70 Unternehmer, die zusammen 7,8 Millionen Beschäftigte in Europa repräsentieren, fordern in der Antwerpen-Deklaration eine industriefreundlichere EU-Politik.
Es läuft nicht mehr ganz rund für Ursula von der Leyen. Zwar hat sie gerade bekannt gegeben, dass sie sich noch einmal für eine zweite Amtszeit zur EU-Kommissionspräsidentin küren lassen will, doch es weht ihr derzeit einiger Wind entgegen. Zuletzt von mehr als 70 hochrangigen Unternehmensvertretern (unter anderem von Agfa-Gevaert, Bayer, BASF, DuPont, Sanofi, TotalEnergies), die in der sogenannten Antwerpen-Deklaration eine industriefreundlichere EU-Politik und Nachbesserungen am europäischen Green Deal forderten. Unter anderem seien niedrigere Energiekosten nötig, um im internationalen Wettbewerb etwa mit China und den USA mithalten zu können. Insgesamt solle sich die EU in ihrer Gesetzgebung zurückhalten und näher an der industriellen Realität bleiben. Dabei stellen die Konzernchefs den Green Deal, durch den die Netto-Emissionen von Treibhausgasen in der EU bis 2050 auf null gesenkt werden sollen, allerdings nicht generell in Frage. Schon bis 2030 will die EU die Treibhausgasemissionen um 55 Prozent und bis 2040 sogar um 90 Prozent im Vergleich zu 1990 reduzieren.
Die CEOs, die die Deklaration unterzeichnet haben, kommen insbesondere aus den energieintensiven Branchen wie etwa Chemie, Pharma, Stahl, Bergbau, Alu, Glas, Keramik und Zement. Sie wehren sich in erster Linie gegen restriktive Regulierungen und überbordende Dokumentationspflichten auf EU-Ebene und stellen dem Green Deal einen European Industrial Deal mit 10 konkreten Punkten gegenüber. Die EU solle unter anderem den Rahmen für staatliche Beihilfen zu sauberen Technologien in energieintensiven Industrien vereinfachen. Die Infrastruktur müsse verbessert und die Rohstoffversorgung sicher gestellt werden. Der Green Deal dürfe nicht unangemessen präskriptive und detaillierte Durchführungsverordnungen zur Folge haben. Außerdem solle eigens ein für die Umsetzung des European Industrial Deal verantwortlicher EU-Kommissar eingesetzt werden.
Die Initiative der Unternehmen, die zusammen 7,8 Millionen Beschäftigte in Europa repräsentieren, wurde von der belgischen EU-Ratspräsidentschaft unterstützt. Ministerpräsident Alexander de Croo war am Dienstag, den 20. Februar, mit den Konzernchefs im Antwerpener Werk von BASF zusammenkommen. Auch von der Leyen war anwesend. Sie wird in ihrer nächsten Amtsperiode als Kommissionspräsidentin nicht umhin kommen, sich für eine industrie-freundlichere EU-Politik einzusetzen und dabei auch nukleare Energie nicht auszuschließen. Außerdem stehen beispielsweise die Überarbeitung der EU-Chemikalienverordnung REACH und die Überprüfung der EU-Verpackungsvorschriften an.
Anspruch auf Entschädigung bei schlechter Luft
Diese Kurskorrekturen werden nicht einfach sein, sind doch die Weichen bislang weiterhin eher in Richtung Überregulierung gestellt. So sind gerade erst am 21. Februar die neuen EU-Regeln zur Luftqualität verabschiedet worden. Die Luftqualitätsnormen der EU sollen dadurch enger an die globalen Luftqualitätsleitlinien der WHO angeglichen werden. Dabei wird der Jahresgrenzwert für Feinstaub (PM2,5) um mehr als die Hälfte gesenkt. Die überarbeitete Richtlinie sieht außerdem vor, dass jeder, der durch Luftverschmutzung gesundheitliche Schäden erleidet, im Falle eines Verstoßes gegen die EU-Luftqualitätsvorschriften Anspruch auf Entschädigung hat.
