Martina Binnig, Gastautorin / 26.02.2024 / 14:00 / Foto: Pixabay / 20 / Seite ausdrucken

Niveau-Limbo im Bundestag

Die Debatten über den WHO-Pandemievertrag und über Meinungsfreiheit hinterlassen beim Bürger einen durchaus verstörenden Eindruck. Inhaltlich und in der Form war das eines Parlaments nicht würdig.

Am späten Donnerstagabend vergangener Woche, nämlich am 22. Februar um 22.01 Uhr, stand für eine knappe halbe Stunde eine Aussprache über die Anträge von CDU/CSU und AfD zum WHO-Pandemieabkommen auf der Tagesordnung des Bundestags. Der Antrag der AfD-Fraktion trägt den Titel „Ablehnung des WHO-Pandemievertrags sowie der überarbeiteten Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV)“ (20/10391); der Antrag der CDU/CSU-Fraktion den Titel „Für transparente Verhandlungen über das WHO-Pandemieabkommen – Gegen Fehlinformationen und Verschwörungstheorien“ (20/9737). Beide Anträge wurden im Anschluss an die Debatte in die Ausschüsse überwiesen. Bei den weiteren Beratungen soll jeweils der Gesundheitsausschuss die Federführung übernehmen. Schon im Mai vergangenen Jahres hatte der Bundestag einen Antrag der Ampelkoalition angenommen, durch den die Rolle der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestärkt werden soll, wobei aus einigen Redebeiträgen während der damaligen Sitzung eine erstaunliche Ahnungslosigkeit sprach (wir berichteten hier).

Die aktuelle Aussprache warf abermals ein bezeichnendes Licht auf die Bundestagsabgeordneten, die offenbar mehrheitlich immer noch nicht die Brisanz verstehen wollen oder können, die in der derzeitigen Ausarbeitung des neuen Pandemievertrags sowie der Überarbeitung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durch die WHO liegt. Beide Vertragswerke sollen im Mai auf der Weltgesundheitsversammlung verabschiedet werden und wären völkerrechtlich verbindlich. Sie hätten zur Folge, dass die Kompetenzen des WHO-Generaldirektors im Falle eines internationalen Gesundheitsnotstands massiv ausgeweitet und die Zuständigkeiten der WHO-Mitgliedstaaten untergraben werden könnten. 

Anlass für einen internationalen Gesundheitsnotstand (Public Health Emergency of International Concern, kurz: PHEIC), den die WHO mit entsprechendem Krisenreaktionsmechanismus ausrufen könnte, könnte nach dem WHO-Konzept „One Health“ jegliche gesundheitliche Bedrohung sein, die von Viren, aber auch von anderen Faktoren wie etwa dem Anstieg des CO₂-Gehalts in der Atmosphäre ausgehen könnte. Mit anderen Worten: Mit relativ beliebigen Begründungen könnten Notstandsregelungen eingeführt werden, die ähnlich wie während der Coronakrise Grundrechte einschränken könnten.

Parlament oder Klassensprecherversammlung?

Grund genug, sich mit dieser Thematik ernsthaft auseinanderzusetzen. Schaut man sich jedoch die spätabendliche Debatte im Bundestag an, wähnt man sich eher auf einer Klassensprecherversammlung als im Parlament einer der (noch) größten Volkswirtschaften der Welt. Eine inhaltliche Auseinandersetzung vor allem mit dem Antrag der AfD findet vonseiten der übrigen Parteien kaum statt, sondern es geht den Rednern offenbar in erster Linie darum, der eigenen Peergroup zu gefallen und sich von der AfD zu distanzieren. FDP, Grüne und Linke hielten es nicht einmal für nötig, Redebeiträge zu bieten, sondern gaben ihre Stellungnahmen lediglich zu Protokoll. Stattdessen nutzte der FDP-Abgeordnete Lars Lindemann, der durch die Wahlwiederholung in Berlin sein Bundestagsmandat verliert, seine Redezeit für eine Abschiedsansprache, die inhaltlich in keinem Zusammenhang mit der Debatte stand. Dennoch erhielt er frenetischen Applaus.

