätung haben und größere Strecken ohne Internet sind – wer wird sich davon die Wiedersehensfreude trüben lassen? Wibke und Johannes sind alte Freunde aus meiner Studienzeit in Jena, Hinrich ist Vorsitzender des Ebenezer Hilfswerks, einer christlichen Einrichtung zur Unterstützung der Einwanderung nach Israel, die eng mit der Jewish Agency zusammenarbeitet. Zu deren Büro fahren wir in Johannes’ Wagen: große Räume in bester, eigentlich unbezahlbarer Lage in der Innenstadt, die der reiche Zeitschriftenverleger, dem das Haus gehört, dem Hilfswerk seit Jahren kostenlos überlässt. Ebenezer hat für tausende russische und ukrainische Juden die Einwanderung nach Israel organisiert und finanziert, früher ganze Schiffsladungen von Odessa nach Haifa zusammengestellt, und ist auch heute, in Kriegszeiten, sehr aktiv. Hinrich und seine Frau Elke, beide Anfang siebzig, fliegen auch in diesen Tagen, obwohl es lebensgefährlich ist, immer wieder dorthin.

Man empfängt uns mit Tee und einem Imbiss, ehe wir aufbrechen ins Haus der Pfarrerswitwe B., in dem ich übernachten soll. Frau B. wohnt in einem großen Haus mit mehreren Gästezimmern. Wir treffen dort auch eine Musikerin, früher Flötistin eines bekannten Orchesters, die ich aus Mühlhausen in Thüringen kenne, wo ich vor Jahren las, in der restaurierten, aber leeren Synagoge der Stadt, in deren früherer Rabbinerwohnung sie lebt. Und damit das Gebäude bewacht und verwaltet. Zur Lesung am Abend in den weiten Räumen von Ebenezer kommt vorwiegend christliches Publikum, auch einige aus dem Kriegsgebiet geflohene Juden. Dieses Publikum gehört für die deutschen Leitmedien ohnehin zu den „Aussortierten“, da es christlich und pro-israelisch ist. Ich lese einen Text über die biblische Rebecca, einen weiteren über Judith, die Heldin des apokryphen Buches, beides tapfere, kluge Frauen. Die Stimmung ist gut wie immer in diesem Kreis, hinterher gibt es ein Glas israelischen Wein, Datteln, Oliven und andere Leckerbissen aus dem Nahen Osten. Im Vortragsraum hängen Bilder meiner Frau, die wir der Stiftung vor Jahren als Dauerleihgabe überlassen haben, ich vertiefe mich ein paar Minuten in die virtuose Faktur ihrer Pinselstriche und fühle mich ganz zuhause. 

Auf der Fahrt nach Köln, am Morgen des 28.9., keine Internet-Verbindung im ICE. Wenn sie nach langen Mühen gelingt, bricht sie bald wieder zusammen. Ich kann E-Mails auch nicht vom Handy abschicken, nicht mal das funktioniert sicher. Beide Toiletten im Erste-Klasse-Wagen verschlossen, ein Bahnbeamter, den ich darauf anspreche, kann keine Auskunft geben – die kleinen Leistungen werden peu a peu verweigert. Ich muss weite Wege gehen. Die Türen schließen nicht richtig, es zieht erbärmlich. Keine Klagen! Sie machen die Lage noch schlimmer. Immerhin: bisher keine nennenswerte Verspätung. Unberufen! Ich befehle mir selbst, die gute Laune zu behalten und mit dem vorlieb zu nehmen, was mir dieses große, einstmals starke, zunehmend gelähmte Land bietet.

 

Chaim Noll ist derzeit auf Lesereise in Deutschland mit seinen neu veröffentlichten Büchern Höre auf ihre Stimme. Die Bibel als Buch der Frauen (Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2023, 330 Seiten, 22 Euro) und Scharia und Smartphone. Texte zum zeitgenössischen Islam (Hess Verlag Stuttgart, 2023, 381 Seiten, 22,80 Euro)  

In der Achgut-Edition ist von Chaim Noll erschienen: Der Rufer aus der Wüste – Wie 16 Merkel-Jahre Deutschland ramponiert haben. Eine Ansage aus dem Exil in Israel.

