Nancy war bedient. Die saßen ihr im Nacken in diesem Innenausschuss. Ein paarmal hatte sie sich jetzt drücken können, aber einfach noch keine langfristige Strategie. *Tüdelüt*. Nancy drückte auf die grüne Taste. „Karl?“
Seit Stunden war Nancy schon wach, obwohl es noch früh war. „Geh' ran, mach' schon… geh‘ ran!“ Ungeduldig trommelte Nancy mit den beringten Fingern auf den Schreibtisch. „Geh‘ ran, verdammt…“ Endlich ging er ran. „Hi Karl“, legte Nancy gleich los. „Du, ich bin total fertig. Halte den Druck nicht mehr aus. Ich komm‘ gar nicht mehr zur Ruhe wegen der ganzen Scheiße!“ Sie schrie fast in ihr iPhone. „Abends finde ich nicht in den Schlaf… Musste mir gestern schon wieder eine Rede von Olaf auf Phoenix angucken, um überhaupt mal pennen zu können. Hast du einen Rat für mich?“ „Du hast mich also wachgeklingelt…“, lallte ihr Gesprächspartner. „Ich ruf‘ dich in einer Viertelstunde also zurück!“
Na super! Nancy war bedient. Die saßen ihr im Nacken in diesem Innenausschuss. Ein paarmal hatte sie sich drücken können, aber einfach noch keine langfristige Strategie. *Tüdelüt*. Nancy drückte auf die grüne Taste. „Karl?“ – „Nein, Häscher vom Innenausschuss. Guten Morgen! Wir möchten mit Ihnen besprechen, wann Sie hier aussagen können.“ – „Im September gar nicht“, meinte Nancy. „Und danach ist es ganz schlecht. Eigentlich bin ich bis Dezember unabkömmlich.“ – „Na, na... Das gehen wir mal ganz langsam durch. Wie sieht’s denn bei Ihnen am 4.10. aus?“ – „Da, da… bin ich beim Arzt. Kann ich auch nicht aufschieben, ist wohl ernst.“ – „Dann gleich am 5.?“ – „Da spielt die Eintracht in Thessaloniki. Conference League.“ – „Aber doch erst abends um neun. Der Termin wäre ja vormittags.“ Mist. Ein Fußball-Kenner. Nancy begann zu transpirieren. „Geburtstagsfrühstück beim Schwippschwager.“ – „Und am 6.?“ – „Pilates, ganztägig.“ – „Und die Woche drauf?“ – „Bin ich zur Kur, liegt ja nach dem Wahltermin am 8.“ – Ihr Gesprächspartner seufzte. „Ich seh‘ schon, wir kommen hier nicht zusammen. Ich melde mich wieder.“
Nancy drückte die rote Taste. Verdammt. Sie rief ihre Büroleiterin an. „Hör zu, sag mal bitte alle Termine für heute ab, mir geht’s nicht gut.“ So, erst einmal Zeit gewonnen. Dann endlich der Rückruf: „Ja, Karl hier, also, wenn du ne Ausr-, äh, Erklärung brauchst und dir also nicht jedes Mal was Neues ausdenken willst, dann also sagst du einfach: Long Covid. Somit hast du also gleich also Monate gewonnen…“ Nancys Miene hellte sich schlagartig auf. Manchmal war der Kauz doch für was gut! Seine Obsession konnte ihr erst einmal Zeit verschaffen. „Mensch, danke, Karl! Super-Idee! Hast was gut bei mir!“
Die Bürger abholen, jedenfalls die kritischen
Sie versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Musste dringend die Prioritätenliste aktualisieren. Ganz oben jetzt: Selbstverteidigung durch Abtauchen. Die Wahl in Hessen konnte sie eh vergessen, da lag sie mit knapp 20 Prozent jenseits von Gut und Böse. 24 von 110 Sitzen, und nicht mal für ne Ampel reichte es. Bei Weitem nicht. Aber scheiß auf Hessen. In Berlin konnte sie doch viel mehr bewirken. Sie schaute auf das Porträt an der Wand: Louis Antoine de Saint-Just, ihr großes Vorbild. Jurist, wie sie. Der wusste noch, wie man mit Staatsfeinden umging!
Die Bürger abholen, jedenfalls die kritischen unter ihnen. Sie hatte Orwell gelesen, in der Hoffnung, von „1984“ inspiriert zu werden. Niemanden allein lassen, das war ja das Motto dieser Regierung, und Nancy nahm das nur zu gern wörtlich. Etwa mit der willkürlichen Überwachung von privaten Chats und E-Mails und anderen möglicherweise heiklen Vorhaben wie der anlasslosen IP-Adressen-Speicherung. Totalüberwachung, har, har! Vor ihrem geistigen Auge sah sie schon allgegenwärtige Plakate mit ihren rehbraunen Augen und der Parole „Big Sister is watching you!“ Oder war das zu platt?