Im Antrag der AfD wird zunächst sachlich der aktuelle Stand des Pandemievertrags und der Internationalen Gesundheitsvorschriften dargelegt. Dabei wird auf die Tatsache verwiesen, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die EU-Kommission mit der Verhandlungsführung für beide Vertragswerke mandatiert haben. Zum Hintergrund: Die Verhandlungen zum Pandemievertrag finden in einem eigens für diesen Zweck geschaffenen Verhandlungsgremium, dem International Negotiating Body (INB) statt (wir berichteten hier). Auch die Überarbeitung der Internationalen Gesundheitsvorschriften erfolgt in einem extra hierfür geschaffenen Gremium, nämlich der Arbeitsgruppe zur Änderung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (Working Group on Amendments to the International Health Regulations, kurz: WGIHR). Über die eingereichten Änderungsvorschläge berichteten wir hier.

Weiter stellt die AfD in ihrem Antrag fest, dass die WHO ausdrücklich mit nichtstaatlichen Akteuren wie internationalen Organisationen, Forschungseinrichtungen, Nichtregierungsorganisationen, Privatunternehmen und philanthropischen Stiftungen zusammenarbeitet. Darüber hinaus wird im AfD-Antrag der Begriff „One-Health“ kritisch eingeordnet, da auch Informationskontrolle, Überwachung und Verhaltensforschung ein fester und wesentlicher Bestandteil der neuen Gesundheitssicherheit sein soll. Ferner sollen – so die Bestandsaufnahme der AfD – digitale und international gültige Gesundheitsnachweise etabliert werden, wofür die WHO ein globales Gesundheitszertifikat (Global Digital Health Certificate) entwickelt.

Bis heute seien insgesamt sieben internationale Gesundheitsnotstände (PHEICs) ausgerufen worden (H1N1, Polio, zweimal Ebola, Zika, COVID-19 und Affenpocken), wobei der im Januar 2020 erklärte COVID-19-PHEIC erst im Mai 2023 wieder aufgehoben wurde. Bislang habe es keine Ausrufung eines PHEIC wegen Ereignissen ohne Bezug zu Infektionskrankheiten gegeben. In Zukunft soll der Generaldirektor aber auch weitere Notstände wie einen Public Health Emergency of Regional Concern (PHERC) auf Vorschlag der EU oder den Intermediate Public Health Alert für Ereignisse, die noch keine Ausrufung eines PHEIC rechtfertigen (US-Vorschlag), ausrufen können. 

AfD: Rolle der WHO kritisch sehen

Insgesamt konstatiert die AfD mit Bezugnahme auf das Netzwerk kritischer Richter und Staatsanwälte in ihrem Antrag, dass der Entwurfstext zum Pandemievertrag und die Änderungsvorschläge zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften gefährliche Demokratieverluste erkennen lassen, etwa durch Machtkonzentration bei geographisch immer größer werdenden Regelungsentitäten und privaten Einrichtungen sowie durch Informationskontrolle zur Einhegung der öffentlichen Meinung. Außerdem merkt sie kritisch an, dass die gesamte WHO-Dokumentation über Vertragsentwürfe und Verhandlungsverlauf, soweit sie überhaupt veröffentlicht wird, nicht in deutscher Sprache vorliegt und deutschsprachige Übersetzungen nur in privater Initiative angefertigt worden sind. Ein erhebliches Defizit an demokratischer Rechtssicherheit ergebe sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass die WHO und ihre nicht demokratisch legitimierten Organe sowie insbesondere der Generaldirektor Immunität genießen und ihre Entscheide keinerlei rechtlicher Kontrolle und Überprüfbarkeit unterliegen.