Foto: Achgut.com

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Leserpost

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W. Renner / 02.10.2023

Wie die Deutsche Reichsbahn soeben mitteilte, handelt es sich bei dem welken Gras in Dessau um nachhaltiges Bio Hochgeschwindigkeitsgras.

S. Marek / 01.10.2023

Hallo Herr Chaim Noll, freut mich wieder von Ihnen was zu Hören. Was macht die “Justizreform” in dem durch Sozialistisch-Marxistische Elite in ein dysfunktionales und geistig gelähmtes Land katapultiertes Israel ? Die jungen nützlichen Idioten der Weis-Blauen Partei werden doch jede Fahne, ob mit den israelischen oder “palästinensischen” Farben, schwenken die ihnen in die Hand gedrückt wird. Hauptsache die können Rabatz machen, Höllenlärm veranstalten um keinen Einwand zu hören und die Juden die betten wollten, sieh am Jom Kippur, zu vertreiben und als Nazis zu beschimpfen um die “Demokratie” zu schützen.

Lao Wei / 01.10.2023

Noch kurz vor „Briefschluss“., @Sabine Schönfeld: ich sehe eher die „Aufforstung“ mit Windparkräder zu Lasten der ehemals hochgeschätzten „grüne Lunge“. Der Irrsinn nimmt seinen Lauf, den halten weder Ochs noch Esel auf. (Eine modifizierte geistige Anleihe. Lyrik aus dem Untergrund).

Tobias Häßner / 01.10.2023

Gibt es eine Terminübersicht?

Franz Klar / 01.10.2023

@Sabine Schönfeld : “Auf Google Earth habe ich versucht, Anzeichen für Versteppung zu finden, aber alles ist grün” . “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar . ( Antoine de Saint-Exupéry (1900-44), frz. Flieger u. Schriftsteller )

Max Mütze / 01.10.2023

@Johannes Schumann: Bin auch oft im Harz unterwegs und heute mit Bus und Bahn zurück. Es hat tatsächlich alles geklappt P.S.:Ich hatte schon befürchtet der „Rote Bär“ (St. Andreasberg) wäre eine neue Antifagründung. Gottseidank geirrt

Gabriele Klein / 01.10.2023

“ich habe, um gleich die Pointe zu verraten, niemanden getroffen, der die derzeitige Regierung und ihre Arbeit schätzt. Ihre Politik wird von fast allen, mit denen ich sprach, gleich welchen Alters oder welcher politischen Richtung, als ineffektiv, bürokratisch-verklemmt, als kontraproduktiv, sogar als schädlich für das Land eingeschätzt.”  Diese Erfahrung mache ich auch und frage mich von daher, woher eigentlich die Wahlstimmen überhaupt kommen?  Ich finde irgend jemand mit Wohnsitz im Ausland,, sollte ne Wahlurne aufstellen, wo alle Verzweifelten ihre Stimme problemlos mit Brief und Siegel abgeben können um diese dann genau zu zählen.  Wetten dass das Ergebnis ein ganz andres wäre als das aller Meinungsforscher zusammen?  Ich versteh nicht warum das nicht längst gemacht wurde.  Ich kenne . keine einzige Wohnungseigentümer Gemeinschaft die z.B. eine korrupte und betrügerische Verwaltung mit Hilfe von “Petitionen” nach Vorgaben dieser Verwaltung abwählen würde. Sie alle einigen sich und zählen jenseits der “Urnen” des Verwalters.

Martin Schau / 01.10.2023

Die Schweizer “Weltwoche” gehört zu den wenigen lesenswerten Zeitungen in D-A-CH, ohne linken Redaktionsgeist, Rechthaberei, Stigmatisierung und Verdachtsberichterstattung.

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