Aufräumen mit dem ollen Römer-Kram
Jemand wie sie wäre früher niemals Innenministerin geworden, das stand fest. Mit ihren Verbindungen ins linksradikale Lager. Ihrer Tatenlosigkeit in Sachen Behördendigitalisierung. Ihrer völligen Arbeitsverweigerung angesichts der 500 illegalen Grenzübertritte jeden Tag. Und angesichts der „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“, wie es so schön hieß. Sie hatte den ziemlich beunruhigenden BKA-Bericht gelesen, jedenfalls in Auszügen. Fälle von Straftaten mit tatverdächtigen Schutzsuchenden von Januar bis September. Diebstahl: über 47.000; Rohheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit: fast 43.000; gegen sexuelle Selbstbestimmung: fast 4.500; gegen das Leben: über 200. Aber niemandem wird etwas weggenommen, dachte Nancy, und schnaubte. Das Thema würde sich demnächst von selbst erledigen, wenn die erst mal alle eingebürgert waren. Auf ihrer Prioritätenliste musste sie deshalb schon ganz schön weit nach unten scrollen, um den To-do-Punkt zu finden, gerade mal zwischen „Grenzkontrollen“, „Clan-Kriminalität“ und „muslimischer Antisemitismus“.
Sie musste nur die Typen kaltstellen, die dazwischenfunkten. „Kritische Muslime“ absägen, die ihren Plan torpedierten, unbegrenzte Einwanderung zu propagieren und durchzusetzen. Oder Reichsbedenkenträger wie diesen Schönbohm. Der Jan hatte seine Sache mehr oder weniger gut gemacht, und der Mann war abgesägt worden. Ohne Beweise, das schon, aber wichtig ist ja, was hinten rauskommt, dachte Nancy in wohligem Gedenken an Helmut Kohl. Aber jetzt war ihr die Sache auf die Füße gefallen. Noch hielten die Pressefuzzis die Füße still, aber irgendwann würde das nicht mehr nur in den alternativen Medien ein Thema sein. Verfluchtes Internet. Sie musste auch da nochmal richtig aktiv werden, das mit der Meinungsfreiheit wurde von den Rechten ja wie ein Dogma behandelt. Und natürlich missbraucht, indem sie ständig widersprachen. Ein permanentes Ärgernis.
Mittag. Nancy ließ sich was vom Libanesen kommen und löffelte den Bulgursalat an der Rechner*in, während sie weiter ihre Prio-Liste bearbeitete. So, Doppelklick. Jetze. Das mit dieser Unschuldsvermutung war auch so ein überkommenes Ding, „in dubio pro reo“, leckt mich doch, eine progressive Regierung musste mit diesem ollen Römer-Kram endlich aufräumen. Sie hatte auch schon mit Marco darüber gesprochen. Es gab ja so viel zu tun! Und dann dieser Mist mit dem Cyber-Heini. Der hatte sie sogar schon verklagt. Würde schwierig genug werden, da noch den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, auch wenn die Pressbengels weiter stillhielten. Vielleicht konnte man ja noch so einen Putschversuch aus dem Hut ziehen, hatte bisher doch schon ein paarmal hervorragend geklappt.
„In der heißen Sache Fresse halten!“
Andererseits: Ablenkungsmanöver gut und schön, aber ewig konnte das nicht so weitergehen, man machte sich schon lustig über die nicht gerade glaubwürdig konstruierten Umsturz-Szenarien. „Brauche Putschgeschichte, aber nicht wieder so ein Kokolores! Nachvollziehbar!!!“, tippte Nancy in ihr Smartphone. Die wohl einzige Chatgruppe, die nicht überwacht wurde, dachte sie, und feixte. Dann noch eine Nachricht an den Jan: „In der heißen Sache Fresse halten! Sag lieber gar nix!“, whatsappte die Ministerin mit flinken Fingern.
Dann rief sie Sven an. Er ging nicht ran, deshalb sprach sie auf die Mailbox: „Hi Sven, danke nochmal für deine Hilfe neulich in der Causa Aiwanger! Brauche noch ein paar Tipps von dir. Ruf‘ am besten heute noch zurück!“ Der Sven. Guter Mann. Früher war er für einen Staat tätig, der auf Flüchtlinge schießen ließ, heute arbeitete er fleißig für ein Ministerium, das jedes Jahr Hundertausende ins Land holte. Das Leben geht manchmal seltsame Wege, dachte Nancy. Man musste sich nur gegen mögliche Störer wappnen. Das mit dem „unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit“ war eine gute Idee gewesen. Kritik gleich mit dem Rassismusvorwurf abbügeln. Noch zog das, wenn auch nicht mehr so wie in den vergangenen Jahren.
Mit dem Thomas musste sie heute Abend auch noch sprechen, selbst wenn er nicht in bester Verfassung war. Auf den war immer Verlass, der war loyal, sogar wenn es gegen seinen eigenen Vorgänger ging. Ganz anders der Arne. Es war nach wie vor richtig, den plattzumachen, davon war Nancy überzeugt. Auch wenn die Methoden vielleicht nicht kosher waren. Manchmal musste man die Säuberungen eben im eigenen Laden durchführen. Stichwort Saint-Just und Danton.
Ach, irgendwie würde sie schon rauskommen aus dieser Sache, der Olaf würde sie sicher nicht fallenlassen. Dazu wusste sie auch zu viel über das, was er längst „vergessen“ hatte. Und selbst wenn am Ende alles in die Grütze geht, dachte Nancy – etwas von ihr würde bleiben. Etwas Historisches.
Claudio Casula arbeitet als Autor, Redakteur und Lektor bei der Achse des Guten.
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