Daher schlägt die AfD in ihrem Antrag vor, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern soll, bis zum 1. Juni 2025 einen Untersuchungsbericht zur Rolle der WHO während der Coronakrise vorzulegen; sich bei der Weltgesundheitsversammlung (WHA) für die Entwicklung und Umsetzung eines Finanzierungsmodells für die WHO einzusetzen, welches Unabhängigkeit und Neutralität der WHO wiederherstellt und die Durchsetzung von Partikularinteressen sowie eine ausschließlich industrie-, staaten- oder stiftungszentrierte Politik unterbindet; Vorbereitungen für die rechtzeitige Erhebung eines Widerspruches gegen die Änderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) zu erheben sowie den beabsichtigten Pandemievertrag abzulehnen.

Im Gegensatz dazu bekräftigen CDU/CSU in ihrem Antrag, dass die Notwendigkeit eines internationalen Pandemieabkommens während der COVID-19-Pandemie deutlich zutage getreten sei. Früh sei ersichtlich geworden, dass die vorhandenen Internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO unzureichend gewesen seien, um wirksames und abgestimmtes Handeln gegen die Pandemie sicherzustellen. Die WHO müsse durch ein internationales Pandemieabkommen in Übereinstimmung mit den nationalen Gesundheitspolitiken handlungsfähiger werden. Die Antragsteller betonen die Notwendigkeit einer breit angelegten öffentlichen Debatte über die Ziele und Inhalte eines Pandemieabkommens unter Einbeziehung von Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Parlamenten. Wörtlich heißt es: „Bereits Kreise ziehende Fehlinformationen und Verschwörungstheorien zu den Verhandlungen unterstreichen die Dringlichkeit einer solchen breiten öffentlichen Diskussion.“

Union: Den One-Health-Ansatz verankern

Damit setzen die Fraktionen von CDU und CSU offenbar fundierte Kritik mit „Verschwörungstheorien“ gleich. Dabei würde es schon reichen, wenn sie sich beispielsweise einmal den nur etwa 30-minütigen Vortrag des seriösen Schweizer Rechtsanwalts Philipp Kruse bei einer Medienkonferenz von Pro Schweiz anhören würden, um festzustellen, dass es allen Anlass gibt, die Vertragsverhandlungen kritisch zu hinterfragen. Zwar fordern CDU/CSU eine zeitlich begrenzte Aussetzung von Urheberrechten für pandemierelevante Produkte, doch das war es dann auch schon mit Abweichungen von der Haltung der EU-Kommission, die in diesem Punkt auf einen freiwilligen Technologietransfer setzt. Ansonsten werden im CDU/CSU-Antrag die EU-Positionen regelrecht nachgebetet. 

Demnach soll der Deutsche Bundestag die Bundesregierung unter anderem dazu auffordern, sich konsequent für die umfassende Vorbeugung von Pandemien einzusetzen; auf eine enge Abstimmung zwischen dem Globalen Pandemieabkommen und den Internationalen Gesundheitsvorschriften zu drängen und somit die Einbeziehung von Gesundheitsfragen in allen betroffenen Politikbereichen zu fördern; sich konsequent dafür einzusetzen, den One-Health-Ansatz in der abschließenden Fassung des Pandemieabkommens zu verankern, da nur die zusammenhängende Betrachtung der Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt einen nachhaltigen und ganzheitlichen Gesundheitsbegriff darstelle, sowie sich dafür einzusetzen, verbindliche internationale Mindeststandards bei der Datensammlung, -auswertung und -aufbereitung in der abschließenden Fassung des Pandemieabkommens festzuschreiben, damit künftige internationale Forschungsprojekte zu Pandemien auf Basis einer soliden Datengrundlage durchgeführt werden können.

Außerdem soll sich die Bundesregierung laut CDU/CSU-Antrag dafür einsetzen, dass führende Experten der Globalen Gesundheit („Global Health“) stetig in den Verhandlungsprozess eingebunden werden, um sicherzustellen, dass sowohl wissenschaftliche Erkenntnisse aus der COVID-19-Pandemie als auch Bedarfe der Forschungslandschaft in Bezug auf künftige Pandemien angemessen miteinbezogen werden. Sie solle sich konsequent für den Schutz geistigen Eigentums und gegen eine Abschwächung des Patentschutzes für Impfstoffe und Medikamente aussprechen, da diese nicht nur ein falsches Signal für die erforderliche Forschung der Unternehmen senden würde, sondern mangels der notwendigen Fähigkeiten zur Herstellung von Impfstoffen und Medikamenten in vielen Ländern auch weder zu einer schnelleren Herstellung noch zu einer gerechteren Verteilung führen würde.