Auch die Halbzeitbilanz des Corona-Wiederaufbaufonds, die von der EU-Kommission ebenfalls am 21. vorgelegt worden ist, zielt nach wie vor auf eine klimaneutrale Industrie ab. Die Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) gilt als Herzstück des Corona-Wiederaufbauplans NextGenerationEU (NGEU) und soll einerseits Mitgliedstaaten bei der Erholung von der Coronakrise unterstützen sowie andererseits die Volkswirtschaften und Gesellschaften umweltfreundlicher, digitaler und wettbewerbsfähiger machen. Die Halbzeitbewertung der ARF wurde 2024 abgeschlossen und erstreckt sich über die Jahre 2021 bis 2023. Die Mitgliedstaaten haben in diesem Zeitraum Reformen und Investitionen ausgearbeitet, die mit den ökologischen, digitalen und sozialpolitischen Prioritäten der EU im Einklang stehen.
Bis Ende 2023 hat die EU-Kommission nun mehr als 1150 Etappenziele und Zielwerte als „zufriedenstellend erreicht“ bewertet. Dank der ARF seien beispielsweise mehr als 28 Millionen Megawattstunden (MWh) weniger Energie verbraucht worden. Über 5,6 Millionen weitere Haushalte verfügten nun über einen Internetzugang mit sehr hoher Kapazität, und fast 9 Millionen Menschen hätten bereits von Maßnahmen zum Schutz vor klimabedingten Katastrophen wie Überschwemmungen und Waldbränden profitiert. Bislang sind den Mitgliedstaaten knapp 225 Milliarden Euro an ARF-Mitteln zugute gekommen. 67 Milliarden Euro wurden als Vorfinanzierung ausgezahlt, um Reformen und Investitionen anzustoßen und die kurzfristigen Auswirkungen zunächst der COVID-19-Krise und dann der Energiekrise auf die Haushalte der Mitgliedstaaten abzumildern. Im Gegensatz zu früheren Krisen seien die öffentlichen Investitionen in Europa während der Coronazeit und der anschließenden Energiekrise von 3,0 Prozent im Jahr 2019 auf schätzungsweise 3,3 Prozent im Jahr 2023 gestiegen. 2024 werden die öffentlichen Investitionen voraussichtlich 3,4 Prozent des BIP erreichen.
Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung
Einen weiteren Baustein zur Erreichung der Klima-, Umwelt- und Null-Schadstoff-Ziele der EU stellt die vorläufige Einigung zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat der EU-Staaten über den ersten EU-weiten freiwilligen Rahmen für die Zertifizierung hochwertiger CO2-Entnahmen vom 20. Februar dar. Die Einigung enthält Zertifizierungsvorschriften für eine klimaeffiziente Landwirtschaft – etwa durch die Wiederherstellung von Wäldern, die Wiedervernässung von Torfmooren und eine effizientere Nutzung von Düngemitteln – sowie für industrielle CO2-Entnahmen wie zum Beispiel CO2-Abscheidung und -Speicherung aus der Luft oder die Bindung von Kohlenstoff in langlebigen Produkten wie Baustoffen auf Holzbasis oder Biokohle. Innerhalb von vier Jahren soll ein EU-weites Zertifizierungs-Register eingerichtet werden.
Im Rahmen des Gesetzes über digitale Dienste (Digital Services Act, kurz: DSA), das seit dem 17. Februar vollumfänglich greift, wurde mittlerweile nicht nur ein förmliches Verfahren gegen TikTok eingeleitet, in dem es unter anderem um die Bereitstellung eines durchsuchbaren Verzeichnisses für die auf TikTok präsentierten Anzeigen sowie um den Zugang von Forschern zu Daten geht, sondern auch Zalando musste sich nach einem Dialog mit der EU-Kommission dazu verpflichten, irreführende Nachhaltigkeitskennzeichen und Umweltsymbole (beispielsweise Blätter oder Bäume) zu entfernen.
Schließlich haben am 22. Februar Parlament und Rat beschlossen, dass eine neue EU-Behörde für die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung (AMLA) mit Sitz in Frankfurt am Main eingerichtet wird, die mit Aufsichts- und Ermittlungsbefugnissen ausgestattet ist und unter anderem Zugriff auf Vermögens- und Immobilienregister haben soll (wir berichteten hier).
In der Summe klingt das alles nicht gerade danach, als beabsichtige die EU-Kommission – wie von den Industrievertretern in der Antwerpen-Deklaration gefordert – weniger zu regulieren. Doch von der Leyen wird in ihrer nächsten Amtsperiode nicht umhin können, von der Green-Deal-Ideologie abzurücken und den European Industrial Deal mehr in den Blick zu nehmen. Zumal sich die Zusammensetzung des EU-Parlaments nach der Europawahl aller Voraussicht nach ändern wird und EU-skeptische Parteien deutlich zulegen könnten.
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.