Einheitsfront gegen AfD-„Geschwurbel“

Die Regierung solle zudem für eine internationale Harmonisierung von Regulierungsvorschriften werben, insbesondere in Bezug auf für die Pandemiebekämpfung einschlägige Zulassungs-, Lizensierungs- und Zertifizierungsverfahren; Investitionen in die Stärkung und nachhaltige Finanzierung der WHO vorantreiben, sodass sie ihre notwendige Funktion bei der Reaktion auf pandemische Bedrohungen erfüllen kann, sowie aktiv gegen die negativen Auswirkungen von gesundheitsbezogenen Fehlinformationen und Hassreden, besonders in sozialen Medien, vorgehen und das Vertrauen in die öffentlichen Gesundheitssysteme und -behörden fördern.

Entsprechend stromlinienförmig gestaltete sich auch der Redebeitrag von Hermann Gröhe für die CDU/CSU-Fraktion, der mehr internationale Verbindlichkeit forderte und der AfD vorwarf, in ihrem Antrag Geschwurbel zu verbreiten und sich dem Gesundheitsschutz zu verweigern. Tina Rudolph (SPD) bezeichnete gar die Verhandlungen zum Pandemieabkommen als durchaus transparent und als Sternstunde von Demokratie und Solidarität. Auch der SPD-Abgeordnete Herbert Wollmann warf der AfD Desinformation vor und forderte einen globalen Ansatz, den einzig und allein die WHO leisten könne. Außerdem verwies er auf den Zusammenhang von globaler Erwärmung und der Übertragung von Viren. Georg Kippels (CDU/CSU) sprach sich dafür aus, ein deutliches Signal Richtung WHO und Weltgemeinschaft zu senden, die WHO mit einem klaren Mandat zu versehen und dem, was von der AfD vorgetragen worden sei, eine klare Absage zu erteilen.

Dem fraktionslosen Abgeordneten Robert Farle hingegen reichte eine knappe Minute, um mit dem CDU/CSU-Antrag abzurechnen. Wörtlich sagte er: „Nicht mehr Parlamente sollen über die Verhängung eines gesundheitlichen Ausnahmezustandes entscheiden, sondern ein nicht kontrollierbares, nicht gewähltes Gremium in einer Supernationalen Organisation. Wenn die WHO dann den Notstand ausruft, sind die Parlamente nur noch Nebendarsteller. Ein solches Vorgehen zur Entmachtung der Parlamente lehne ich grundsätzlich ab. Mit diesem Antrag haben sich CDU und CSU endgültig als Lobbyorganisation von Big Pharma wie z. B. Pfizer, Moderna und anderen geoutet und als Opposition selbst diskreditiert.“

Wer verbreitet hier „Fehlinformationen“?

Andrej Hunko (BSW) schloss sich der Kritik Farles dahingehend an, dass die WHO durch die Abhängigkeit von privaten Stiftern und von zweckgebundenen Mitteln in Interessenkonflikte verstrickt sei. Daher müssten zunächst die Rolle der WHO sowie die weitreichenden und nicht evidenzbasierten Grundrechtseinschränkungen während der Coronapandemie aufgearbeitet werden. Er forderte außerdem mehr Transparenz bei den Verhandlungen der beiden aktuellen Vertragswerke und die Aufklärung des Impfstoffdeals von der Leyens. Es sei dringend eine offene Diskussion unter Einbeziehung der kritischen Stimmen nötig. 

Christina Baum (AfD) konterte den Vorwurf, die AfD verbreite Fehlinformationen, mit der Anmerkung, dass die schlimmsten Falschmeldungen während der Coronakrise von der Regierung und der CDU selbst ausgegangen seien, wie etwa die Aussage, die Impfung sei wirksam und sicher. Wer wirklich an der Wahrheit interessiert sei, hätte am Corona-Symposium im Bundestag teilnehmen können. Stattdessen solle dem kritischen Teil der Bevölkerung offenbar ein Maulkorb verpasst werden. Die Krankenkassendaten zu den Impfschäden seien bis heute noch nicht an RKI und PEI übermittelt oder ausgewertet worden. Die WHO habe mit ihren Maßnahmen während der Coronakrise mehr Schaden verursacht als Nutzen gebracht. Individuelle, dezentrale Lösungen seien immer einer Zentralisierung vorzuziehen. Außerdem votierte Baum gegen ein globales Gesundheitszertifikat und den weiteren Einfluss privater Stiftungen.

Was geht wohl in Bürgern vor, die diese Debatte im Parlamentfernsehen verfolgen? Vielleicht sind sie jahrzehntelang treue Stammwähler von SPD oder CDU gewesen und müssen nun mitansehen, wie große Teile des Parlaments sich offensichtlich der inhaltlichen Auseinandersetzung mit wichtigen Themen verweigern und sich stattdessen nur noch gegenseitig vergewissern, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen. Klar ist: Die Skepsis gegenüber dem WHO-Pandemievertrag und den überarbeiteten Internationalen Gesundheitsvorschriften ist berechtigt und hat nichts mit Verschwörungstheorien zu tun. Außerdem lässt sie sich keinem bestimmten politischen Lager zuordnen, sondern ist schlichtweg das Resultat von Informiertheit, Vernunft und gesundem Menschenverstand.

Demokratiefördergesetz“ als Etikettenschwindel

Wenn zahlreiche Bundestagsabgeordnete jedoch in erster Linie damit beschäftigt sind, eine Brandmauer gegenüber der AfD zu ziehen, machen sie sich überflüssig. In dieser Hinsicht war auch eine weitere Plenardebatte am folgenden Tag, nämlich am Freitag, dem 23. Februar, um 15.50 Uhr aufschlussreich. Auf Verlangen der AfD fand eine Aktuelle Stunde mit dem Titel „Schutz der Meinungsfreiheit vor staatlichen Übergriffen“ statt. In der Zusammenfassung des Protokolls auf der offiziellen Webseite des Bundestags heißt es knapp dazu: „Die AfD hält die Meinungsfreiheit in Deutschland durch staatliche Übergriffe für gefährdet. SPD und Grüne halten wiederum die Meinungsfreiheit durch die AfD für gefährdet. Die Union kritisiert den wehleidigen Opfermythos der AfD und fordert eine Trennung zwischen Rechts und Rechtsextremismus. Die FDP verteidigte die Plattformregulierung, weil Hass und Hetze auch im Internet keine Bühne bekommen sollten.“

Es lohnt sich auch noch nachträglich, diese etwa 70-minütige Debatte in voller Länge anzuschauen. Jeder möge sich selbst ein Bild von der intellektuellen Qualität der Darbietungen etwa eines Helge Lindh (SPD) oder eines Gottfried Curio (AfD) machen. Letzterer kritisierte das geplanteDemokratiefördergesetz“ als Etikettenschwindel, durch den links-grüne Organisationen profitieren sollen. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der verheerenden Ampelpolitik solle offensichtlich medial verdrängt und die AfD diffamiert werden. „Eine echte Zivilgesellschaft würde einen entstehenden Obrigkeitsstaat verhindern wollen“, sagte Curio. Auch die geplante Bekämpfung von „ausdrücklich nicht strafrechtlich relevanten Meinungen“ sei verfassungswidrig. Was zu bekämpfender Hass sei, wolle die Regierung freihändig aus dem Spektrum der gesetzlich garantierten Meinungsfreiheit herausfiltern lassen. Der Staat wolle bestimmen, was noch gedacht und gesagt werden dürfe. „Die Verfassungsfeinde sitzen im Familienministerium und im Innenministerium“, so Curio.

Mit einer Aneinanderreihung von Zitaten brachte Dorothee Martin (SPD) die AfD daraufhin mit dem Nationalsozialismus in Verbindung. Das Maßnahmenpaket von Innenministerin Nancy Faeser gegen Rechtsextremismus sei keineswegs das Ende der Meinungsfreiheit, sondern diene vielmehr deren Schutz. Martin unterstellte der AfD, menschenfeindlichen Hass und Hetze sowie ein völkisches Weltbild zu verbreiten. Philipp Amthor (CDU/CSU) warnte danach vor hyperventilierenden Interpretationen der Meinungsfreiheit von links oder von rechts, attestierte der AfD jedoch einen wehleidigen Opfermythos, denn Meinungsfreiheit bedeute nicht, dass der „Stuss“ der AfD unwidersprochen bleiben müsse. Bei allem legitimen Kampf gegen den Extremismus dürfe sich der Staat allerdings auch nicht zum absoluten Hüter der Wahrheit aufspielen. Rechtsextremismus sei nicht mit Rechts gleichzusetzen, denn dann bliebe nur noch Links und Grün, und das sei zu wenig für eine Demokratie. 

Helge redet wirr

Marcel Emmerich (Bündnis 90/Die Grünen) warf der AfD vor, das demokratische Miteinander zerstören zu wollen. Durch das Treffen in Potsdam sei sehr klar geworden, dass die AfD an einem Abbau der Demokratie hin zu einem anderen Land der Unterdrückung, des Unrechts und der Vertreibung arbeite. Ziel der AfD seien Deportationen; die AfD sei eine Gefahr, und deswegen werde sie von den demokratischen Fraktionen auch weiterhin entschlossen bekämpft werden. Nebenbei teilte Emmerich noch gegen die CDU aus, die er der Fundamentalopposition bezichtigte. Die Unabhängigkeit der Gerichte werde als erstes ausgehebelt, wenn Rechtsextreme an der Macht seien, und das Bundesverfassungsgericht müsse geschützt werden. Abschließend wünschte er viel Spaß bei allen Demonstrationen gegen „die da“, wobei er mit dem Zeigefinger auf die Sitzreihen der AfD wies. Offenbar ist Emmerich zum Thema Potsdam-Treffen noch nicht auf dem aktuellsten Stand, oder es ist ihm schlichtweg egal, dass mittlerweile selbst Correctiv davon Abstand genommen hat zu behaupten, dass das Wort „Deportation“ in Potsdam gefallen sei.

Den Begriff „Deportation“ nahm auch Maximilian Funke-Kaiser (FDP) auf. Zunächst bemerkte er aber, dass die Meinungsfreiheit per Definition unbequem sei und anderen Menschen „sauer aufstoßen“ könne. Wer sich unreflektiert der Meinungsmehrheit anschließe, verspiele jedoch seine Individualität. Eine Meinung dürfe auch nicht staatlich auferlegt werden. Meinungsfreiheit sei elementar für eine lebhafte liberale Demokratie. Wenn nun aber behauptet werde, das Gesetz über digitale Dienste sei eine Zensur, so sei das falsch. Vielmehr werde damit verhindert, dass die Betreiber von sozialen Netzwerken und Online-Plattformen sich ihrer Verantwortung entziehen. Die Aktuelle Stunde sei ein billiger Versuch der AfD, sich zum angeblichen Opfer eines Redeverbotes zu stilisieren. Egal ob links oder rechts: Jeder Extremist sei Mist. Die AfD habe aber offenbar keine Lust auf demokratischen Gegenwind. Funke-Kaiser warnte insbesondere vor Desinformationen aus Russland. Im Kreml kenne man sich auch am besten mit den Lieblingsthemen der AfD aus, nämlich mit Deportation, Geschichtsrevision und Imperialismus.

In durchaus angeheizter Stimmung ging der Schlagabtausch dann weiter. Martin Reichardt (AfD) stellte etwa fest: „In Deutschland ist es wieder so weit: Die Regierung lässt Menschen gegen Andersdenkende aufmarschieren.“ Doch die Ampelregierung, so zeigte sich Reichardt überzeugt, werde abgewählt werden und der „ökototalitaristische Mief“ verschwinden. Reichardt kassierte für seine Rede zwei Ordnungsrufe von Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas. Magwas bat anschließend darum, die Debatte sachlich zu führen und die Emotionalität ein Stück weit nach unten fahren.

Helge Lindh (SPD) begann seine nebulöse Stellungnahme (ausführlicher zitiert hier) mit den Worten: „Letzte Nacht erschien mir im Traum ein leicht alkoholisierter AfD-Fan mit Bekenntnisdrang, und er sprach zu mir: Lieber Helge, Meinungsfreiheit, das ist meine Freiheit. Was ich meine, meint das Volk, denn ich bin ja das Volk. Deshalb muss ich das Volk auch gar nicht erst fragen. Was das Volk ist, bestimme ich. Das Volk, das sind die Deutschen, also die wahren und echten Deutschen, nicht die ganzen Ausländer.“ Und Lindh fabulierte weiter irgendetwas von „Blut und Boden“, „innerer Orgasmus“, „Hate Post“ und „Mimose“ statt „Rose“. Man muss es einfach selbst gesehen haben.

Missbrauch des Demokratiebegriffs

Alexander Hoffmann (CDU/CSU) spielte daraufhin auf die wenige Stunden zuvor erfolgte Cannabis-Legalisierung an und fragte sich, ob Lindh möglicherweise davon Gebrauch gemacht habe. Dann warnte er: Die Rechtsextremisten im Land seien deswegen so gefährlich, weil sie versuchten, die Demokratie mit Mitteln der Demokratie zu zersetzen. Dreh- und Angelpunkt sei die AfD als parlamentarische Spitze, die sich einen gutbürgerlichen Anstrich gebe. Die AfD sei jedoch nicht die Alternative, sondern der Abgrund für Deutschland. Andererseits kritisierte er den Ampel-Mechanismus, der teilweise darauf hinauslaufe, dass es nur noch Links-Grün oder Nazi gebe. Man müsse der AfD vor allem Themen wie etwa Migration wegnehmen und Lösungen anbieten.

Erhard Grundl (B90/Grüne) nannte die AfD „Martin Sellner-Fanclub“, Feinde der Freiheit, rechtsextrem und den Titel der Aktuellen Stunde „durchgeknallt“. Die AfD suche den „Schulterschluss mit den Vorturnern des internationalen Antisemitismus“. Im Kontrast dazu wies der junge FDP-Politiker Philipp Hartewig (FDP) angenehm sachlich darauf hin, dass man sensibel dafür sein müsse, wenn bei einem immer größeren Teil der Bevölkerung der Eindruck entstehe, man könne nicht mehr sagen, was man denkt, und er bezog sich dabei auf eine Umfrage des Allensbach-Instituts. Grundrechte seien grundsätzlich Abwehrrechte der Bürger gegenüber dem Staat. Die Diskursfähigkeit werde zwar derzeit von vielen Seiten attackiert, doch Hartewig warnte vor dem Missbrauch des Demokratiebegriffs: Wenn man etwas mit hehren Motiven wie der Stärkung der Demokratie begründe und zusätzlich mit dem Begriff der Demokratie bezeichne, erreiche man oft das Gegenteil. In der Vielfalt der Meinungen liege das Potenzial für Fortschritte. Hartewig war damit der erste und einzige Redner während der Debatte, der nicht gegen Andere austeilte.

Nina Warken (CDU/CSU) bezeichnete die AfD dann wieder als Partei der Demokratie- und Freiheitsfeindlichkeit. Allerdings mache es ihr auch Sorgen, wenn die Familienministerin sagt, dass die Bundesregierung nun auch Äußerungen im Netz bekämpfen wolle, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze vorkommen und noch unter die Meinungsfreiheit fallen. Was nicht strafbar und von der verfassungsrechtlich garantierten Meinungsfreiheit gedeckt ist, müsse erlaubt sein, so Warken. Maja Wallstein (SPD) arbeitete sich im letzten Redebeitrag der Aktuellen Stunde noch einmal am Feindbild AfD ab und brandmarkte sie als extreme Rechte.

Auch diese Debatte lässt eher ratlos zurück. Der aktuelle Bundestag wird offensichtlich sowohl beim Thema Pandemievertrag als auch beim Thema Meinungsfreiheit vor allem von Grabenkämpfen zwischen der AfD auf der einen und sämtlichen anderen Parteien auf der anderen Seite getrieben. Bleibt noch die Hoffnung auf eine zukünftige veränderte Parteienlandschaft?

 

Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.

Foto: Pixabay

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Lao Wei / 26.02.2024

Lukas 23:34 (Kurzfassung) „denn sie wissen nicht was sie tun“. Unfassbarer Zustände in diesem Tollhaus, was sich BuTa nennt. Jetzt werden die Reste der „Demokratie“ geschreddert. Stellt sich die Frage: wie lange hält die (wahre) Opposition das durch? Randbemerkung: UN, WHO, WEF, kollektiv unterwandert??? Jeder, der - sapere aude -verstanden hat, kennt die Antwort!

Armin Reichert / 26.02.2024

Diese Altparteien widern mich nur noch an.

Thomin Weller / 26.02.2024

November 1989 Erich Mielke in abgehackten Sätzen: “Ich liebe - Ich liebe doch alle - alle Menschen - Na ich liebe doch - Ich setzte mich doch dafür ein!“. Ähnliche Aussagen werden nun von der Regierung kommen können. Das »Justice and Accountability for Palestine«, »Palestine Institute for Public Diplomacy« und »European Legal Support Center« hat am Freitag eine Strafanzeige beim Generalbundesanwalt (GBA) gegen Mitglieder der deutschen Bundesregierung wegen des »Verbrechens der Beihilfe zum Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza durch die Lieferung von Waffen an Israel« eingereicht. Nun können sich die woken Bessermenschen und Klassensprecher an Erich Mielkes Satz halten. Der Sprachlimbo geht weiter.

Josef Gärtner / 26.02.2024

Dieser Artikel und auch Einiges was man hier den Kommentaren entnehmen kann zeigt deutlich auf, dass die Blockparteien nicht mehr fähig sind oder zumindest nicht gewillt sind, demokratische Spielregeln einzuhalten. Eine Schande für unser politisches System.

Jörg Hensel / 26.02.2024

Wenn man realisiert, dass die #BRD in Folge ihrer Annexion durch die #DDR vor 33 Jahren nicht mehr existiert, relativiert sich nicht nur dieser verstörende Eindruck, sondern man könnte auch überlegen, wie man dem Ganzen entgegentritt. - Da aber ein solcher Debattenraum nicht eröffnet wird, wird das Land weiter geplündert resp. gibt man es dem Zerfall Preis. Irreversibler Faschismus könnte die Folge sein.

Jürgen Fischer / 26.02.2024

»die offenbar mehrheitlich immer noch nicht die Brisanz verstehen wollen oder können, [...]« – Dürfen, Frau Binnig, dürfen! (Können und wollen wohl auch, doch) Und überhaupt, hat sich mal jemand angesehen, wie viele bzw. wenige Abgeordnete in solchen Sitzungen anwesend sind? Und diesen faulen Säcken wird das Geld säckeweise nachgeworfen! Und die gerieren sich als ... ja, als was eigentlich? Kämpfer gegen das Böse? Ich lach’ mich tot.

Karl Emagne / 26.02.2024

Möglich ist auch, dass die im WEF organisierten Oligarchen gar nicht so sind und uns mit Covid eine Warnung wie einen Ausblick auf ihre neuen Möglichkeiten gegeben haben. Insbesondere, uns mit Laborviren beliebiger Gefährlichkeit zu beglücken. Vielleicht haben sie den nächsten schon fertig und sind so lieb, die WHO mit den dann wirklich nötigen diktatorischen Vollmachten auszustatten, auf dass sich die Welt zur Entvölkerung ruhig verhalte. Während sie auf ihren Luxusyachten sicher und unbekümmert über die Ozeane schippern.

Lutz Herrmann / 26.02.2024

Auf das bisschen Entmachtung kommt’s auch nicht mehr an.

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